Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Musik

Schuberts Klaviersonaten

Zwei Vorurteile sind es, welche manchem die Schubertschen Klaviersonaten verleiden. Zunächst haben wir alle Schubert säuberlich als Liederkomponisten verzeichnet, und fühlen uns demgemäß in unserem Ordnungssinn beleidigt, wenn der Sänger der Müllerlieder sich in Dinge mischt, die ihn nichts angehen. »Ich schätze und verehre Schubert ungemein, aber hauptsächlich in seinen Liedern.« Ferner ist uns ein Gerücht zu Ohren gekommen, Schubert stände im schlechtesten Verhältnis mit der Sonatenform. »Ja, seine kleineren Klaviersachen, die mag ich ganz gern.« – Vorurteile direkt zu bekämpfen, unternimmt kein Erfahrener. Ich will mich daher begnügen, indem ich die Vorzüge und Mängel oder, besser gesagt, die Eigentümlichkeiten der Schubertschen Sonaten beleuchte, meinerseits ohne Vorurteile zu Werke zu gehen.

Es braucht keine besondere Feinfühligkeit, um sofort einen durchgreifenden Unterschied zwischen den Schubertschen Sonaten und denjenigen der sogenannten Klassiker zu spüren. Hiermit ist jedoch nicht gegeben, daß die ersteren minderwertig seien; noch weniger darf man hieraus auf ihre Unregelmäßigkeit schließen. Statt in der vermeintlichen Unförmlichkeit liegt vielmehr ihr Hauptfehler, wenn überhaupt hier von Fehlern die Rede sein kann, in einer allzu steifen Förmlichkeit. Damit freilich Regelmäßigkeit in Steifheit ausarte, bedarf es besonderer ungünstiger Bedingungen. Diese Bedingungen erblicke ich zunächst in der Selbständigkeit und Ausführlichkeit der Themen, namentlich des ersten unter ihnen. Während die sogenannten Klassiker der Sonate das erste Thema, um es bequem handhaben zu können, möglichst kurz fassen, während wohl gar der eine oder der andere sich mit einer an sich ganz unbedeutenden rhythmischen Partikel für das Thema begnügt, hebt Schubert gleich mit einer wunderbaren, in jeder Beziehung vollendeten musikalischen Phrase an, welche durchschnittlich ein klassisches Thema um das Dreifache, wenn nicht das Sechsfache an Länge überragt. Und ähnlich geht es durch den ganzen ersten Teil weiter. An eine Multiplikation durch thematische Verarbeitung ist unter solchen Umständen natürlich nicht zu denken. Schubert beschränkt sich denn auch auf die Addition; allein selbst dann noch ergibt sich unvermeidlich die berüchtigte »himmlische Länge«, nicht etwa weil Schubert willkürlich oder episodisch zu Werke ginge, was durchaus nicht der Fall ist, sondern weil drei Themen, die an sich um das Doppelte zu lang sind, um das Dutzendfache zu lang werden, wenn man jedes von ihnen regelrecht mehrmals wiederholt.

Die Ausführlichkeit der Themen beeinflußt übrigens den Bau der Sonate noch in weit empfindlicherer Weise auf anderem. Wege als durch die bloße Ausdehnung. Indem nämlich Schubert gleich von Anfang an fertige, abgerundete Perioden bildet, erreicht er zwar zunächst einen großen Vorteil gegenüber den Klassikern, büßt jedoch später, bei der letzten Wiederholung, wo es gilt, gleichzeitig durch Proportion und durch Überraschungen zu entzücken, viel mehr ein, als er anfänglich gewonnen hatte. Denn die von Anbeginn wunderbar vollendeten Perioden können gegen den Schluß hin nicht mehr übertrumpft werden (man verzeihe mir diesen niedrigen aber bezeichnenden Ausdruck); sie sind bei der Wiederholung bloß unansehnlicher Veränderungen, keiner durchschlagenden, überraschenden Neuerungen mehr fähig. Deshalb verspürt der Hörer, nachdem er über das Mittelstück hinausgelangt ist und nun den ganzen ersten Teil schonungslos in der ursprünglichen Gestalt zurückerwarten muß, Ungeduld oder, mit einem andern Wort, Langeweile. Als unvermeidliche Folge derselben Ursachen ergibt sich ferner die kompositorische Vernachlässigung der thematischen Ausarbeitung (nach dem Wiederholungszeichen des ersten Satzes), also der Kardinalstelle der Sonate. Hier weicht Schubert der Aufgabe einfach aus. Zwar bedeutet auch bei ihm noch jene Stelle den Mittelpunkt der Schönheit, nicht aber den Mittelpunkt der Spannung. Gibt es überhaupt in den Schubertschen Sonaten eine Spannung? Im einzelnen ja, doch im allgemeinen schwerlich. Die Riesenproportionen verhindern die Übersicht und stumpfen das Ortsbewußtsein ab, um so mehr als noch zwei andere Umstände den Hörer desorientieren: die gleichmäßige Süßigkeit der Haupt- und Nebenmotive und der Mangel an Tempo. Schubert besitzt eine Stärke, wie außer Beethoven kein anderer, aber wenig Temperament; er schlenkert gerne, schläft auch wohl mitten in einem seiner sogenannten Allegro ein, um zu träumen.

