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Das Unpassende

O mein Gott, da ist es wieder: »Man darf dieses Buch nicht lesen – Man kann in dieses Stück nicht gehen«. Man wage es nicht, eine Erklärung solcher Dinge zu verlangen. Neben dem Unpassenden steht gleich das » Unmöglich-geworden-sein«, »man ist impossible«. Das ist das österreichische Wort dafür. Wo ist man unmöglich? In der einzig lebenswerten Atmosphäre – in der Gesellschaft also. – Was ist das? Das sind, sagen wir, zwei Dutzend Familien, die immer Recht und die Tugend gepachtet haben. Außerdem noch Einiges dazu. Es sind die Familien, in die man eingeführt wird mit achtzehn Jahren, aufgeführt heißt es – die kleine Salburg wird heuer aufgeführt. Man fährt überall vor, in einem neuen Kleid, das Einem sicher schlecht steht, mit weißen Handschuhen; und mit Papa und Mama, die streng oder aufgeregt aussehen. Der Bediente, in erster Garnitur, rast mit den Karten hinauf. Man wird nicht angenommen. Ha – warum? Haben sie was gegen Einen? Ist getratscht worden und was? Oder, man wird angenommen. Das ist dann ganz furchtbar. Man hört den Laufschritt von Herren, die feige die Flucht ergreifen, von Damen, die noch schnell was anziehen und dann, strahlend oder gemessen, uns entgegenkommen, gespickt mit den Phrasen der guten Erziehung. Die, obwohl sie Einen seit Jahren täglich sehen, tun, als wäre man das Neueste und Erstaunlichste. O, diese Ausrufe, diese rasselnden Lorgnetten, dieses Blinzeln, diese Seitenblicke! Dann die Reverenzen, die zu erteilen, die Handküsse, die zu geben sind. Das Benehmen: »Du mußt durchaus korrekt sein und dich sehr gerade halten, aber du mußt zwanglos sein, lustig, und Esprit mußt du zeigen. Du mußt harmlos schauen, sonst heiratet dich keiner (das ja war mir sehr egal), du mußt nicht wie eine blöde Gans dasitzen. Von Shakespeare darfst du nicht reden, weil der für Komtessen zu deutlich ist, und ja nicht von »Kabale und Liebe«, wenn du auch drin warst, im Salon hat das nichts zu suchen. Sprich vom Eislaufen, aber ja nicht von lyrischen Gedichten, da rennen die jungen Herren davon. Sei bescheiden – verschnapp' dich ja nicht. Und trau nur den jungen Mädeln nicht, das ist Konkurrenz. Widersprich wenig, ereifre dich niemals, das ist nicht comme il faut. Überzeugungen sind so bürgerlich! Sag' ja; es is' ja ganz wurscht, und sie geben diesen Winter doch zwei Tanzereien. Wenn die vorbei sin', nachher kannst reden wie du willst. So – und nur ganz natürlich!«

Das Furchtbarste waren die Rührszenen alter, mißgünstig aussehender, etwas zu sagen habender Damen, von denen es wimmelte. Sie ließen Tränen tropfen, und sie küßten Einen mit Segenswünschen, wobei sie dachten: »Dafür werd ich sorgen, du mißratener Balg, daß du meiner Flitscherl Keinen, aber auch Keinen wegschnappst.« Die rührungsvollen Baroninnen haben mich niemals eingeladen. Die Ungerührten, Kurzangebundenen waren humaner. Ja – das Unpassende also, dieses Anregende, das immer in der Luft lag! Von den Kreisen, in die man mich pflichterfüllend schleppte, wußte ich manches aus zwangloser Mannes- und Frauenrede Wohlvernommenes, das in mir haften blieb. Und die rasende Heuchelei dieses Gesellschaftslebens, dieser Gesellschaftsmoral peitschte meine ganze Natur auf. Mein Bruder, der junge Student, fühlte damals wie ich. Wir redeten darüber. Über die inneren, religiösen Konflikte fielen viel weniger Worte. Auf sie komme ich als auf ein Zeitleiden noch zurück.

