Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Tempo und Energie des dichterischen Schaffens

1890

Aus übereinstimmenden Abhandlungen wie Gelegenheitskritiken geht hervor, daß heutzutage in Deutschland durchschnittlich dem Dichter das Zuwarten und Pausieren, also das Schaffen und Veröffentlichen in längeren Zwischenräumen zur Tugend angerechnet wird. Als Protest gegen die landläufige Fabrikarbeit, welche jährlich ein- oder zweimal ihren Roman und ihr Theaterstück zusammenschrotet, mag dieses Urteil völlig am Platze sein, was ich um so williger zugebe, als ich ebenfalls den lebhaftesten Abscheu gegen jenen literarischen Müllerfleiß verspüre.

Leider ist es der Fluch alexandrinischer Zeitalter, daß jede ästhetische Wahrheit so lange durch den Mund der Weisheit gezogen wird, bis sie schließlich infektiös wirkt. Wird überdies der Spruch noch durch das Wort oder das Beispiel von Autoritäten unterstützt, dann dankt meist der Gedanke ab, so daß korrigierende oder ergänzende Tatsachen überhaupt nicht mehr erwogen werden.

So scheint mir denn gegenwärtig die Gefahr im Anzuge, daß deshalb, weil zufällig einer oder der andere der neueren Großen einem haushälterischen, vorsichtigen Schaffen huldigten, der frische Mut und der Reichtum den Nachkommenden zum Vorwurf gedreht werde. Das hat allerdings keinen vernünftigen Zusammenhang, indessen lehrt die Erfahrung, daß Verschiedenes gleicherweise gleichzeitig zu schätzen, die Kräfte eines theoretisch urteilenden Geschlechtes übersteigt. Die Gefahr ist nahe, und ich erlaube mir zu ihrer Abwendung an einige Tatsachen aus dem Gebiet der künstlerischen Physiologie zu erinnern.

Reichbegabte geniale Naturen sind zu allen Zeiten fruchtbar und im höchsten Grade schaffenslustig, falls sie nicht durch besondere Hindernisse gehemmt werden, deren es freilich eine Unzahl gibt, unter andern das Ringen nach neuen Kunstformen, in dem Falle, daß die ererbten sich überlebt haben. Ist hingegen alles im Reinen, außen und innen, dann produzieren die Großen mit erstaunlichem, oft geradezu fieberhaftem Eifer. Die Beispiele aus der Geschichte der Musik und der bildenden Künste stehen jedermann vor Augen; es liegt kein Grund vor, warum es in der Dichtkunst, wenn sie sichere Formen vorfindet, anders zugehen sollte. Auch kennt Deutschland, wenn ich nicht irre, einen Klassiker ersten Ranges, dem das ununterbrochene, willensgewaltige Schaffen bis zum letzten Atemzuge nicht zum Schaden gereicht hat – ich meine Schiller.

Ästhetische Probleme wollen überhaupt mit feinen Fingern untersucht werden; mit Schlagwörtern und Autoritäten schlägt man die Fragen tot, was schwerlich lebenkeimend wirken wird. Es gibt Kunstformen, denen das Kaltstellen, Überarbeiten und Nachfeilen wohlbekommt, andere, welche in einem Wurf fertig gemacht werden wollen. Es gibt ferner solche, in welchen die guten Dinge mit Fühlfäden gesogen sein wollen, und ihnen gegenüber wieder solche, die man hastig aus dem Grund wühlen muß, wie der Stier den Rasen mit den Hörnern aufwühlt. Es gibt sogar einen verschiedenen Grad von Reife, in welcher diese oder jene Frucht genossen werden soll. Einige kann man nicht lange genug am Baum hängen lassen, andere muß man einem kräftigen, aber kurz dauernden Sonnenschein aussetzen. So ist z. B. längst erkannt worden, daß großangelegte Werke nicht mit jener Miniatursorgfalt, ich möchte sagen Fließpapiersorgfalt nachbehandelt werden wollen, wie eine Elegie oder ein Lied. Auch hat noch kein Verständiger je dem Dramatiker die regelmäßige Intervallarbeit, den jährlichen Ertrag seiner Ernte zum Vorwurf gemacht. Eine Tatsache, die für sich allein genügen müßte, die Theorie zu widerlegen, gegen welche ich hier ankämpfe, wenn überhaupt jemals sich eine Theorie durch Tatsachen überzeugen ließe. Neben den Unterschieden des Arbeitsgebietes müssen auch die Unterschiede der schaffenden Individualitäten erwogen werden und zwar in erster Linie Unterschiede in der Begabungsart und Unterschiede im Temperament. Was die Begabung betrifft, so liefert die Natur, selbst wenn wir nur die höchste Urbegabung, also das Genie ins Auge fassen, ungleiche Sorten hinsichtlich der Sprungkraft und Quellfülle. Neben Hungerbrünnlein, die nur nach Gewittern fließen, neben sprunghaften Teufelsbrunnen, die plötzlich in dichten Wogen kommen und wunderbar verschwinden, neben mondgerechten ruhigen Tiefwassern, die säuberlich mit Ebbe und Flut wechseln, spendet die Natur unter anderen auch Strom- und Wiesengenies, welche so überreich mit Saft und Samen geladen sind, daß ihnen jeder Atemzug zur Produktion wird, bei Strafe des Erstickens im Unterlassungsfall. Die sollen sich nun wahrscheinlich einem ästhetischen Modedogma zulieb ihren gesegneten Mund schließen? Oder wollen ihnen die drei weisen Jungfern der Nacht gewaltsam ein Papagenoschloß vorlegen? Offen gestanden, wer in der Kunst über das Zuviel des Schönen klagt, dessen Schönheitssinn ist mir verdächtig.

