Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Zum Trutz

Kunstfron und Kunstgenuß

Kein empörenderes Schauspiel, als sehen zu müssen, wie unsere leidige Allerweltsschulmeisterei es fertig gebracht hat, die süßesten Früchte mittels pädagogischer Bakterien ungenießbar zu machen und Geschenke, die dazu ersehen waren, uns zu beglücken, in Buß und Strafe umzusetzen. Die Kunst ist großherzig und menschenfreundlich wie die Schönheit, welcher sie entspringt. Sie ist ein Trost der Menschen auf Erden und erhebt keinen andern Anspruch, als innig zu erfreuen und zu beseligen. Sie verlangt weder Studien noch Vorbildung, da sie sich unmittelbar durch die Sinne an das Gemüt und die Phantasie wendet, so daß zu allen Zeiten die einfache jugendliche Empfänglichkeit sich im Gebiete der Kunsturteilsfähiger erwiesen hat, als die eingehendste Gelehrsamkeit. So wenig man Blumen und Sonnenschein verstehen lernen muß, so wenig es Vorstudien braucht, um den Rigi herrlich, ein Fräulein schön zu finden, so wenig ist es nötig, die Kunst zu studieren. Gewiß, die Empfänglichkeit ist beschränkt, die Begabungen sind ungleich zugeteilt, die Sinne, welche die Kunsteindrücke vermitteln, beobachten schärfer oder stumpfer. Indessen habe ich noch keinen Menschen von Gemüt und Phantasie (denn Gemüt und Phantasie sind die Vorbedingungen, aber auch die einzigen Vorbedingungen des Kunstgenusses) gekannt, welcher nicht an irgendeinem Teil der Kunst unmittelbare Freude empfunden hätte. Und darauf kommt es allein an. Jeder suche sich an dem himmlischen Fest diejenige Speise aus, die seine Seele entzückt, und weide sich daran nach Herzenslust, so oft und so viel er mag, im stillen oder, wenn ihm das Herz überläuft, mit gleichgesinnten Freunden. Das ist Kunstgenuß. Das ist aber auch Kunstverständnis. Wer sich aufrichtig und bescheiden an einem Kunstwerke erfreut, der versteht es ebensowohl und wahrscheinlich noch besser, als wer gelehrte Vorträge darüber hält; wie denn auch ewig die Künstler selbst sich unmittelbar an das einfache Publikum wenden und alle Vormundschaft und gelehrte Zwischenträgerei zwischen Kunstwerk und Publikum verabscheuen.