Das Unpassende! Wer wußte eigentlich ganz genau, was es war? Der Schauspieler Willhain, der es verstand, ein harmloser Bonvivant zu sein, der wußte es! Denn ihn befragten frühmorgens schon die adeligen Mütter durch Briefchen. Kann man in dieses Stück gehen? Ist es für Komtessen? Willhain irrte sich manchmal in seinen Ukassen und haute daneben, sei es, daß er doch nicht ganz die Komtessenpsyche besaß, oder daß ihm die Galle aufstieg. Dann gab es großen Krach, Verzeihung-Bitten. Die gestörte Unschuld hatte sofort beichten zu gehen und zu vergessen, was sie Unerlaubtes erfahren. Ich aber kann nur sagen, Komtessen ganz untereinander waren immer sehr lustig, durchaus abgefeimt, manchmal frech, man konnte da manches erfahren. Mit mir warm geworden sind nur wenige. Es war der heimliche Neid, weil es feststand, daß ich wußte, daß es uneheliche Kinder gibt, und dies in meinem ersten Stücke bekannt gegeben hatte. Mir waren die Komtessen gleich. Die jungen Herren der Gesellschaft habe ich, die mit achtzehn Jahren zum ersten Male überhaupt mit einem jungen Herrn sprach, falsch angefaßt; es wurde eine Blamage. Meine Eltern gaben ein Diner – für mich; ich saß zwischen zwei großen Schafen der Haute volée, ich will sie nicht nennen, sie blühen noch in unverminderter, geistiger Harmlosigkeit. Wir schwiegen reichlich und aßen viel – bis die Eltern mich drohend ansahen. Jeder der Beiden, Rudi und Stefferl waren ihre Kosenamen in der Gesellschaft, hatte etwas genäselt und mich gemustert. Plötzlich wurde mir klar, was ich zu sagen hatte. Ich sagte: »Kennen Sie Werthers Leiden?« Ich sagte es aufgeregt. Werthers Leiden war eben ein Stadium.

»Nein,« sprach der neben mir rechts und kaute: »Was fehlt ihm denn? Ist das übrigens nicht einer aus Preußen, der Kerl? Es sollen heuer welche hier in die Welt gehen.« »Werthers Leiden von Goethe.« – »Von wem? Aso – Jessas ja.« »Das is' doch ein Büchel, eine Liebesg'schicht,« sagte der links. »Gelten's Gräfin, ein Büchel ist das und sehr fad. Was? Es is' die Butterbrotg'schicht' mit der vielen Verliebtheit und dem Kerl, der immer beleidigt is', eingeschnappt. Na, ja! Ein Bürgerlicher. Sie heißt Lotte, gelten's Gräfin?« »Lotte heißt sie!« »Mein neuer Brauner, der heißt auch Lotte, es ist ein Vollblut, sag ich Ihnen! Wann ich nachher noch einen dazu krieg', den heiß ich Werther, und der kriegt die Tachteln, die dem andern Werther g'fehlt haben. Und jetzt red' ma' von was G'scheiterem!« – Von diesem Tage an stand es fest: »Die kleine Salburg is' ein denkendes Mädl. O Jemine, das is' nix! Da muß ma sich anstrengen.«

Das Unpassende, es hatte auch seine anderen Seiten, wo es ernst wurde, lockend, schwül und wunderlich. Wo man grübelnd lag und in den Adern das junge Blut sich regte. Ein boshaftes Kammermädchen, das wegen Lebenswandel entlassen wurde, hatte beim Frisieren mir noch schnell zugeraunt: »Ach was, Komtessen, das sind nur quakende Frösch, die haben ja kein wirkliches Leben. Das wissen die ja nicht, wie das schön ist, wenn man hinausgeht in die Nacht, und da wartet Einer – oder vielleicht werden Sie's doch amal wissen. Wir sind alle Menschen. Bei euch vertuschen sie's, vorkommen tut doch genug.« »Was? Was?« hatte ich schnell gefragt. Da raunte sie: »Erzählt wird nix – Erleben!« –