Weit unbedenklicher als die Regelmäßigkeiten erscheinen mir die Freiheiten Schuberts. Wenn er zum Beispiel auf einen Satz in  b einen zweiten in cis-moll und vielleicht einen dritten in c-moll folgen läßt, so scheint mir der Schaden gering, dagegen der Gewinn, nämlich die prachtvolle Färbung, unersetzlich. Ich komme daher nochmals auf meinen Hauptsatz zurück: nicht Willkür, sondern übelangebrachte Gewissenhaftigkeit ist das Merkmal der Schubertschen Sonaten in formeller Hinsicht. Schubert möchte mittels Blumen einen Riesenbau geometrisch genau herstellen; zu diesem Ende steckt er Lineale durch die Girlanden, mißt die Sträuße mit dem Winkelmaß und heftet die Kränze mit Bolzen zu viereckigen Figuren fest. »Warum also durchaus die Sonatenform wählen?« Weil die Sonatenform besondere, vornehme Schönheiten veranlaßt, für welche außerhalb derselben nirgends ein Zweck und eine Stelle in der Welt ist. Schubert aber verspürte Lust und Kraft nach jenen besonderen, vornehmen Schönheiten und darum hatte er trotz allem recht, die Sonatenform zu wählen.

Es kostet mich keine geringe Überwindung, nicht aus dem Umfang ins Innere zu steigen und nach der Form das Wesen, nämlich die musikalischen Eigentümlichkeiten der einzelnen Gruppen, zu schildern. Allein das Maß eines Aufsatzes ist leider noch unerbittlicher als dasjenige einer Sonate, und ich darf mir nicht meinerseits himmlische Länge erlauben. Eines aber schulde ich jedenfalls meinem Thema und meinem Leser: die Hinweisung auf die unbestreitbaren, strahlenden, unvergleichlichen und unglaublichen Vorzüge. Diese sind nach beiden entgegengesetzten Richtungen in verschwenderischer Fülle zu finden, nach der Richtung der Kraft sowohl, als der Zartheit.

Wenn wir Schubert zwischen Blumen im Grase liegen sehen – und dies ist seine gewöhnliche Stellung – sind wir geneigt, ihn als harmlosen Schäfer und Schläfer zu betrachten. Steht er aber einmal auf, so erstaunen wir über seinen Riesenwuchs, über die Majestät seiner Bewegungen, über die herkulische Kraft seiner Leistungen. Stahlscharf schneidende Dissonanzen, darunter namentlich Sekundenintervalle, sind seine Lust, mit Behagen wetzt er die Sforzatoschläge in Gegenbewegung, Synkopen sind ihm ein Festschmaus. Er bedarf pompöser Oktaven, um seines Lebens froh zu werden; kann er diese nicht als feurigen Pegasus gebrauchen, so müssen sie ihm wenigstens zum holperigen Steckenpferd dienen; sie zu entbehren vermag er nie. Über alles herrlich sind seine enharmonischen Modulationen und chromatischen Koloraturen; die hämmert er zu festem Metall, daß eherne Blitze hervorsprühen (z.B. a-dur [posthum] I. Satz. I. Teil nach der Kantilene, eine thematische Kette, welche, beiläufig gesagt, jeder andere Komponist in das Mittelstück würde verlegt haben). Der titanische Zorn der leidenschaftlichen Sextengänge im op. 143 (I. Satz, Themagruppe) und wiederum die königliche Vornehmheit des Rhythmus in den Übergängen des letzten Satzes der c-moll-Sonate (z. B. aus dem es-moll- in das es-dur-Stück) würden für sich allein hinreichen, um Schubert als den nächsten Verwandten Beethovens erkennen zu lassen.

Hinsichtlich des Schmelzes spotten Schuberts Sonaten nicht bloß der Vergleichung, sondern sogar der Ahnung. Da ereignen sich Zauberkünste und Halblichteffekte, vor deren Zartheit die Phantasie den Atem zurückhält. Hierbei denke ich an hunderterlei Stellen; am wenigsten an die kurzen, mitunter etwas überladenen und gequetschten Liedweisen der Andante, am meisten an die Mittelstücke der ersten Sätze. Takte wie das d-moll-Motiv in der Ausweichung der (posthumen) b-dur-Sonate (I. Satz) oder die c-dur-Gruppe des Andante in op. 147 oder das pp. von as-moll bis e-moll im Scherzo von op. 42, vor allem aber die ganze große Mittelpartie (c-dur usw.) im I. Satz der a-dur-Sonate (posth.) müssen selbst dem nüchternen Verstande als Grüße aus dem Paradiese gelten. Da schmilzt jeder Ton zu schlackenloser Schönheit, da »riecht« es nicht bloß »nach Musik«, es duftet danach. Das ist das reine, stille Seelenglück, in Musik umgesetzt; mit einem Nerv im tiefsten Innern, durch welchen wehmütige kosmische Ahnungen zittern.

Und dergleichen hätte Schubert unterdrücken sollen? Sämtliche Sünden Schuberts gegen die Form laufen schließlich auf eine glorreiche Tugend hinaus: den unaufhaltsamen Strom seiner himmlischen Inspirationen. Ehe er nun zur Arbeit schritt, stand schon ein Motiv von überirdischer Schönheit vor seinen Blicken. Vergebens raunte ihm die Vernunft zu, es zu ermorden, umsonst zückte sein Wille den Stahl; das Mädchen flehte ihn an aus seinen wunderbaren Augen, und er tat, wie der Jäger mit dem Schneewittchen getan: er ließ es leben, »weil es so schön war«.

Ein Prophet Samuel mag ihn dafür verdammen; ich bin nicht Samuel.


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