Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Vom Idealstil

Streng genommen spricht ja jede Kunst und Poesie den Idealstil, da eben eine zweite, höhere, edlere Welt geschaffen wird. Aller Völker, aller Menschen Sehnsucht ruft ewig »hinaus und hinauf!« Wo wir das Gegenteil antreffen, den Ruf »hinein in das volle Leben«, wie z. B. neulich, haben wir es mit einer Reaktionserscheinung zu tun. Er ertönt nur dann, wenn eine Verirrung ins Leblose, also ein falscher Idealismus vorangegangen war. Genau so wie der Ruf nach »Natur« eine vorausgegangene Unnatur verrät, oder wie die Sorge um die Gesundheit, das Kraftbrühentrinken, das Eisenschlucken beweist, daß einer krank war und noch ist. Ein gesunder Mensch kümmert sich nicht um die Gesundheit; ein natürliches Zeitalter lechzt nicht nach Natur; eine lebendige Kunst schreit nicht nach dem vollsaftigen Leben.

Mit dem eigentlichen Idealstil innerhalb der Poesie meint jedoch die Vorstellung etwas Besonderes, nämlich einen solchen Stil, der in bewußter Weise die Abstreifung des Gemeinen anstrebt; der den Adel zum Ziel erhebt und sich von ihm die Gesetze schreiben läßt, gewillt, die adligen Gesetze strengstens bis in alle Einzelheiten der Form, also des Stils und der Sprache, zu befolgen. Der Idealstil ist der Gentleman in der Kunst und wird daher von pöbelhaften Seelen geradezu gehaßt. So ist der Stil der griechischen Bildhauerkunst darum ein Idealstil, weil der Künstler den Göttertypus durch bewußte Veredlung: durch Kombination, Abstraktion, durch Antithese aus der gemeinen Menschengestalt gewann, indem er z. B. den Nasenstirnwinkel des Göttergesichtes auswärts bog, weil ein gemeines Gesicht den Winkel nach innen hat.

Der Idealstil hat wie jeder Stil seine Vorzüge und Nachteile. Der Hauptnachteil des poetischen Idealstils ist der Mangel an Mut, sowohl an Lebenswirklichkeitsmut wie an Phantasiemut. Begreiflich; denn der Idealstil ist ja ein Flüchtling. Ganz eminente Dichter werden sich daher des Idealstils kaum dauernd bedienen. Dante, trotz seinem Phantasieidealismus, spricht keineswegs im Idealstil.

Auch mit der Persönlichkeit verträgt sich der Idealstil nicht wohl.

Naive persönliche Größe sitzt diesen keuschen Stil mit ihrem bloßen Gewicht auseinander wie einen gebrechlichen Stuhl. Nur solche persönliche Größe, welcher Gedankenschwung und Rhetorik Natur ist, wie z. B. Virgil, Corneille, Schiller, fühlt sich im Idealstil sicher und wohl. Aber auch nur in einem kräftigen Idealstil.

Nun die Vorzüge.

Ein Hauptvorzug des Idealstils ist die seelische Reinheit, Reinheit der Vorstellung, der Stimmung, des Gedankens, der Sprache und der Form. Es ist nichts Geringes um einen Stil, der uns verbürgt, daß wir von der ersten bis zur letzten Zeile ohne Unterbrechung Höhenluft atmen dürfen. Wenn wir das nicht spüren, so spüren es eben andere.

Der wichtigste Vorzug ist aber die Wirkung auf das Gemüt. Man pflegt zwar dem Idealstil im Gegenteil gefühllose Kälte vorzuwerfen. Nun ja, mit den niederen Stilformen verglichen ist jeder hohe Stil kalt, da eben die hohe Kunst nicht direkt auf das Gemüt abzielt. Die hat andere Sorgen. Die gefühlvollsten Lieder werden ja von Dichtern zweiten Ranges geschaffen. Jeder Philister urteilt: klassische Musik, Fugen, Sonaten, Symphonien, ist nichts fürs Gemüt. Was ist denn fürs Gemüt?

Das »Zarenlied« von Lortzing oder »Der Tiroler und sein Kind«:

»Wenn ich zu meinem Kinde geh',
In seinem Aug' die Mutter seh'«

Die hohe Kunst erklärt sich gegenüber dem Gefühl wohlwollend neutral. Da jedoch Schönheit von Natur wegen, ob sie will oder nicht, Gefühle auslöst, so wirkt die hohe Kunst, während sie keineswegs auf das Gemüt zielt, doch auf das Gemüt.

Ein musikalischer Dreiklang ist regelmäßig, mechanisch, kalt; aber er tröstet und erhebt trotzdem die mit Trauer umhüllte Seele. Alle Schönheit versöhnt und erlöst.

Das Gefühl der Versöhnung und Erlösung nun, welches jede hohe Kunst bewirkt, bewirkt der Idealstil in verstärktem Maße. Es ist der Stil, der den Eintretenden mit dem Gruße segnet. »Friede sei mit dir!« Ich denke, es ist wahrlich auch ein Gefühl (und keines von den kältesten), aus der Gemeinheit emporgezogen, aus dem Pöbelhaften gerettet zu werden, den Kummer, den Jammer, den Zank vergessen zu dürfen, Schmerz und Trauer in Schönheit schmelzen zu spüren. Man berichtet von Afrikaforschern, welche nach jahrelangen Kämpfen und Plackereien in den Urwäldern, als sie zum ersten Male wieder ein weißes Gesicht sahen, in Tränen ausbrachen.

Das weiße Gesicht ist der Idealstil.

Was ist Afrika?


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