Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gesehenes

Noch ein paar Streiflichter auf Menschen und Dinge aus jener Zeit, die nun wieder so lebendig vor mir steht, daß ich den Schloßgeruch atme, den knisternden Duft uralter Dokumente im Archive, den Hauch von Moder, Staub und Sonnenstrahlen.

Mein Bruder ist viel krank, ein hageres, gelblich blasses, überlebhaftes Bürschchen, mit schönen Zügen, mit dunklen Augen, in denen ein ungebändigtes Temperament flackert. Dennoch hat er ein liebes Kindergesicht, sehr wechselnd im Ausdruck. Er ist begabt, unglaublich musikalisch, spricht fließend französisch, kann, wie auch ich, meterlange Gedichte aufsagen. Beide haben wir überlastete kleine Gehirne. Erzogen wird an uns den ganzen Tag. Unsere Unfreiheit ist eine grenzenlose. Was wissen die heutigen sportsfrohen Kinder von solchem Eingespanntsein! Auch ich bin nicht gesund. Gesund ist nur das bildhübsche Schwesterchen, das dritte Kind. »Enttäuschung numéro deux«. Fünf Jahre jünger als ich; rosig, rund, mit leuchtenden Augen, ein Blütchen. Und mir so lieb. Schon komm ich mir wie eine Mutter vor. Zwischen der bösen Großmutter und uns ist nun der völlige Bruch eingetreten; sie verlangt fortgesetzt Unmögliches, schwerste Sorgen bedrängen meinen Vater. Er zerschneidet schließlich das Tischtuch. Gibt, was er kann, was eigentlich den jüngeren Kindern, uns gehörte. Und bricht die Beziehungen ab. Damit steht die adelige Sippe gegen ihn, ob sie auch selber in unerschöpflichen Uneinigkeiten, in eigenem Hause die gleichen Zwiste gnugsam kennt, genau weiß, was mein Vater leidet. Die Sippe verlangt unbedingt gewahrte, lügenhafte Dehors, den Schein. Den zu geben, dazu ist meine Mutter nicht mehr zu bringen. Zu grausam ungerecht und mitleidlos wird gearbeitet gegen diese schöne, glänzende junge Frau, die, in tiefster Einsamkeit, neben dem kränklichen Gatten, auf verlassenem Schloß, ohne jede Jugendfreude Jahr um Jahr verbringt, ohne zu klagen, in seltener Fügsamkeit. Es wurde nie anerkannt, wie viel sie entbehren mußte. Das mag sie hart gemacht haben. –

So mußte der endgültige Entschluß reifen, in eine andere Stadt Österreichs zu ziehen für die Winter, die Kinder da unterrichten zu lassen. Es war eine Preisgabe der Position in der Heimat. – Den offenen Kampf in Linz tapfer aufzunehmen, wäre klüger gewesen, den Standpunkt seines Rechtes mitten unter den Widersachern zu vertreten, richtiger. Man sah die schöne Gräfin Salburg, den vornehmen Husarenrittmeister und Kämmerer, meinen Vater, nicht mehr auf den Linzer Festen. Nie würden in der Sippe deren Kinder aufgenommen sein, alles würde man ihnen später in den Weg legen. Denn heranwachsende Menschen sind leicht zu treffen. – Aus dieser dunklen Ahnung heraus mochte wohl der Gedanke bei meinen Eltern reifen, uns eine besondere, eine für damalige Sippenbegriffe unadelige, aufklärende Erziehung zu geben, uns alles schrankenlos lernen zu lassen, was wir wollten. So wurde für mich das Kainszeichen des Familienhasses zum Wegweiser ins Freie, zum Lebenssegen. Schon als Kinder mit einem besonderen Schicksal gezeichnet, waren wir von anderen Kindern ganz verschieden. Die Schrankenlosigkeit, mit der vor uns die Familienverhältnisse besprochen, wir gewarnt wurden, machte uns selbst ganz früh zu grübelnden Menschen auf der Defensive. Tragik liegt in solchem Geschehen. Parteiwesen riß grausam an den kleinen Seelen, Kindheitsparadiese gab es nicht für uns, niemals den süß vertrauenden, gläubigen Aufblick zu den Großen. Die geisterhafte Frau, von der es hieß, sie gehe seit mehreren hundert Jahren im Schlosse um, war wohl der graue Schatten des Mißtrauens, der Menschenfurcht und Menschenverachtung, der mit knöchernem Finger an die Kinderherzen pochte.

