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Erwachen

Langsam weichen die Dämmerungen der Kindertage, aus Enge und Abgeschlossenheit erhebt sich ein Blick zum Licht. Aus der Qual interesselosen Lernens, bei minderwertigen Erzieherinnen, die man nicht respektieren konnte, noch gern haben, erblüht langsam das Recht auf einen wertvoll großzügigen, wirklichen Unterricht. Den verdankte ich meiner Mutter, die ihn anregte, betrieb, für mich suchte. Meinen Trieb zu lernen, begriff sie stark. Die tiefe Melancholie meines Kinderlebens, liebearm und kalt, hat sie wohl nie geahnt. Wir hatten keine Gespielen, keine Freuden. Wie unser Zimmer, war unser Leben sonnenlos. Nur ins Theater durften wir die Woche einmal gehen; und ob das gerade für nervös überreizte Kinder gut war, weiß ich nicht. Jedenfalls lebte ich von einer Theatervorstellung zur anderen mein inneres Leben und las heimlich schon Shakespeare mit einer brennenden Gier, die Geheimnisse des Daseins zu erfahren. Es kamen Jahre schwerer Krankheit – es kam Todesnähe. Durch sie eine gesteigerte, religiös vertiefte Innenwelt. Ich denke zurück an Zeiten leidenschaftlich frommen Empfindens. Unser Religionsunterricht war schablonenhaft. Niemand wies mir die inneren Wege zu starkem, gesunden Religionsempfinden. Da las ich die Geschichte der Reformation. Ein Widerspruch in mir gegen die katholische Kirche setzte damals leise ein. Aber nie verlor ich den Gottesglauben, der wurzelte fest. Ohne ihn wäre kein Bestehen gewesen.

Man rettete mir das Leben, man kann sagen in letzter Stunde. Mir lag nichts daran – ich war so müde. Was die Ärzte an mir und meinem ebenfalls kränklichen Bruder verbrachen, das wäre ein Kapitel für sich. Mit Grauen denke ich an die Folter von Behandlungen, in denen wir die Versuchskaninchen wurden. Aber das Leben war zäh in uns. Als ich zwölf Jahre zählte, starb plötzlich ein ganz kleiner, nur ein paar Monate alter Bruder über Nacht, wohl an Fraisen. Der Jammer meiner Eltern war entsetzlich. Neben dem Zimmer, in dem ich seit vielen Monaten krank lag, war die kleine Leiche aufgebahrt. Und da hörte ich in meinem einsamen Dahinliegen die Worte fallen: »Warum, warum gerade der Bub? Warum nicht eins der Mädeln!« – Das Wort klang fort im Ohr – allezeit.