In den Sommern, die wir regelmäßig auf der Besitzung Leonstein, nach wie vor sehr abgeschlossen, verbrachten, hatte ich viel Freiheit. Ich unterrichtete mein Schwesterchen, das heranwuchs; wir teilten ein Schloßzimmer, heimlich und dämmernd, lindenumrauscht, von gretchenhafter Einfachheit. Für meinen studierenden Bruder waren regelmäßig Sommerinstruktoren da, mit denen es mancherlei Verdruß gab. Meist waren sie ohne Manieren, saßen unglücklich bei Tisch, krochen Nachts über den Heuboden ins Wirtshaus, und schliefen in den Lehrstunden oder lasen unmögliche Bücher, in die wir guckten. Es waren furchtbare Jünglinge, aus dem Proletariat des Studententums, die uns unweigerlich haßten. Eine Ausnahme machten die Seminaristen aus dem großen Grazer Seminar, die mein Lehrer empfahl und die durchweg gut abschnitten; Bauernsöhne, bescheiden, fleißig, schüchtern. Einer hieß Riegler – ich weiß es noch. Und weiß noch eine drollige Episode. Wir hatten uns im großen Billardzimmer eine regelrechte Bühne gebaut, spielten Theater und zwar alles Mögliche. Mein Bruder und meine Schwester waren Talente, ich half aus, der Hauslehrer mußte auch heran mit irgend welchen Gelegenheitsfiguren. Wir spielten gar nicht schlecht, die Bauern staunten. Es gab viele Proben mit Grobheiten des zwanglosen Geschwistertones, der Ehrgeiz glühte, wiederholt kamen auch außer dem schwarzen Adel die geistlichen Herren der Gegend, einige Honoratioren, die Lehrer und so fort. Eines Abends, nach einer langen Probe, bei der ich hauptsächlich Kulissen geschoben und souffliert hatte, finde ich meine Schwester heulend in ihrem Bett. Sie war etwa zwölf Jahre alt, und während wir drüben noch heftig diskutierten oder Whist spielten, pflegte sie schlafen zu gehen.

»Gabriele, ja, was hast' denn? Bist krank? Fehlt dir was?«

»Nein!« Neues Geheul. »Ja, was ist denn? Soll ich die Marie rufen?« »Nein!« – Wildes Schluchzen. Sie verkriecht sich gänzlich in ihr Kissenwerk. »Aber Gabriele, hast was zerhaut?« »Ach was!« »Kannst die fünf Erdteile wieder nimmer?« Keine Antwort. »Hast was verloren?« »Was soll ich denn verlieren? Ich hab doch nix.« »Also vorwärts! Was ist denn, oder ich hol' den Papa.« Ich wühle sie aus den Decken, heiß und naß schaut mich das liebe Gesichtchen unter den braunen Haaren ganz verstört an. Da erschreck ich. »Du sagst jetzt, was es ist. Saperlot!«

Ein Flüstern. »Ich muß ein Kind kriegen.«

»Waaas?« »Ein Kind krieg ich, ja! Wann, das weiß ich nicht, aber ich krieg's.«

Sie schreit es verzweifelt. »Du bist verrückt. Ja warum denn?«

»Es muß sein. Der – der – der Seminarist, der den Grafen spielt, weißt', der hat mir hinter den Kulissen ein wirkliches Bussl geben, ganz fest. Und dann kriegt man ein Kind, immer.«

Zuerst war ich sprachlos. Sie hatte einen neuen Verzweiflungsausbruch. »Und was tu ich damit? Wo soll ich es hintun. Es ist furchtbar!«

»Es ist einfach verrückt,« gab ich zurück und dachte tief nach. »Dieser Riegler – so Einer! – Aber es ist ein Unsinn. Man kriegt nicht gleich ein Kind.« »O ja, man kriegt.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es. Man kriegt ein Kind, wenn man sich anrühren laßt, ich weiß es vom Beichten, das ist eine Todsünde.« »Hast du dich anrühren lassen?« »Wenn er mich abküßt und stärker ist als wie ich und ganz verrückt ist!«

»Du hast ihm halt immer schlamperte Augen g'macht, du koketter Fratz du!« sagte ich. »Weißt was! Ich hol jetzt das medizinische Buch, den Klenke. Da steht alles drin. Wir dürfen's eigentlich nicht lesen, aber in so einem Moment höchster Gefahr.« »Hol's g'schwind.« »Du glaubst wohl, Du kriegst das Kind schon indessen. Sei nicht so strohdumm.« »Also, wie is' es dann?«

Das war mir auch nicht klar, weil, wie gesagt, das Unpassende in mir noch Theorie war.