Und doch war sonst die Umwelt köstlich rein, in ihrer weltenfernen Enge. Das Schloß mit den Parks, die mein Vater so schön angelegt, das stille, weite Land. Die Sonntagsfahrt zur Kirche, das Ereignis. Das berüchtigte »In den Salon müssen«, wenn die Pfarrer, Sensenschmiede, irgendwelche Besuche da waren, ein Grauen. Denn da wurde man angezogen, im Sommer in stocksteifen weißen Piqué, Unterjacken darunter, zwei für den Majoratsherrn, wir Mädeln nur eine – mit Ajourstrümpfen, die man selber stricken lernen mußte; im Winter in die von der Marie hausgeschneiderten Prunkstücke nach allzu neuer Mode, – man wurde gekämmt, mußte hinein, Reverenzen machen, gesetzt antworten und dann kam regelmäßig der Prinz von Arkadien und das kreuzereiche Stück aus dem »Liebestrank« »Elixier d'Amore« auf dem Klaviere dran, wir flankiert von der Gouvernante mit dem Staberl. Wir sagten auf: »Gott erhalte, Gott beschütze –« und » La cigale ayant chanté tout l'été«, die Fabel von La Fontaine, an dessen Meisterwerken wir haßerfüllt nagten. Man fand uns meistens sehr »grün«, das heißt blaß und recht mager. Hatte jemand das bedauernd geäußert, bekamen wir sofort was Schlechtschmeckendes ein. »Ihr seid's die reinen geriebenen Gerstle, mit euch kann man keine Parad' machen!« Nur die kleine Schwester blühte wie ein Röschen. Niemand machte viel aus ihr – »noch ein Mädl – schon wieder ein Mädl!« Und doch lag auf ihrem süßen Persönchen der Segen sonnigster Lebensfreude.

Wir haben uns viel gefürchtet in unserer Kindheit, vor Geistern und Dingen, die uns die Dienerschaft zuraunte. Zwischen Allerheiligen und Weihnacht, im Advent, sahen wir Schatten huschen, hörten wir die Töne und Geräusche, die im Schloß vorhanden sein sollten. Nachts setzten wir uns plötzlich geradeauf im Bett. Das ist auch mir wiederholt geschehen. Ich wachte hell auf, unter der Empfindung, es neige sich tief über mich ein trauriges Frauengesicht, ein kühler Atem wehe mich an. Es blicke ein Auge forschend in meine Züge. Da kam ich hoch und hörte es leise wegrauschen, wie eine lange Schleppe. – Das wiederholte sich. – Es geschah auch Fremden.

Durch die langen, eisigen Gänge kommt dann der Nikolaus gegangen mit dem Krampus, der Sack und Rute trägt. Er hat den großen Kutschermantel des Forstinger an, aber das merken wir gar nicht. Wir stehen – knien in Reihe und Glied. Meinem Bruder ist übel – er leidet an Übelkeiten – ich habe vor Aufregung Leibweh, all das Gelernte, das ich von mir geben will, sprengt mich fast. Wir sagen Flüsse auf und Länder, Gebote und Todsünden, Schillers Glocke und » petit oiseau où donc es-tu?« Wir können, das heißt wir müssen rechnen. Ich habe heimlich was Schweres aus Wallenstein gelernt; ich lerne spielend auswendig, wie mein Bruder auch, jede Poesie bleibt uns haften. Wir beide werden mutiger, überbieten uns, schreien. Die kleine Schwester kann gar nichts. Sie steht nur da, ein Engelchen mit Schelmenaugen, die jetzt ganz entsetzt sind, und stammelt unausgesetzt: »Ja, lieber Gott! – bitte lieber Gott! Ich will's gar nimmer tun, lieber Gott!«

An den Türen drängt sich die Dienerschaft, der Pfarrer ist da und der Lehrer, der nicht dafür ist, Kinder zu erschrecken und in grimmiger, äußerlicher Demut verbissen herumsteht, während er sich sein Teil denkt, als ein liberal Aufgeklärter. Ja, der Lehrer! –

Weihenacht auf dem Lande in tiefem Schnee und Eis. Christnachtmette in der Kirche, feierliche Messe in der Schloßkapelle. Zwei mächtige Tannen, aus dem eigenen Wald, flammen im Speisesaal, den Armen wird beschert, die Welt scheint ein Wunder. Jeder kriegt seinen vollen Teller; jeder liegt am Stephanstag mit verdorbenem Magen im Bett und wird beschimpft. Aber es ist so schön, das alles. Rühret nicht, o rühret nicht, ihr Menschen, an den heiligen Glauben der Kinder. Laßt ihn blühen, solange er nur kann, schweiget – schweiget! Kein aufklärendes, kein spottendes Wort, keine Geringschätzung. Laßt unter ihnen das Jesukind sein.