Mein ganzes Herz wandte sich von den Menschen, von dem Heute ab, dem Gestern zu. Geschichte wurde meine Welt und Dichtung. In Graz hatte Anastasius Grün gelebt, der Graf Auersperg, der große deutsche Freiheitskünder. Sein Palast lag im vornehmen Viertel. Mitten unter indolenten und engherzigen Naturen hatte dieses leuchtende Gestirn seine Strahlen, die Strahlen liberaler Erkenntnis, schöpferischen Denkens in die Welt hinausgesandt. Sein Geist erfüllte die Jugend, seine geharnischten Worte, sein Letzter Ritter waren überall zu hören. Aus dem stumpfen Adel war er gekommen, ein Adler, und emporgestiegen. Die deutsche Stadt der Steiermark hatte ihm ein Denkmal errichtet, an dem wir auf unseren öden Spaziergängen täglich vorüberzogen. Er blickte auf mich herab, leuchtend und stark, mit Imperatorenaugen. Oft träumte ich von seiner weiten Gestalt. Der Letzte Ritter verließ mich nicht mehr. – Da liegst du vor mir, du stille Vorstadtstraße des Grabens; aus kleinen Herrschaftshäusern, Klöstern und Seminaren mit alten Gärten hinter Mauern warst du zusammengesetzt. Dir nahe träumte die Lieblichkeit des grünen Umlandes, Maria Grün, St. Ulrich, das Zuserthal mit seinen rauschenden Parks, in denen wir lernten und spielten. Stillen Schrittes sah man Mönche, Priester, adelige Leute, Pensionisten, Schüler ihrer Wege gehen. Im nahen Karmeliterinnenkloster lebte im Nonnenkleid des verjagten spanischen Königs, Don Juans Frau Isabella, ihr Sohn Don Carlos, der Kronprätendent, war monatelang in Graz im Hause des Infanten Don Alfonso, in der Körblerstraße, wo ein vollkommen königlich-spanischer Haushalt und etikettevoller Hofhalt durchgeführt wurde. Don Alfonso, ein dunkler schlanker Spanier von großer gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit, gab schöne Feste. Seiner zarten Frau wurden aufregende Grausamkeiten aus den Kriegen andauernd nachgesagt; sie war verhaßt bei allen Studenten der Hochschule. Persönlich strahlte sie einen seltenen Reiz aus. Der ganze Adel – die Gesellschaft oder société, Creme de la Creme, Haute volée, wie sie genannt wurde, scharte sich kritiklos um diese spanischen Emigranten. Das Volk mochte sie nicht. – Ich entsinne mich eines Negerkindes, das die Prinzessin erzog und taufen ließ. Es war sehr häßlich und sehr unbändig, wurde auch stark als Schoßhündchen behandelt, was böses Blut machte. Die kleine Schwarze sollte später einen weißen österreichischen Aristokraten heiraten! Ich weiß nicht, ob sich einer gefunden hat. – Landfremde Politik ging um in diesem Hause. – In Graz lebte Robert Hamerling, der unsterbliche Sänger des Deutschtums, Ahasvers, des Schwanenliedes der Romantik. Kränkelnd und arm, von Beruf früherer Lehrer, bewohnte er dürftige Stuben im dritten Stock eines alten Stadthauses. Aber welcher Geist, welche Seele erfüllte sie! Was loderte an königlichem Dichterglanz und Menschenhöhe aus den Augen dieses kleinen schlanken Mannes im grauen Rock, der weltverloren durch die Straßen ging. In Graz lebte Peter Rosegger, der Künder der österreichischen Volksseele. Das stärkste Talent, eine Eigenart, in Deutschland längst anerkannt, als Österreich noch sehr zögerte, ihn zu würdigen. In seinem » Heimgarten«, der Zeitschrift, die heute sein Sohn weiterführt, blühte das Beste österreichischer Dichtkunst. Ernst und echter Humor gaben sich da die Hand. Der » Gottsucher« und die » Schriften des Waldschulmeisters« wurden mir zu Erlebnissen. Große Verdienste um das Werden des Waldbauernbuben Rosegger erwarben sich zwei Häuser, die Industriellen Reininghaus und Leykam, der Verleger der Grazer Tagespost, ein Mann voll Kunstsinn und Verständnis für Talente. Überhaupt war damals die Stadt geistig überaus rege. Davon freilich merkte man nichts in den adeligen Kreisen. Im sogenannten »adeligen Kasino« wußte man von solchen Dingen nichts. –