Das Temperament betreffend, so gelangen wir hiermit in das wichtige Reich der Persönlichkeit.

Es gibt beschauliche, zufriedene, innige Phantasiemenschen, welche sich schmunzelnd unter einen blühenden Weidenbusch setzen, die Angel zwischen den Knien, und nun mit halbgeschlossenen Lidern geduldig abwarten, bis die Goldfische anbeißen, tagelang, wochenlang, einerlei. Diese werden mit ausgesucht feinen Bissen auf den Markt kommen, aber selten. Es gibt aber auch frische, mutige Phantasiemänner, welche in raschem Boot mitten in die hohe See hinaussegeln, die Nase im Morgenwind, die Forellen in dichten Scharen ins Netz scheuchend und die Hechte spießend, daß es rundum spritzt. Daß man jene liebt, begreife ich: ich liebe sie trotz einem. Aber wenn man mir nun um jener willen diese verunehren möchte, so soll doch das Wetter drein fahren.

Wenn denn schon einmal abgemessen werden soll, welches von beiden Temperamenten das edlere sei, das beschauliche oder das energische – es sollte zwar besser nicht abgemessen werden – dann muß vielmehr dem willenskräftigen Temperament der Vorzug zugesprochen werden. Was ich durch drei Exempel beweisen will, zwei logische und ein zoologisches. Dem willensstarken Dichter steht das beschauliche Sinnen in den Energiepausen frei; nicht aber dem beschaulichen Dichter der Aufschwung zu nachhaltiger Energie. Wenn man den wegen ihrer seligen Beschaulichkeit beneideten Dichtern am Lebensabend durch das Schlafzimmerfenster guckt, so hört man sie über ihre unselige Faulheit seufzen. Es gibt nicht bloß Fische, sondern es gibt auch Vierfüßler und Vögel. Von diesen lassen sich manche in allerlei Schlingen und Fallen fangen, manche aber müssen auf dem Anstand im Flug heruntergeknallt werden, mit scharfem Blick und schneller Hand, manchen muß man sogar zu Pferde unermüdlich nachsetzen, bis sie sich schließlich ergeben. »Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.« Ich bitte nicht zu übersehen: selber hat er freilich nicht gejagt, aber sein Jagdhund hat's ihm apportiert, und er hat ihn gestreichelt, als er's ihm aus dem Maul nahm. – Endlich das Wichtigste. Wie wollen Sie, bitte, das kostbarste Wild, die Adler und dergleichen, in Ihre Gewalt bekommen, wenn nicht mit angespannter Energie? Da kann einer lange mit seinen klugen Dichteraugen auf der Lauer sitzen, die kommen nicht herab, nicht einmal auf Gesichtsweite, geschweige denn auf Schußweite. Denen muß man mutig nachklettern, auf Gletscherhöhe, unter Schwitzen und Seufzen, bis einem die reine Höhenluft die Schultern badet und der ersehnte Vogel plötzlich über dem Kopf schreit.


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