Und lasset ihnen auch die Märchen. Uns nahm man sie so früh, da war mir's zum ersten Mal, als sei etwas gestorben. Als Schneewittchen nicht mehr im Walde ging und Rotkäppchen, als kein Zwerglein mehr lauschen mochte, irgendwo, hinter Baum und Busch, als Undine und Kühleborn in der Steier nicht mehr lockten, – da kam das erste große, schauerliche Alleinsein über mich. Statt der Märchen raunte der Aberglaube; der war noch sehr lebendig, trieb sein Unwesen. – In der tiefstillen Schloßkapelle aber, in die so oft ich, ein blasses, kleines Mädchen, von der Fülle der Jasminhecken und wilden Rosen, die das Schloß umgaben, etwas hintrug, die liebliche Madonna im hellblauen Mantel zu schmücken, da wehte eine bangemachende, stumme Majestät, da war mehr Gottesfurcht als Gottesnähe. Hier fand die unbewußt suchende Kinderseele nicht ihre Wege zu gesunder Glaubensinnigkeit. In dunkler Sehnsucht ist sie oft vergangen. Sie tastete sich hin zwischen Himmel und Welt. Die formelle Frömmigkeit der Erziehung befriedigte keine Tiefen. –

Es waren die Tage mangelnder rationeller Hygiene, besonders in den Rückständigkeiten des Provinzlebens. Eine Krankheits- und Epidemienfurcht, die heute wie mittelalterliches Wesen erscheint, war weit verbreitet und bei uns unglaublich ausgebildet. Sie verbitterte direkt das Leben. Stand irgendwo eine Seuche in der Zeitung, war man schon auf sie gefaßt. Pest und Cholera nicht ausgeschlossen. Die Meningitis, Kinderstarre, in einer Entfernung von vierzehn Stunden, hat uns einen ganzen Sommer verbittert – man beobachtete sich, beugte vor, fühlte sich schon schlecht. Mein Bruder wurde ein kleiner, stundenweise tief ernsthafter Hypochonder. Ich schrieb mein Testament, in dem ich meiner Großmutter nichts vermachte, und bereitete mich auf den Tod vor. Im Landvolk spielt das Sterben eine so große Rolle, daß es seine Schrecknisse verliert. Ich gedenke des Sebast, eines Tagelöhners, der es auf der Brust hatte, sichtlich dahinschwand, und der, wenn er immer noch matt der Arbeit nachging, es jedem erzählte: »'s Frühjahr, dös nimmt so Leut' wia mi, mit. In März, längschtens in April, da werd' i' mi' ausstrecken, 's ist alles g'richt.« Liebevoll zeigte er auf dem Friedhof das Stückchen Rasen. »Da werd' i' na' drunten liegen. Kommts mi' fleißig hoamsuchen. A Vater Unser kann i' brauchen.« Und also geschah's. Die Welt des Todes, der Unfälle war groß im harten Leben der Berge; groß wie die bittere Not, die ich in »Papa Durchlaucht« und »Golgatha« beschrieben habe. Tief in den Wäldern spannen Holzer ein seltsames Leben, kaum menschlich. Sie starben, die Welt nicht einmal ahnend in ihren Möglichkeiten. –

