Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Vom Lehrgedicht

Das Lehrgedicht spielt, wie man weiß, in der Weltliteratur eine ganz bedeutende Rolle, und zwar, wohl zu beachten, bei den poesiebegabtesten Völkern in ihrer allerbesten Zeit. Hierfür sind die Beispiele so massenhaft vorhanden und jedem gegenwärtig, daß ich auf deren Nennung verzichten kann. Bei uns steht das Lehrgedicht in Fluch und Bann, mehr noch: es herrscht eine Art abergläubischer Furcht davor, etwa so, als ob man besorgte, das Lehrgedicht möchte die übrige Poesie infizieren, gleichsam mit einem linearförmigen, ledernen Prosabazillus.

Wie aber sollen wir uns den Reiz erklären, den das Lehrgedicht ausnahmsweise auch auf einen wirklichen Dichter auszuüben vermag? Anwesenheitsgefühl überschüssiger Sprach- und Formvirtuosität bei augenblicklicher Abwesenheit der Inspiration. Also der nämliche Reiz, der Goethe zur Versifikation des Reinecke Fuchs antrieb. In einer anderen Atmosphäre aufgewachsen, würde Goethe seine Farbenlehre zum Lehrgedicht erhoben haben, wie das der in französischer Atmosphäre aufgewachsene Haller mit seinen »Alpen« getan hat. Nach meiner Ansicht würde Goethes Farbenlehre durch den Vers gewonnen haben.


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