Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sprache

Von der »singenden« Aussprache

Vor allem ist klarzustellen, daß das »Singen« der Rede mit dem musikalischen Singen nicht das mindeste zu tun hat, auch nicht so viel, daß etwa musikalisch veranlagte Völker oder Menschen eine größere Neigung verspürten, in der Rede zu »singen«. Ganz im Gegenteil: es »singen« am ehesten diejenigen, die nicht singen können. Die Italiener »singen« nicht. Wenn Patti neben ihrer Gesangspartie ein paar Worte zu sprechen hat, so spricht sie diese Worte überaus kalt und nüchtern.

Es wird denn auch das »Singen« der Rede nirgends als ein Vorzug, sondern überall als ein Fehler betrachtet, weshalb jede Provinz mit Vorliebe dem Nachbarn »Singen« zuschreibt, keine sich selber dazu bekennt.

Was versteht man nun aber eigentlich unter »singender« Aussprache oder genauer unter singendem Tonfall?

Singen heißt nicht etwa die Musik des Tones, also die mathematisch genaue Beobachtung einer gewissen Tonhöhe; auch nicht der jähe Wechsel zwischen hohen und tiefen Tönen; auch nicht die Tonfolge im Dreiklang.

Das alles ist nicht Singen; es ist sogar das Gegenteil des Singens. Der Slave, der bald in den höchsten Fisteltönen, bald im tiefen Brummbaß redet und ganze Sätze auf eine einzige Note stimmt, singt nicht. Der Süddeutsche und Schweizer dagegen, wenn er sich auch noch so monoton zwischen zwei naheliegenden Intervallen bewegt, singt. Nämlich unter Singen versteht man das Schwanken der Tonhöhe innerhalb eines einzigen Vokals und wäre die Schwankung noch so gering. Solch eine Schwankung entsteht aber, wenn der Sprechende einen Gefühlsausdruck in den Vokal legen will, in der Weise, daß er durch verschiedene Tonstufen das Gefühl versinnbildlichen möchte. Ein freudiges Ja, ein ärgerliches Nein durchläuft bei dem Süddeutschen eine ganze Tonskala, was einem Romanen, einem Slaven niemals widerfährt. Was tun denn diese in vorliegendem Fall? Sie verwenden das Tempo, die Tonstärke und die Tonhöhe, sie fügen erklärende Adjektiva hinzu, aber unter keinen Umständen werden sie von der einmal angeschlagenen Tonhöhe innerhalb des nämlichen Vokals hinauf- oder hinabgleiten. Nie werden Sie aus italienischem Munde ein No in so ausdrucksvoller Weise vernehmen, wie unser »Nein«; es bleibt bei einem festen No. Sie können den Unterschied innerhalb des Deutschen selbst wahrnehmen: Schildert einer seine überstandenen furchtbaren Zahnschmerzen derart, daß er durch die Töne, die er in das a und u des Wortes »furchtbar« legt, Eindruck zu machen versucht, dann singt er. Der andere, nicht Singende, verlegt zu demselben Zweck das ganze Wort »furchtbar« in die höchste Fistelregion.

Dem Singenden wird seine Aussprache »gemütvoll«, die entgegengesetzte, rufende Redeweise eisigkalt erscheinen. Und so verhält es sich auch in der Tat. Nichtsdestoweniger bedeutet das rufende Sagen eine höhere Stufe, weil es neben Stimmfestigkeit größere Selbstbeherrschung und Objektivität voraussetzt, weil es ferner dem Zweck der Umgangssprache, das heißt der Verständigung, angemessener ist. Wir haben ja die Rede nicht, um Gefühle nachzuahmen, sondern um Gedanken auszudrücken. Sprachmalereien und Schauspielereien sind allemal primitive, naive Unternehmungen. Dazu kommt noch, daß der letzte Grund des Singens aus einer gewissen Schwerfälligkeit der Gedanken oder der Zunge stammt; man wirkt durch den Ton, weil das bequemer ist, als das Gefühl mittels ergänzender Worte auszudrücken. Demgemäß eignet das Singen den gemütlichen, etwas maulfaulen Provinzbewohnern, während die redegewandten Hauptstädte und die uralten Kultursprachen das kühlere, aber vornehmere Sagen, Rufen und Flüstern pflegen.

Zur Erlernung fremder Sprachen ist ein singender Tonfall der Muttersprache eines der allergrößten Hindernisse.


 << zurück weiter >>