Eine Kunstfron entsteht, sobald der Kunstgenuß als eine Pflicht aufgefaßt wird. Es ist so wenig die Pflicht des Menschen, Schönheit und Kunst zu lieben, als es eine Pflicht ist, den Zucker süß zu finden. Die Kunst ist eine gütige Erlaubnis und eine menschenfreundliche Einladung, mehr nicht; man kann es nehmen oder lassen. Glücklich, wer ihr zu folgen und sie zu schätzen weiß; wer das nicht vermag, den mögen wir bedauern, aber wir haben kein Recht, ihn deshalb zu schelten. – Berechtigt die Tatsache, daß die Kunst erfahrungsgemäß veredelnd wirkt (echte Künstler und naive Kunstliebhaber sind stets gute Menschen), dazu, die Kunst als Erziehungsmittel zu verwenden? Ja, unter der Voraussetzung, daß man Erziehung im Sinne des vorigen Jahrhunderts (Erziehung zu einem rechten Menschen) versteht und daß man nicht mit Pädagogik hineinpfusche. Wenn im Deutschen Wilhelm Tell gelesen wird, verwandelt sich die Schulstube in ein freies grünes Bergland, und aus Lausbuben wird eine liebenswürdige begeisterte Gemeinde der Poesie. Besprich nachher Wilhelm Tell, laß ihn analysieren, vergleichen, in Aufsätzen wiederkäuen, so ist ein guter Teil des Gewinnes wieder dahin. Nein, unter der Voraussetzung, daß Erziehung das Examen zum Ziele hat, daß es gleichbedeutend ist mit lehren und lernen. Zu lehren gibt es in der Kunst überhaupt nichts, außer von Künstlern für Künstler, zu lernen wenig. Die veredelnde und erzieherische Kraft der Kunst beruht eben nicht auf dem Wissen, sondern auf dem Genießen. Ja das Wissen über die Kunst kann unter Umständen sogar die Empfänglichkeit zum Genuß der Kunst beeinträchtigen, dann nämlich, wenn Wissensdünkel entsteht; denn Dünkel ist das Gegenteil jener Seelenverfassung, welche jeder Kunstgenuß voraussetzt: bescheidene, selbstvergessene Hingabe. Vollends den Begriff »Bildung«, das heißt das Wissen in die Breite und im Kreise, in die Kunst herüberziehen zu wollen, ist eine unglückselige Verirrung. Bildungsmäßige Aufnahme der Kunst erzeugt im besten Fall Oberflächlichkeit, im gewöhnlichsten Fall Selbsttäuschung, im schlimmsten Fall Empfindungsheuchelei. Man entschlage sich doch ein für allemal der Hoffnung, das Unmögliche zu erreichen; die Kunst ist viel zu reich, der Einzelne viel zu arm, als daß er die übermächtige Summe von Seligkeiten bewältigen könnte; es gilt, sich entschlossen auf die seelenverwandten Lieblinge zurückzuziehen und mit ihnen in traulichem Umgang zu verkehren. Mit einem solchen Entschluß befreit man sich von der drückendsten Sklaverei der modernen Welt, der Bildungsfron, jener ebenso lästigen, als gemeinschädlichen Kopfsteuer. Der Entschluß kostet übrigens nicht mehr, als die Entsagung auf den allseitigen Genuß sämtlicher Sonnenstrahlen; es bleibt für das Bedürfnis des Einzelnen noch immer im Überfluß da, wenn er sich mit seinem Teil bescheidet. Das Bedürfnis aber ist der richtige Regulator des Kunstgenusses; solange dasselbe schweigt, möge jeder die Kunst in Ruhe lassen.

Viele versehen es nun darin, daß sie den äußeren Anlaß, die Einladung, mit dem inneren Bedürfnis verwechseln. »Wir müssen die Gelegenheit benützen.« Dieser Schluß ist so falsch, wie wenn jemand glaubte, essen zu müssen, sobald ein köstliches Menu in der Zeitung angekündigt wird. Das Kunstbedürfnis hat bei normalen Menschen seine Pausen; es stellt sich periodisch ein; der fortwährende Wolfshunger nach Kunst ist schon ein Zeichen eines ungesunden Zustandes, welcher die Diagnose auf Verbildung stellen läßt. Man muß an Konzertzetteln und Theateranschlägen, an Museen und selbst an Campi santi vorübergehen lernen, wie an Schaufenstern; denn damit, daß uns etwas augenfällig angeboten wird, ist noch nicht bewiesen, daß wir dessen bedürfen. Sogar die Seltenheit einer Gelegenheit ist kein Grund für ihre Ausnützung; denn der Mensch ist kein Pelikan; er kann die Eindrücke nicht unverdaut aufstapeln, bis sich das Bedürfnis regt.

