Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Verkehrte Welt!

Werfen wir einen Blick über unsere gesamte heutige Kunstübung, so finden wir: Die Malerei und Plastik strebt nach Poesie, inspiriert sich durch die Phantasie, füllt sich mit Gedanken, spricht symbolisch, macht sich mit Mythologie, Personifikation, Allegorie zu schaffen. Die Musik, soviel sie nur irgend kann, auch; ja sogar viel mehr, als sie nur irgend kann. Dagegen die Poesie soll sich einzig und allein mit der Wirklichkeit abgeben; soll nicht aus der Gegenwart, nicht über den Erdboden hinaus dürfen; soll ihrem natürlichen Inhalt, der Phantasie und dem Gedanken und ihrem natürlichen Ausdrucksmittel, der rhythmischen Sprache, entsagen. Prosa mit aufgeblasenen symbolischen Titeln, die zum Inhalte passen wie die Flagge auf ein Modderschiff, sei ihr Ziel. Alle Künste mögen und dürfen dichten, einzig die Dichtkunst soll nicht dichten.

Dergleichen läßt mich an der überlegenen Gescheitheit unseres Zeitalters zweifeln, trotz – oder vielleicht gerade wegen seiner stupenden literarischen Weisheit.

Nun möchte ich beileibe nicht meiner lieben Freundin, der Malerei, das Dichten verargen. Nur meine ich, die Poesie, die den Maler schmückt, möchte auch dem Dichter nicht so übel anstehen. Und warum die Malerei durchaus ein Monopol auf Kentauren haben sollte, das vermag ich nicht einzusehen. Hat sie etwa ein Patent? Hat sie die griechische Mythologie gepachtet?

Welcher Kunst ist denn die freie Erfindung eigentümlich und wesentlich? Ich denke der Dichtkunst. Die Sprache sagt. »etwas erdichten« und nicht: »etwas abdichten«. Dagegen der Malerei gehört die freie Erfindung nur leihweise an. Die Sprache sagt nicht: »etwas erzeichnen und ermalen,« sondern »etwas abzeichnen und abmalen«.


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