Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Datumsjubiläen

Der hundertjährige, der fünfzigjährige, vielleicht auch der fünfundzwanzigste Todestag. Warum nicht der achtundneunzigste oder der neunundvierzigste? Ich begreife, es geht nach dem Dezimalsystem. Wenn die Erde sich so und so vielmal um die Sonne geschwungen hat, dann geschieht plötzlich ein allgemeines Hallo über einen Verschollenen.

Nun ist es ja unstreitig ein erhebendes Schauspiel, diese Popularität der Astronomie und des Dezimalsystems. Nur sage mir doch einer, was hat das Null Komma Null, was hat die Ekliptik mit dem Wert eines toten Schriftstellers oder mit der Freude über seinen Wert zu schaffen?

Wäre das bloß ein harmloses Spiel, wie etwa das Lotto, so hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Allein diese Prämienziehung gehört in die Klasse der schlimmen Lose, welche den Abnehmern unfehlbar Schaden bringen. Ich meine Schaden am Wahrheitsgefühl. Denn was da gelogen wird, an den hundertjährigen Weißwaschereien! gelogen! gelogen!

Wenn morgen Wieland, übermorgen Paracelsus, am Dienstag Abälard gefeiert wird, oder wen sonst der Wendekreis des Krebses zufällig aus dem Staub der Geschichte emporwirbelt, so wird das andächtige Europa drei Tage lang staunend vernehmen, wie und was maßen Wieland ein Homer von Gottes Gnaden, Paracelsus der Begründer der Naturwissenschaft, Abälard der geniale Vorläufer der Reformation gewesen. Im Grunde, das andächtige Europa vernimmt es durchaus nicht staunend, denn es glaubt ja kein Wort davon. Und die es sagen, glauben's auch nicht, oder, was noch schlimmer ist, sie wissen nicht einmal, ob sie's glauben oder nicht. Aber jedermann hält es für richtig, daß man's sage. Das nun, sehen Sie, nenne ich lügen. Oder was heißt denn sonst lügen?

Übertreibe ich etwa? Nehmen wir doch den ersten besten der jüngst Jubilierten. Zum Beispiel Bürger. Haben sie ihn uns da in unverantwortliche Klassikerhöhen emporgeschroben, den armen Bürger, dem anderthalb Balladen passierten, von jenen, die keinen Sommer machen!

Hernach, wenn das Jubiläum vorbei ist, kräht kein Hahn mehr nach dem geräuschvoll Gefeierten. Nämlich es geht wiederum nach dem Dezimalsystem. Man zieht zunächst eilends 100 Prozent von dem Gesagten wieder ab, läßt die Erde sich ruhig weiter drehen, begräbt das geduldige Opfer wieder in die stille Truhe der Vergessenheit und wartet geduldig ab, bis eine neue Null heranwackelt, die dann eine vierstellige Dezimalzahl ergibt. Jetzt wird der Leichnam abermals abgestäubt und noch viel unverschämter aufgeblasen, und so geht es weiter durch die Zeiten der Zeiten in Ewigkeit, Amen.


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