Ich raste um den Klenke. Dazu mußte ich an der Kapelle vorbei. Da drinnen hörte ich jämmerlich stöhnen. Meine Feigheit bezwingend riß ich die Türe auf. Und nun lag vor meinen Augen, auf den Altarstufen ausgestreckt, mit verwirrtem, struppigem Schopf, im Gebete die Hände ringend – der Riegler mit dem Riesenappetit und den immer zu Boden gehefteten Augen, der den Blick zu keiner Frau erhob und nun so schrecklich entgleist war. Sein Zustand war trostlos. Die Reue, die Gewissensbisse nagten an ihm, daß es nicht anzusehen war. Er wimmerte: » Mea culpa – mea maxima culpa!« Schlug sich an die Brust.

Als er mich gewahr wurde, setzte er sich auf, stierte mich an, als ob die Inquisition käme. »Herr Riegler.« »Grä – Grä – Gräfin Edith? O mein Gott!« »Sie haben ein schönes Benehmen,« sagte ich. »Sie wollen doch Geistlicher werden?« »Ja, jawohl.« »Sind Sie doch so fromm. Und dann – dann. Das müssen Sie beichten, Herr Riegler. Haben Sie an die Folgen nicht gedacht?« Ich sah ihn gespannt an, vielleicht erfuhr ich etwas. »Ich werd's ja nie, nie wieder tun,« schrie er jammervoll. »Ich war verrückt, ich war noch in der Rolle.« »Sie wissen doch, es wird in die Luft gebusselt.« Er griff sich an die Stirne. »Jetzt werd' ich hinausgeschmissen,« sagte er trostlos.

»Und – und meine Schwester?« »Der macht das doch nichts. Die hat doch nicht sich mit Sünden bedeckt. Sie werden es jetzt natürlich den Gräflichkeiten mitteilen.« »Keine Spur. Zu was glauben Sie, daß das sein muß?« Wieder sah ich ihn gespannt an. »Meinen Sie vielleicht, daß meine Schwester Sie jetzt heiraten muß?« sagte ich großartig. Da fiel er glatt hin. »Ich gehöre der Kirche, es wäre Gottesraub,« ächzte er. »Begraben wir die Sache, sie hat ja keine Folgen, es war die Verirrung einer Minute.« Das hatte ich hören wollen. »Keine Folgen, nein,« betonte ich scharf. »Natürlich keine. Höchstens, daß ich rausflieg' für nicht überwundene Versuchung.« »Ach was! Ich hab auch schon einmal Lederäpfel gestohlen, Herr Riegler – gehen Sie schlafen. Und wimmern Sie nicht so, sonst hört es mein Bruder.« Er sah mich kläglich dankbar an.

Sowas küßt und wird sündhaft, dachte ich geringschätzig. Ich hab geglaubt, die Sünde ist immer reizvoll. Dann holte ich meinen Klenke und las – las. Mit dem Kinde war es nichts. Ich konnte Gabriele beruhigen. Wir küßten uns, lachten, sie schlief ein mit heißen roten Kinderbäckchen. Ich saß noch lange wach und las im Klenke über die Ehe.