Weißt du o Mensch, gewöhnlicher Sterblicher, was das ist, Koterie? Soll ich dir das Rezept verraten? – Mache in der großen Schüssel Leben, ein sorgsam durch das Drahtverhau der Vorurteile und gewollten Blindheiten abgegrenztes, mit allem Komfort ausgestattetes Winkelchen zurecht. Darin verrühre ein auserlesenes Häufchen Borniertheit, Stumpfsinn und Hochmut, mit selbstgefälligen Albernheiten. Blähe sie gut auf, gib ihnen die leicht verzuckerte Kruste einer Phalanx nach außen, an der man sich die Zähne ausbeißt; im Innern bleibt diese Masse reichlich säuerlich. Die Bestandteile scheinen wohl vereinigt, aber in Wirklichkeit bleibt doch jedes für sich, um nur im gegebenen Moment den Teil der Masse zu bilden. Koterie ist Gewaltherrschaft in der Potenz, ist unbelehrbare Selbstüberhebung, ist Vertuschungsmanie, eigene Gesetzgebung, Unbarmherzigkeit bis aufs Äußerste. Koterie ist Gutheißen der eigenen Sünden; ist das kleine aber starke Faustrecht im Dunkeln. Vom Faustrecht ein schäbiger Rest, blieb sie vor allem dem Provinzadel zurück, als seine letzte Waffe. Sie ist nicht Sippe und sie ist nicht Klüngel. Das klingt zu bürgerlich, es schmeckt nach Arbeit und etwas Gedankenwelt. Die Koterie aber ist eine leermahlende Mühle, eine Geste mit Geschrei und Geklapper. Ich muß es sagen, in Graz dominierte diese Art Koterie. Über der bürgerlichen Resource, dem Kaufmannkasino, den vornehmen und anregenden Professorenkreisen, der Künstlerwelt, von der nur die hübschen Schauspielerinnen hier und da in die Oberschicht hineinschimmern durften, stand das adelige Kasino, in dem die Impertinenzen blühten, die Boykotts nicht alle wurden, die kleinen linksseitigen Liebesaffairen interessiert bewispert wurden. In dem man die bürgerlichen Offiziere beleidigte, oder gar nicht hereinließ; wo man überhaupt verpflichtet schien, immer irgend etwas Albernes oder Erstaunliches zu tun, mit Methode. »Habt's schon g'hört, was die in dem Kasino wieder g'macht haben?« war die stehende Redensart auf der Promenade, im Stadtpark, wo, in der großen Seufzer-Allee, zur Elisabethstraße hin, zu bestimmten Stunden die Koterie sichtbar war; immer scharenweise, einzeln wirkte sie nicht. Da sah man die geaichten Lebemänner, mit dem interessant argen Rufe, die, wie man in Österreich für starkes Schnippischsein sagt, »schnablerten« Komtessen, mit dem frechen Mundwerk und der feschen Wienerlinie, der dünnen Taille, im Komtessenschamper, dem englischen Haarknoten, der chiken Einfachheit; flotte Dinger, oft sehr hübsch, in der hohen Schule des Sacré Coeur nicht tief gebildet, aber zu außerordentlicher Weltlichkeit erzogen. Die jungen Herrn, die nicht albern genug tun konnten. Nichts wissen, nichts denken, sich für nichts interessieren war ihr höchster Schick. Schöne, gelangweilte Frauen mit ältlichen Verehrern und sklavisch ergebenen oder schlecht gelaunten Gatten von düsterer Hilflosigkeit sah man. »Wanns nur nix anstellt, die Lisi, die Tontschi. Ich trau ihr halt amal nicht. Wanns nur nix anstellt!« Da sah man die wenigen guten Partien dieser société an den Müttern angstvoll vorüberschleichen, die eine unerbittliche Jagd auf diese Beutestücke durchführten. Da hielt der literarisch maßgebende Graf seine Reden und gab den Ukas aus, wie man über ein Theaterstück zu urteilen habe oder über ein Buch, – wenn man einmal eines las. Uniformen, – nur Kavallerie natürlich, schimmerten um die jungen Mädchen, Vettern zumeist. Im allgemeinen war das Militär durchaus nicht in diesen Kreisen als salon- und gesellschaftsfähig angesehen, das kam von der zu wenig eng gezogenen Beschränkung der Eheschließungsbedingungen für das bunte Tuch in Österreich. »Unsere Damen« – die sogenannten Damen vom Kommiß, wiesen so vielerlei Buntes auf, daß sie unter sich bleiben mußten. An der Spitze der vornehmen Pensionisten, oft sehr schönen alten Herren der Armee stand in Graz der Mann, der sich selber den Retter von Tirol nannte, auch einer aus Benedeks Zeit, der Feldzeugmeister Freiherr von Khun. Er war eine prächtige Erscheinung, von seinem eigenen Ich gänzlich hingenommen, in Selbstüberschätzung ertränkt, aber kein uninteressanter Typ, aus dem vielleicht deutsche Schulung etwas wirklich Bedeutendes gemacht hätte. Der Mensch der unverhofften, schrankenlosen Grobheit, hatte er sich eine Spezialität zurecht gelegt. Trotz starken Strebertums brüskierte er prinzipiell äußerlich die Höchststehenden, vor allem Erzherzöge, junge Prinzen. Ich entsinne mich meines ersten Balles, den die Stadt Graz dem Kronprinzenpaare gab, in den Oktobertagen vor Rudolfs Tod. Er war ein großes Ereignis, der ganze steirische Adel hatte sich eingefunden. Kronprinz und Prinzessin hielten getrennt Cercle. Die Zerrüttung ihrer Ehe, allen offensichtlich, trübte die Festtage. Auf dem Ball erschien der Kronprinz in Ulanenuniform mit Sporen, und Khun fuhr ihn tatsächlich formlos an: »Man kommt nicht mit Sporen auf den Ball, Kaiserliche Hoheit.« Auf so etwas war er stolz, er tat es gerne. Und dennoch, als Soldat von manchen Verdiensten und Talenten, in der entscheidenden Stunde hat er das Rückgrat eines Benedek niemals besessen.

