Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Ein Kriterium der Größe

Wer in der Geschichte die Unbeständigkeit des Geschmackes, die Wandelbarkeit der Urteile, die Unsicherheit der zuversichtlichsten ästhetischen Grundlagen wahrgenommen, fragt sich besorgt, ob es denn nicht gemeinschaftliche Merkmale gebe, welche, dem Kreislaufe der wechselnden Ansichten zum Trotz, jederlei Größe zu jeder Zeit von der Mittelgröße oder Scheingröße unterscheiden ließen. Ein solches Merkmal, nicht das einzige, scheint mir die Prägnanz zu sein, auf deutsch: das Bedürfnis nach bündigem Ausdruck, oder, von der Kehrseite betrachtet, der Abscheu vor ausgedehnteren minderwertigen Übergangsstellen, der Haß gegen die Breite, der Horror vacui. Jeder Große, wer er auch sei und wann er auch lebe, gibt immer viel auf einen kleinen Raum; ob er nun die Schätze nur so über die Ufer schäume oder ob er haushälterisch die Kraft zusammenhalte. Nehmen Sie wen Sie wollen, Homer oder Schiller oder wen sonst, und schlagen Sie irgendeine beliebige Seite auf, jede Seite zahlt mit Gold, überall werden Sie gefesselt, überall spüren Sie Hochluft, überall ist Schönheit. Es kommt bei den Großen nicht vor, daß der Genießende sich erst durch Sandhaufen wühlen müßte, ehe er Goldkörner entdeckt, es kommt namentlich nicht vor, daß größere Partien Wert erst durch den Zusammenhang gewinnen, also nur Übergangs- oder Kompositionswert besitzen.

»Lesen Sie nur weiter, Sie werden dann schon sehen.« Nein, ich lese nicht weiter. Denn ein Großer versteckt die Schönheit nicht in eine Wurst von Mehl und Häcksel. Musik oder Poesie, unser Prüfstein paßt für beides. Wer Ihnen dicke Haufen von Tönen zu verschlucken gibt, ehe er Ihnen etwas Nahrhaftes mitunter schenkt, der ist kein Großer, er heiße wie er wolle. Nehmen Sie dagegen Beethoven oder Mozart oder Haydn, einerlei: Eins, zwei, drei: in den ersten Takten schon haben Sie Form, Klarheit, Energie, meistens auch bereits Schönheit.

Das kommt davon, daß ein Großer, während er schafft, in der Ewigkeit lebt, wo die Zeit kostbar ist. Denn in der Ewigkeit bedeutet die Sekunde mehr, als im Alltag die Stunde.


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