Wenn schon! Jetzt hatt' ich ihn einmal in der Hand. –

Ich trug das Dirndlkleid meiner Heimat, das schwarzseidene Kopftuch, die reichgeflochtenen Zöpfe, die Kropfketten. Jeder kannte mich – wußte, daß ich dichtete und gedruckt wurde. Ich lernte beim Pfarrer weiter Latein und studierte ihn selbst dabei. Ich ging mit meinem Vater in die Bauernversammlungen, lebte in seinen politischen Artikeln, die ganze Welt meiner Heimat offenbarte sich mir. Mein Vater und ich, wir wanderten täglich zusammen über Land, nach der Arbeit des Tages. Wir lernten nach wie vor viel, wir Kinder, stundenlang las ich meiner Mutter Geschichtswerke und Memoiren vor, unterlag dem Einfluß ihres manchmal männlich kühnen, starken Geistes, der leider dann nur zu oft in Subjektivitäten unterging; genoß die treffende Schärfe ihres Urteils, ihre Schlagfertigkeit, nahm an von ihrer Eigenart. Seelisch nahegekommen bin ich ihr kaum jemals, ihren Herzschlag empfand ich selten. In manchen Frauen kann die echte selbstlose Mütterlichkeit nicht aufblühen; sie finden, auch zu heranwachsenden Kindern, keine Wege. Es begann meine Natur sich damit abzufinden, denn meine Gedanken waren zu beschäftigt mit den Rätseln des Lebens, die mir überall entgegentraten. Das Schloß mit seinen wunderschönen Naturparks spann um mich alle seine Zauber, nie verließ mich das Gefühl: Deines Bleibens ist nicht hier, von hier mußt du bald fort. Die Heimat wird versinken, als sei sie nie gewesen. Dein Vater und die Heimat sind Eines und verbleiben zusammen. Ich fühlte meines Bruders Werdejahre, die gewiß nicht ohne Kampf und Konflikt waren; er teilte sich wenig mit. Wie die meisten denkenden Gymnasiasten vor der Reifeprüfung wähnte ich ihn religiös irre geworden, durch das lose Widerspiel des Unterrichts in der Schule. Noch sagten ihm Geldfragen gar nichts, er war einfach, solid, betonte seine Stellung als Erbe nicht mehr – im Gegenteil; ihn, den Freundlosen, der mit Jungen seines Standes nicht verkehrte, erfüllte eine Zeitlang ein dunkler Drang demokratischen Denkens. Er schimpfte auf die unfähigen Ahnen, deren schlechte Bilder zumeist stumpfsinnig von den Wänden auf uns herabglotzten. – Er träumte ihn auch gewiß, den mehr als tausendjährigen Freiheitstraum der reifenden Knabenseelen. Seine Gesundheit hatte sich gebessert, sein Geist war hell und scharf, sein Gedächtnis ebenso prächtig wie seine musikalische Begabung; das ungezügelte Temperament führte zu Fahrigkeit und wechselnden Zielen. Nachts klang seine Violine hinaus aus dem Fenster des alten Tracts über das mondbeglänzte, wasserdurchrauschte Tal mit seinen Eichendorffstimmungen. Ich fürchte, es ist seiner Jugend nicht Genüge geschehen an geistiger Umsorgtheit und Verständnis, an Führung. Es wurde immerzu nur gestritten, die Mutter war die Jüngste und Lauteste.