Als meine Eltern nach Graz zogen, hatten sie naturgemäß Beziehungen zu diesen ersten Kreisen – der Koterie. Sie machten ihre Besuche. Als Seniorin, an der Spitze der adeligen Damen stand damals noch kurze Zeit die einst berühmte und besungene Gräfin Anna Meran, die Gattin des populärsten aller Erzherzöge, Johann, sie war eines Posthalters Tochter, ein einfaches Landkind. Dieser Erzherzog, der Liebling der Steirer, eine wahrhaft volkstümliche, mit allen Reizen guten Österreichertums geschmückte Gestalt, hatte seine Ehe mit dem Landmädchen durchgesetzt. Sie residierte inmitten einer sehr habsburgisch wirkenden Kinderschar in Graz, in einem alten Palast ohne Glanz. Es ist belustigend und erstaunlich gewesen, wie diese kleine, wenig reizvolle, nur oberflächlich gebildete Frau, ganz allein sich ihre dominierende Stellung machte, die Selbstüberheblichkeit und Intriguensucht all dieser Sternkreuzordens-, Palast- und Hofdamen, dieser hochmütigen Ungarinnen und blaublütigen Böhminnen zum Schweigen bringend. Da waren ihr die Lamberg, Erdödys, Platers, Bathyanis, Marenzys, Szechenys, die Herbersteine, Spaur, Kinsky, Szapary, die Deym, Colaltos, Harrach, Hodiz, Hoyos, Gemmingen, Stollbergs und Arcos, waren ihr sogar diese vielen päpstlichen Contessas, die sich so gern richtige Gräfinnen nannten, diese hochnäsigen Baroninnen und Ritterinnen von Typen der österreichischen kleinen Noblesse entgegengetreten; und wandte ihr hoher Gemahl den Rücken, dann ging es los mit kleinen scharfen Perfidien, Zurücksetzungen, Bosheiten. Man sieht, ich kann aus diesem Adel nicht viel deutsche Namen nennen. Und war er deutsch anzuhören, wie Wurmbrand, Attems, und andere, dann zeigte sich da doch kein echtes Deutschtum des Wesens. Das Typische des österreichischen Adels, die Verfremdung, waltete hier noch ganz anders als in Linz. – Die Gräfin Anna Meran machte sich ihre Stellung, mit einem kleinen, stillen Lächeln, das sie nie verließ, ohne scharfe Worte, kaum jemals ihren Gemahl als letzte Instanz anrufend. Es war in diesem klugen und guten Kinde aus dem Volke eine Charakterstärke und humorvolle Frische, eine Gesundheit der Seele, gegen die Geschlechter der Inzucht nicht aufkamen. Sie war nie beleidigt, überhaupt nicht zu beleidigen. Als bei einem Besuch, den der Kaiser der Stadt abstattete, eine Damendeputation zum Erzherzog ging, um ihn heuchlerisch zu fragen, wo denn beim Empfang die Gräfin von Meran eigentlich ihren Platz haben solle, da sagte er lächelnd: »Meine lieben Damen, das ist ganz gleich; ihr könnt's die Frau Gräfin Meran hinsetzen, wo ihr wollt. Wo sie sitzt, da ist immer der erste Platz!«

Die alte Frau war durch und durch ein deutsches Kind des Landes, ebenso auch der Jägersmann Johann, der die Berge geliebt hat, mit einer heiligen Liebe, der des Volkes Sprache redete, sein Wesen verstand. Ein Fremder am Wiener Hof, dem man mißtraute, war er einer der ganz wenigen als Menschen glücklichen Erzherzöge. Von seinen Kindern aber ist nichts besonderes zu erwähnen als mancherlei Dekadenz in absteigenden Linien, ein Versanden. –

Die vornehme Schönheit meiner Mutter machte auch in Graz Aufsehen, ihr unbekümmertes Wesen, ihr rasches schroffes Urteil verletzten bald Leute, die von ihr ein Werben um vollwertige Aufnahme in ihre Kreise erwarteten. Dazu war sie nicht imstande. Selber einwandfrei, in hochmütig kühler Tugend, die sie nichts kostete, spottete sie der Schwächeren. Und die alte Einsamkeit entstand um sie; unermüdlich klang von Linz herüber der Hetzruf. So glitten die Eltern bald nach einer stürmischen Saison in ein stilles Dasein, das immerhin für eine Frau weit gesünder war, als das Welttreiben im Kleinen. Weite Spaziergänge und Fahrten, Lesen, Theaterbesuch füllten die Tage meiner Mutter aus; sie schuf sich auch Freunde in anderen Kreisen. In den sogenannten Exzellenzkreisen der vornehmen Pensionisten wurde fleißig und aufgeregt Whist gespielt; diese besuchte mein Vater gerne.