Dunkle Schauerstunde der ersten Beichte, der ersten heiligen Kommunion. – Furchtbare Stunde. »Verschweigst, vergißt du etwas, dann fällst du tot hin, wenn der Herr deine Lippen berührt.« Diese Angst, dies Grübeln, sich Zermartern nach Sünden! Da waren unter uns welche, die fanden eine Lösung. Was es nur an entsetzlichen Sünden und Lastern gab, das wurde aus dem Katechismus, aus der Zeitung, von irgendwo abgeschrieben, auf einen riesigen Bogen Papier. Der volle Name und Titel darunter. Mit diesem Bogen kam man knatternd im Beichtstuhl an: »Ich habe Fraß und Völlerei getrieben, Trunksucht, ich habe geehebrecht – ich begehrte meines Nächsten Ochs, Esel, Kuh, Frau. Ich habe wider den heiligen Geist gesündigt. Die stumme oder sodomitische Sünde« und so weiter. Der Pfarrer war sprachlos, er faltete dann, – nein, er rang die Hände – und schrie seine Absolution hastig heraus, um nichts mehr zu hören. Auf dem Kirchenheimweg ist dann das Dokument verloren gegangen – und kam nach acht Tagen durch die Post eingeschrieben mit Entrüstungen und Schimpfworten zurück. Acht Tage war es die Freude der Gegend und ihre sittliche Empörung gewesen. Dann gaben wir nichts Schriftliches solcher Art mehr von uns. Nach der ersten Kommunion ging ich umher, wie in einem Banne; Geister stritten in mir – wunderliche. Wir hatten nach Vorschrift alle im Hause demütig ob unserer Sünden um Verzeihung gebeten. Wir waren schneeweiß – innerlich. Ich sagte mir: Der Christ in mir, das muß jetzt so sein, daß ich überhaupt gar nicht sündigen kann. Nicht kann! Wenn ich auch wollte. Der Gedanke verfolgte mich. Ich machte die Probe. Da waren rückwärts am Schloß, auf den winzigen krummen Zwerglbäumen, die großen edlen Spalierbirnen. Ich nahm mir vor, eine zu stehlen. Es war die größte der Versuchungen. Ich schlich mich hin, einmal, zweimal. Ich verharrte lange geduckt. Ich streckte die Hand aus. Sie fiel jedesmal herab. Sie wurde steif – sie konnte nichts halten. Ich rannte davon, von Grauen und Entzücken erfüllt. Es war, als klinge es hinter mir: Dein Glaube hat dir geholfen. – Ich erzählte es niemanden.

Einmal, da wurde ein wahrhaftes Verbrechen begangen; beim Lotto hatte einer von uns falsch gespielt, Nummern zugedeckt, die gar nicht heraus gekommen waren. Ich entsinne mich des größten Strafgerichts meiner Kindheit, bei dem der Vater hervortrat, wie wir ihn nie gesehn. Zum ersten Male dröhnte an unsere Ohren das Wort vom Ehrenstandpunkt, von Rechtlichkeit und Ehrbegriffen. Wir zitterten vor diesem blaß gewordenen, ehern strengen Soldatengesicht, gänzlich fassungslos. Ein Gang nach Kanossa, zum Pfarrer in private Beichte, wurde angetreten. Schlotternd angetreten. Unter Ekel und Verachtung im Hause.

Der Pfarrer aber hat es gnädig gemacht, er fand in der Sache keine Beleidigung Gottes. Da beichtete mein Bruder noch schnell: »Und geflucht hab' ich auch dreimal.« – »Was hast denn gesagt, Graferl?« – »Einmal sakra divi domini, und zweimal Hol dich der Teufel! Er hat's aber nicht getan.« Das war ernster, – es ging nicht ab ohne Buße. Gründlich gesäubert kam der Sünder heim. Nur des Vaters sonst so liebevoller Blick trübte sich noch lange, wenn er die Kinder streifte. Er war von einer fast furchtbaren Ehren- und Gewissenhaftigkeit.

*

Gouvernanten.