Wir Kinder im Schloß haben damals eine Zeitung herausgegeben, die im Landl mehrere Bezieher hatte und sehr viel Spaß machte. Die Leonsteiner Schloßzeitung. Es war ein regelrechtes Blatt, mit allen Chikanen, politischem Leitartikel von verblüffend fortschrittlichen und etwas aufrührerischen Tendenzen, literarischem Teil, kleinen Nachrichten, Romanbeilage, Anzeigen, Mitteilungen aus dem intimen Schloßleben, die manchmal etwas weit gingen – Tiernachrichten, die mein Schwesterchen sehr nett besorgte. Denn sie zog die Tiere den Menschen bei weitem vor, besaß ein blökendes Schaf, das ihr nachlief und sogar bei den Stunden neben ihr lag, dann aber von da verbannt wurde, weil es sie »blöd' mache«. Sie besaß Tauben, Kaninchen, einen Hund, der Komtessel hieß und einen namenlosen Lebenswandel führte; sie betreute das alles sorgsamst. Auch Eichhörnchen liefen an ihrem Fenster auf und ab, auf dessen Brett sie Obst zu häufen pflegte. Die gefangenen Mäuse ließ sie immer wieder aus. Der Hauslehrer war Schriftleiter der Zeitung, mein Bruder Chef-Redakteur, ich das Mädchen für alles. Diese Zeitung bestand ein paar Sommer, gab ab und zu Ärgernis, machte uns populär, sogar bei Bauern, die sie schmunzelnd lasen. Zu kleinen Indiskretionen hatten wir viel Talent. Aber da wurden auch die Geschichte des Landes streifende, ernsthafte Artikel geschrieben, die die wachsende innere Not und Hilflosigkeit der deutschösterreichischen Erde, des Bauernstandes schilderten, an Hand von Tatsachen. Denn es ging stetig abwärts. Hof um Hof, Kleinbesitz um Kleinbesitz zerbröckelte, jüdisches Bauernschlächtertum spukte, Steuermühsal und Geldmangel ausnutzend, überall. Die Tatenlosigkeit des Adels, selbst der Herren, die im Landtag saßen, war verheerend. Das blieb sich in den Erblanden überall gleich; die Losung war: Gleichgültigkeit gegen die eigene Existenz. Einen Oberösterreicher zur befreienden Tat zu wecken, dazu braucht es Keulenschläge. Aus Deutschböhmen kamen seltene Mären. Wir, in Ober- und Niederösterreich, in der Obersteiermark waren wenigstens deutsche Bevölkerung, ohne Mischung. Unverjudet noch, nicht korrumpiert. In der Landeshauptstadt Linz, der geistig Schlafenden, wehte Kirchen- und Bauernluft. In Deutschböhmen aber, dem reichsten, von Möglichkeiten gesunder Entwicklung strotzendem Kronland, da war es anders. Der Kampf zwischen zwei, drei Nationalitäten wurde da von privater Seite frevelhaft ausgenutzt. Es kann gerade dem höchsten und reichsten Adel dort, der heute von denen enteignet wird, die er großgezogen, der furchtbare Vorwurf nicht erspart werden, daß er zum Verräter an der deutschen Sache in Böhmen geworden ist. Da waren die Schwarzenberge, die tschechische, überhaupt slawische, landfremde Angestellte und Arbeiter bei weitem den Deutschen vorzogen, die, streng rechtlich gebildet, politisch regsam, den kriechenden Untertanenton der Fronzeit nicht mehr finden konnten, sondern mit den Herren zusammenarbeiten wollten in gemeinsamen Interessen, wie man in Deutschland arbeitete. Die großen Herren entließen Protestanten, nahmen keine Leute, die einmal draußen im Reiche gewesen. Hingegen überschwemmten sie ihre Brauereien, Industrien, Jagd- und Holzgebiete mit wohlfeileren, halbwilden Slawen, Polen und Tschechen, bauten denen Schulen, Kirchen; aber sie drückten die Löhne und hielten dies Volk in knechtischer Mittelalterlichkeit. Kein Erbe der großen Güter wurde richtig deutsch erzogen, für sein Land. Ein selbstüberheblicher Hochmut ohne Beispiel machte diese Herren ohne nationale Gesinnung maßlos verhaßt. Die Brut, die sie großgezogen, sitzt heute triumphierend in ihren geschichtlichen Prachtschlössern. In der Geschichte verblaßt ihr Name. Als geschlossene Führer der deutschen Sache wären sie Helden gewesen. Sie haben sich selber aufgegeben, Deutschböhmen geopfert. Ich schrieb eine Novelle » Trix und der Professor«, die, nach gegebenen Quellen, solche Vorgänge der Entdeutschung schildert. Sie hat lebhaften Widerhall gefunden. Deutsch ist in Böhmen der von Deutschland stark beeinflußte, intelligente und regsame Bürgerstand gewesen. Ihm aber fehlte jede Einigkeit; und das Herz manch tapferen Führers ist im hoffnungslosen Kampf um die Einigkeit im Lande gebrochen. So tragisch wie in Böhmen, Mähren, Krain und Untersteiermark war in Oberösterreich der Kampf um die Vorherrschaft des Deutschtums nicht. Er schlich nur umher – man wußte sich gefährdet, den Kaiser unerreichbar, dicht umstellt von landfremden Schranzen.

Alteingesessene Bauern machten sich über ihr Schicksal im Zeitengang wohl tiefe Gedanken. Die Verhetzung der Knechte- und Mägdeschaft hatte bereits begonnen durch jüdische Machenschaften, von Zwischenhändlern landgieriger Leute. Bereits sträubten sich die Kinder gegen den natürlichen Dienst im Elternhause, der den Betrieb verbilligte. Bereits lockten die anwachsenden Städte. Gier und Händlergeist semitischer Art untergruben den starken Halt des Heimatwurzelns. Irgendeine unsichtbare Macht weckte die Begierden und die Unzufriedenheit. Die Bahn war gebaut worden, es gab Post, Telegraph; Sommergäste kamen. Des jungfräulichen Landes Blütenkranz begann zu entblättern. Die Wälder wurden stark ausgeschlagen. Schädigende Nutzungen begannen. –