Wer statt des jeweiligen Bedürfnisses sein Bildungsgewissen zu Rate zieht, wer jeder Kunstgelegenheit auf jedem Gebiet in jedem Augenblick glaubt Folge leisten zu müssen, der ist kein neidenswerter, wohl aber ein meidenswerter Mensch, vor welchem jeder Erfahrene im weiten Bogen vorüberzieht; denn nicht die Kunst, die freie, edle Göttin ist es, welche ihn inspiriert, sondern die Kunstscholastik. Diese anspruchsvolle und im Grunde doch so fruchtlose Wissenschaft hat die falsche, krampfhafte Kunstbildungswut auf dem Gewissen. Es gibt jedoch ein vortreffliches Heilmittel dagegen, nämlich das schöne Wort: »Ich verstehe nichts davon.« Wie erlösend für den Hörer wie für den Sprechenden wirkt dieses Wort, wo es jemals ertönt! Eigentlich sollte jedermann diesen Satz, dessen Aussprache ein wenig schwierig zu sein scheint, sprechen lernen; denn derselbe sagt die volle Wahrheit, da sich niemand anmaßen darf, in allen Gebieten der Kunst mit dem Herzen zu Hause zu sein. Freilich setzt man sich mit jedem Geständnis der Gefahr einer Unhöflichkeit von seiten schlechterzogener Menschen aus; allein das ist im Grunde ein neuer Gewinn, indem es uns lehrt, nicht mit dem ersten besten in ein Gespräch einzutreten. Eine schlechte Erziehung aber nenne ich es, wenn einer dem andern wegen dessen wirklicher oder vermeintlicher Unempfindlichkeit oder Unwissenheit in Kunstsachen glaubt etwas Unangenehmes bemerken zu dürfen, denn so wie niemand zum Kunstgenuß verpflichtet ist, so darf sich auch niemand unterfangen, seinem Nächsten ein Kunstexamen abzufordern. Es wäre wünschenswert, wenn sich in dieser Beziehung die Begriffe von Höflichkeit etwas verfeinerten, denn bei den meisten stammt das ruhelose und ruhestörende Kunstbildungsbedürfnis einfach aus der Furcht vor der gestrengen Allerweltsinspektion in Gesellschaften, Eisenbahnwagen und Gasthöfen. Sobald wir jedoch die kunstgebildeten Grobheiten den ungebildeten Grobheiten gleichstellen, wird der erschreckend hohe Spiegel der Bildungsflut urplötzlich sinken, wie denn diejenigen Völker, bei welchen ein schärferer Höflichkeitstakt im Gespräch waltet, die Kunstheuchelei kaum kennen.

Wie die Kunst zum Genusse und nicht zur Buße der Menschen da ist, so darf man sich auch den Meister, und wäre er noch so tot, nicht als einen Popanz vorstellen, der geschaffen wurde, um uns zu imponieren oder gar uns zu erdrücken, sondern als einen Freund und Wohltäter. Liebe ist das einzig richtige Gefühl gegenüber einem Meister, und zwar unbefangene Liebe, ohne Scheu und vorsündflutliche Ehrfurcht. Mit diesem Gefühl begnügt sich jeder Schaffende gern, selbst der größte; denn die Huldigung des Herzens bleibt immer die feinste Huldigung. Zur Liebe wird sich von selbst der Dank gesellen, und in ihm findet gewissenhafte Arbeit die schönste Entschädigung für ausgestandene Mühe und Gewissenskämpfe. – Die Bewunderung bedeutet den Tribut ausübender Künstler an den Meister. Der Laie ist von ihr entbunden; sie steht ihm auch schlecht zu Gesicht, da er keine Ahnung von den Schwierigkeiten hat, die in einem Kunstwerk überwältigt, von den Aufgaben, die in demselben gelöst worden sind; er begnüge sich mit Dank und Liebe; das ist natürlicher und zugleich bescheidener. – Eine Vergötterungspflicht, ein ängstliches Tabu vor berühmten Namen, ein Verbot, erlauchte Auswüchse der Unsterblichen ehrlich Kropf zu nennen, anerkennt kein Künstler. Das sind unverschämte Erfindungen anmaßlicher Seelen, welche sich unbefugterweise an einen toten Meister heranschleichen, um ihn als ihr Monopol in Beschlag zu nehmen und sich mit seinem gestohlenen Glanze vor den Menschen unleidlich zu machen. Indem sie sich vor einem einzigen auf dem Bauche wälzen, glauben sie damit das Recht zu erkriechen, allen übrigen die schuldige Ehrerbietung zu verweigern. Jeder schöpferische Geist haßt sie von Herzen.


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