Wir liegen abends schon früh im Bett, nach der dünnen Suppe mit leerem Magen, am Tisch brütet mürrisch die Erzieherin über einem Buch. Wir haben Hunger und unter dem Kopfkissen einen Sack mit Kletzen, Dörrobst, Holzrinden, rohen Rüben und so weiter, was sich gerade, fand. Dazu verstecke ich einen Band Dumas » Les trois musquetaires«, in dem verschiedene Seiten zugeklebt sind, die von unpassender Liebe handeln. Es ist unsagbar interessant, daß Liebe unpassend sein kann, wie ist es wohl, dieses Unpassende? – Herein rauscht, in Abendtoilette, die damals etwas gleich sah an einer Frau, eine Fee, in Seide, mit Blumen und Spitzen, der bescheiden, meistens seufzend, ein Herr im Frack folgt. Die Eltern sind es. Sie gehen in Soirée. Die Equipage, die, mit vielen Opfern, aus Standesbewußtsein gehalten wurde, fährt gleich vor. Wir starren aus den Kissen auf die Lichterscheinung, die strenge fragt, ob wir die Flüsse Ostasiens endlich gekonnt haben. Wir konnten sie wieder nicht. Eine Drohung, kein Kuß, ein kühles: » bonne nuit, dormez tout de suite.« Papas liebe Hand winkt tröstend – fort sind sie. Das Schwesterchen – Papas Stütze, weil sie von uns die einzig Gesunde ist, ruft keck nach: »was mitbringen! Zuckerln!«

Die Mademoiselle brummt mürrisch: » Taisez-vous.« Sie geht dann gleich weg, sobald die Eltern fort sind, löscht das Licht – geht. Manchmal kommt dann die Marie geschlichen, die unsere Kleider schauderhaft näht, und auch die Mamas immer viel zu bunt und modern macht, die das Haus führt, alles weiß, alles kann. Sie tratscht – ja. Aber wir lieben sie leidenschaftlich. Sie bleibt der einzige Mittler zu den Eltern. Ihr kleines Zimmer ist unsere heimliche Sammelstätte, – das Paradies. Die Marie steckt uns jedem eine Kartoffelnudel in die Faust, hetzt ein Bißchen gegen die Gouvernante, konstatiert, wer viel lernt, wird immer dümmer, lacht hell auf, sagt, sie wisse etwas von uns, das wird sie morgen beim Frisieren der Mama sagen. O, mein Gott! Wenn die Marie die Mama frisiert, das ist wie eine Geheimaudienz beim Kaiser, oder eine Plenargerichtssitzung. Dann gibt sie uns einen netten Klaps, mein Bruder brüllt ihr nach: »Dich werd' ich bestimmt heiraten, bring noch eine Kartoffelnudel!«

Weg ist sie. Wir liegen noch stundenlang wach, kauen an dem entsetzlichen Zeug, das wir geklaut und gesammelt haben; ich spinne Romane, mein Bruder Räubergeschichten. Wir sind einsame – einsame Kinder mit heißen Köpfen, überreizt, lebenlechzend. Und die Kindheit bleibt leer. Nicht durch bösen Willen. Nein, aber leer. –

Die Sonderstellung meiner Eltern ist auch hier wieder geschaffen. Sie treten aus dem Kasino aus, nichts bereitet sich vor für uns, sie bauen nicht auf für die Kinder. Wir werden adelige Jugend sein, die nirgends hingehört. Mein Bruder besucht das Gymnasium. Aus Angst um seine Gesundheit läßt man ihn in der Equipage hinfahren, was ihn bei Mitschülern und Professoren unmöglich macht. Spott hagelt auf ihn nieder, bis er schließlich selber den Wagen zu besteigen verweigert. Der kleingewachsene, brünette Junge mit dem edelgeschnittenen Herrenköpfchen, den dunkeln Augen, ist über Durchschnitt begabt. Nur in Mathematik und Mineralogie versagt er. Die Provinzgymnasien waren damals rückständig; sie wurden durchaus willkürlich geführt. Unter den Professoren waren strenge Geistliche, die nur auf das Fach »Kirchengeschichte« Wert legten; waren schon Sozialdemokraten, die den Adel verachteten. Monatlich mußte zu den Klassenvorständen, den einzelnen Professoren gegangen werden, um dem Studiengang nachzufragen. Das war eine wahre Qual. Sie ließen warten, grüßten kaum, musterten höhnisch die Mutter, gaben dem Vater rüde Worte: »Lassen's ihn Schuster werden, ihren Buben, er kann nichts, er macht nichts; er wird nichts!«