Ich bin in den Bauernhöfen gesessen in enger Kammer an hochgetürmten Betten, in denen Krankheit und Todesdämmern war. Es hatte kein Grauen für mich. So ruhig und ergeben starben diese, in schwerer Arbeit aufgebrauchten Menschen. Vielen erschien der Tod als das erlösende Friedensfest. Für ihn hatte längst alles bereit gelegen. Die Begräbnisse waren Ehrensache der Familien. Beim Brotbacken im Flur bin ich dabeigewesen, wenn die knusperigen schwarzen Laibe dem riesigen Backofen duftend entstiegen, ein köstliches, in keiner Stadt gesehenes Brot. Bin in den Hofräumen gestanden beim leisen Rauschen des Kranders, um den sich die Hühner und Enten trieben; hörte das Anklingen der Glocken im Stall, den leisen, gemütlich brummenden Herdenton. In der Stube das murmelnde Gebet am Abend, vor und nach Tisch. Für den Bettelmann stand immer die Schüssel nebenan am Tischchen. Ich kenne die religiös geistige Welt des Volkes, seine hundert Bräuche, fast alle gestreift von Glauben und Aberglauben, seinen inneren Zusammenhang mit dem Übersinnlichen. Ein Geist von starker Rechtlichkeit, von Sitte und Würde hat allzeit im deutschösterreichischen Bauernhaus geweht, weit mehr als in seinen seelenlosen Schlössern. Dieser Bauernstand ist ruchlos und selbst mörderisch zugrunde gerichtet worden. Die Wiener Regierungen mit ihren glatten, skrupellosen Herren standen dem Volke weltenfern. –

Ich sehe mich hingehn über die blumigen Strecken, die blühenden Wiesen im Wälderkranz. Mairausch liegt über der Gebirgswelt, sinnverwirrend. Nach einer schweren Krankheit war ich sechs Wochen allein im Schlosse, nur mit den Förstersleuten. Zwei Rehe begleiteten mich auf weiten Wegen. Durch unsere eigenen Forste wanderte man tagelang. Es blühte jeder Strauch in jenen Tagen, ich hatte das noch nie gesehen. Der Wald war ein Jauchzen der Lebensbejahung; ich wurde ganz verwirrt. Ein Gefühl von allgemeinem, bacchantischem Jugendglück um mich her machte mich mir selber arm und traurig! Reich ist die Natur, ein Bettler der Mensch, der so viel zwischen sich und diese Natur geschoben hat. Ich kam hoch oben durch die maiigen Buchen plötzlich zu einer Wiese, die nur aus weißen Narzissen bestand. Sie wogte und wallte im leichten Winde. Die Blumen schlugen über mir zusammen. Aus jeder kam ein Traum – ich wünschte so zu sterben – betete: Nicht mehr zurück ins Leben – nein! –

Das alles ist lange vorbei – ist weite Ferne. Ich weiß es nicht, ob die Narzissen noch so blühen. Die herrlichen Parks sind verfallen – der Sohn zerstörte, was der Vater aufgebaut. Der uralte Familienbesitz Leonstein kam durch die Revolution, die die Majorate auflöste, ohne damit den jüngeren Kindern im geringsten zu helfen, in fremde Hände. Der Adelstraum vieler Jahrhunderte ist ausgeträumt. Weinen um ihn? Nein! Die Zeit braucht rechte Menschen. Der ungerechte Majoratsgedanke untergrub dauernd Familienwohlstand und Frieden, da ein einziges Kind alles erbte, die übrigen immer fast mittellos hinausgestoßen und, seltsamer Weise von dem Bevorzugten angefeindet wurden. Der Majoratsgedanke machte die Ehen angstvoll und glücklos, wenn kein Sohn geboren wurde. Dann glitt der ganze Besitz in fremde Hand. Die Frau des jeweiligen Besitzers sah nicht selten ihr eigenes Vermögen in notwendigen Verbesserungen verschwinden und hatte als Witwe, abgefertigt mit einem Bettelgroschen, hinauszugehen in die Fremde. Solchen Einrichtungen liegt kein gesunder, sozialer und menschlicher Gedanke zugrunde. Es ist ein Verdienst der neuen Verhältnisse, wenn sie verschwinden. Anm. des Verlegers: Das Majorat hatte jedenfalls das Gute für sich, daß es Grund und Boden vor der Überschuldung bewahrte. Die Abschaffung des Majorats durch die Revolution erfolgte nicht aus sozialen Gründen; sie war lediglich ein Zugeständnis an die Händlerrasse, die nunmehr den letzten Rest bodenständigen Adels entwurzeln und mit dem Grund und Boden Handel treiben und ihn beleihen konnte.



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