Ich lehne unbedingt die Gouvernanten ab, die das Schicksal über uns hereinbrechen ließ. Das Fräulein Lina mit dem frommen Getue, der heimlichen Weltgier, dem bayerischen Französisch, dessentwegen sie plötzlich einmal flog. Sie sagte: »Un chateau où il crache« – für: ein Schloß, in dem es spukt. Dann die Pariser Mademoiselle, von der wir geläufig verkniffene Bosheit und guten Akzent, sowie keinerlei deutsche Geographie lernten. Dafür gab sie uns deutsche Geschichte, die eine andauernde schwere Volksbeleidigung war. Diese Mademoiselle färbte ab, war zaundürr, mit schwarzen Zähnen, sie schnürte sich furchtbar. Mein Bruder erklärte, er würde sie nie heiraten, er heirate überhaupt die Marie, des Hauses guten Geist und Bewahrerin, die Kammerfrau der Mama. Die Mademoiselle legte abends Teile ihres Körpers von sich, die wir ihr versteckten. Da mußte sie im Bett bleiben und hatte Migräne. Wieder genesen, gab sie uns schreckliche Ohrfeigen und zwickte auch. Sie ist abgeblüht, nach sechs Monaten. Nach ihr kam eine Signorina aus Mailand, mit guten Tagen und bösen Tagen. Manchmal war sie sehr nett, und wir taten, was wir nur wollten. Manchmal bekam sie ein »wildes 'eimweh« und »ihre Temperaments«. Davon entwickelten sich bei uns blutrünstige Ohren, sie schlug uns Milchzähne aus, so daß der Zahnarzt erspart blieb. Aber das kam auf, und sie entschwand. Es folgten ihr dann eine adelige Gouvernante von großer Feinheit, die sich ihres Berufes schämte und ihn nur inkognito ausüben wollte. Sie war bereit, mit Hunden den ganzen Tag an den belebtesten Stätten herumzuschweben, Kinder aber wollte sie nur in der Dämmerung ausführen. Wir liebten sie heftig, weil sie gar nicht unterrichtete. Ihr » Va jouer« klang wie Musik. Sie verschönte später einem älteren Junggesellen das Dasein; das war wohl richtiger.

Dann erschienen Jungfrauen, welche nicht bleiben konnten, weil keine Offiziere in der Gegend zu sehen waren. Klagend zogen sie wieder ab. Und schließlich kam eine geprüfte, kleine, blasse Deutschösterreicherin aus Beamtenkreisen, die gut unterrichtete, aber nach aristokratischer Ansicht weder savoirfaire, noch Manieren, Tournüre, noch sonstige, notwendige Dinge hatte; sie aß, schlief, ging, saß, sprach alles verkehrt – alles verkehrt! Armes Ding! Schön hatten es österreichische Herrschaftsgouvernanten gar nicht, ihr Menschentum existierte nicht, sie waren nur ein Begriff mit Stundeneinteilung. Solch ein immer auf alles gefaßtes Wesen hielt es lange bei uns aus, ohne uns zu lieben. – Es brachte, als Nachhilfeinstruktor, später einen sommersprossigen Studenten ins Haus – »mein Bruder«. Es war aber kein Bruder, nur ein Vetter. Das ist viel später dann aufgekommen. Da man ihr eben gar nichts erlaubte, half sie sich, 's war im Leben ja immer so, die Kreatur muckt schließlich auf im Menschen! – Noch entsinne ich mich einer Jüdin, die uns monatelang fürchterlich chikaniert und verwahrlost hat; sie hieß wohl, ich weiß es noch, Elise Süeß und trug eine Perücke aus Wollocken, die sie nur Sonntags frisierte. Sie strafte uns auch mit Essenentziehung und verkaufte unsere Frühstückssemmeln an eine Waschfrau, während wir vor Hunger stöhnten. Sie lehrte uns gegenseitigen Haß in kleinen Nörgeleien und raffinierten Bosheiten, immer spielte sie ein Kind hetzend gegen das andere aus. In ihr war eine tiefe Verachtung des Adels, die sich Luft machte, ein unbeschreiblicher Hohn für vornehmes Getue. Ihre belesene Klugheit lockte mich magisch. Sie gab mir Bücher, in der skrupellosesten Weise. Sie sagte: »Du bist g'scheit, werd' eine Bestie. Talente hast du!« Sie mißachtete meine Eltern, denen sie ins Gesicht schmeichelte. Voll Heimlichkeiten glitt sie wachsam durch das damals von vielen Sorgen heimgesuchte Haus, in dem wir ihr ganz überlassen waren. Wir wußten nichts von Rassenunterschieden, Judentum; es gab keine Juden damals in Oberösterreich. Wir fühlten nur instinktiv hier eine andere Blutmischung, eine andere Natur. Moralisch skrupellos, hat sie Aufklärungsversuche unternommen, die an uns vollkommen scheiterten. Wir verstanden sie nicht, und sie verachtete höhnisch eine dekadente Rasse. Etwas von ihr ist für immer in mir zurückgeblieben, ein fremder, drohender Eindruck. Die anderen Kinder haßten sie einfach. Ich fürchtete sie, in einem dunklen Widerstreit der Gefühle.



 << zurück weiter >>