Wenige haben ein Herz gezeigt für ihre Schüler, kaum welche irgend ein Interesse. Es war eine zu tiefe Verbitterung im Lehrerstande Österreichs, der, darbend und geistig geknechtet, weder Konfessions- noch irgend eine Bewegungsfreiheit besaß. Das unpersönlich ablehnende Wesen unserer Lehrer ist die Tragödie mancher Jugend geworden. Trotz aller Phrasen waren diese Schulen undeutsch geführt. Viele Slaven hatten da zu befehlen. Aufrechte deutsche Art setzte sich nicht durch. Das spukte sogar an der Universität, die stark von Italienern, Polen und Slowenen besucht, trotzdem aber von mannhaften deutschen Gelehrten und deutschen Studenten im rechten Geiste erhalten wurde. Nicht ohne viele Zusammenstöße und ernste Kämpfe. Ich habe in jener Zeit bei den Nachhilfestunden viel mit meinem Bruder gelernt, den auch die Gouvernante privat noch teilweise unterrichtete, wir lernten den ganzen Tag. Ich hatte ihn lieb und er mich; dichterische Sehnsucht war uns gemeinsam. Ich schrieb schon längst. Er wußte darum, ihm las ich vor. Er aber, musikalisch erstaunlich begabt, wollte komponieren. Kinderträume! Sie verbanden uns. –

Viel Kranksein ist oft dazwischen herumgeschlichen, das brachten die sonnenlosen Zimmer, die Überanstrengung, die Verwöhnung und Sportlosigkeit, das zu kraftlose, medizinisch genau vorgeschriebene Essen. Das brachte der Mangel an Kinderlust und Sorglosigkeit. Schon wußten wir alle Sorgen, alle Zwiespalte des Lebens der Erwachsenen. Achtlos redete man sich vor uns Dinge vom Herzen, schuf uns ein Welt- und Menschheitsbild, in vielen Verzerrungen. Mein Vater erlebte den Kummer der falschen Ehrbegriffe und Gesellschaftsmoral mit ihren Folgen bei den Seinen. Er litt schwer unter dem Abgetrenntsein vom eigenen Stamm. Vom Sehen und Hören kannten wir schon als Kinder viele Menschen in der Stadt. Manchmal sprachen uns Leute an. Blicke streiften die Salburgischen Kinder, diese blassen, erzogenen, unterrichteten, warm angezogenen Kleinen, die immer nur den einen Spaziergang machen durften. Von zwei bis drei die Seufzer-Allee entlang. Und plötzlich war die gouvernantenvolle, die schreckliche Zeit zu Ende. Ich habe eine Intrige gesponnen im gegebenen Moment, den meine Klugheit herausfand, eine richtig gehende Intrige, um die Frauenzimmer, die statt etwas zu sein, immer nur so taten – endgültig loszuwerden. Es zog ab: das adelige Fräulein, dem ich täglich sechsmal mit Reverence die Hand schütteln mußte, um ihm zu betonen, wir sind gleichgestellt. Durch seine fadendünnen Seidengewänder hatten Sonne und Mond auf krumme Beine unadeligen Formates geschienen, an denen sie Strumpfhülsen trug, ohne Fuß. Ab zog die schon erwähnte Komtesse, die auch als Erzieherin auftrat, aber sich mit uns nicht zeigen wollte; und die alte Madame, die mich mit ihrem Sohn zu verloben wünschte. Ich sollte ihm Briefe schreiben. Sie sagte: »dann müssen ihre Eltern es erlauben, Komtesse!« – Es kamen nunmehr Lehrkräfte und Promeneusen, jene so österreichischen, wahrhaft armseligen und schauervollen Wesen, die adelige Mädchen behüten, spazieren führen, irgendwo hinbringen, abholen, neben dem Eisplatz frieren – auf dem Balle schwitzen; um eine Krone für den Nachmittag und Eichelkaffee. Und – es kam der Unterricht wirklicher Lehrer, für mich. Ich wuchs gewaltig heran. Mein Streben kannte keine Grenzen.



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