Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das achtunddreißigste Kapitel

Guten Morgen, Miß Eddish! und du, du gehst auf der Stelle mit mir, Ferdinand!« kreischte die Baronin Lucie von Rippgen aus dem vollkommensten Starrkrampf zu empörtester Lebendigkeit und dem vollen Bewußtsein dessen, was ihrer Frauenwürde angemessen war, aufwachend. Einkneifend packte sie den Gemahl am Oberarm, entriß ihm eine schnell unterdrückte Wehklage und fuhr mit ihm ab, wie eine Hexe mit einem geraubten Kinde. Master Christopher Sliddereddisch im dumpfen Gefühl, daß durch seine plötzliche Abberufung vom Spielplatze des Doktor Dachreiter irgendeine Schraube im sozialen Wesen bedenklich gelockert worden sei, fing jetzt an, den Mund nach beiden Ohren hinzuziehen und leise zu heulen; der französische Tanzlehrer der weitberühmten Frankfurter internationalen Erziehungsanstalt, Mr. Faustin, aber sah mit immer größeren Augen auf Miß Christabel Eddish.

Das alles ließ sich sagen, schildern, beschreiben, niederschreiben; aber die Augen, mit welchen jetzt Christoph Pechlin auf Miß Christabel sah, die können vielleicht vorgestellt oder gedacht, doch sicherlich nicht durch Wort oder Bild wiedergegeben werden. Trotzdem sie alles sagten, ermangelten sie während längerer Minuten so vollständig eines bestimmten, eines bestimmbaren Ausdruckes, daß, wenn einmal die Welt und damit die Weltgeschichte ein Ende nehmen sollte, der letzte Mensch nur mit einem solchen Ausdrucke in den Augen in den Brei und die niederrollende ewige Finsternis hineinsehen wird. Seiner hier sehr berechtigten Stammeseigentümlichkeit zufolge hätte er, Pechle, nunmehr:
    »Grüß Gott, Miß Christabel!«
sagen müssen; aber dazu war er nicht imstande. Er brachte es fürs erste selbst nicht einmal zu dem »guten Morgen!« der übrigen, sondern stand und verglich, sah von der Verlobten auf den Master Christopher, den internationalen Taufnamensvetter, und vice versa, und fing endlich an, mit einem Schimmer rückkehrender Besinnung auf den Professeur Herrn Faustin von Sankt Veit zu blicken, der allmählich begonnen hatte, einen, sowohl seiner Kunst wie seines Namens würdigen Tanz zwischen dem Master Christopher Sliddereddisch und der Miß Christabel Eddish aufzuführen.

Mr. Faustin tanzte und stieß Töne aus, und nachdem er in der verworrensten Gestikulation und Artikulation seinen Gefühlen Luft gemacht hatte, wurde er mit einem Male sehr klar, sowohl sich, wie der nun zum ersten Mal in eine wirkliche und wahrhaftige Ohnmacht sinkenden Miß Christabel.

»Mon dieu! Elle et lui! Sie und er! Ich und sie! oh mon dieu, mon dieu! . . . Mais ma chère, mon coeur – oh la perfide! la traitresse! la diablesse! Hab ick nix ketraut meine Aug von die Fenster aus, wegen ma vue bornée, ma vue courte, meine Kurzgesickkikkeit, so trau ik sie jetzt. Oh ma mie, ma chère amie, mon poulet, mon chat, ma divine – ma déesse – mon pauvre joli petit chat –«

Mr. Faustin war noch lange nicht fertig; aber wohl Herr Christoph Pechle. Wenn dem letzten Menschen hinter der untergehenden Welt eine neue und noch viel sonderbarere auftauchte, so würde dieser schon beregte letzte Mensch wahrscheinlich auf dieselbe gerade so sehen, wie der Exstiftler jetzt auf Monsieur de St. Vit blickte. Nachdem das erste Erstaunen überwunden war, schritt er ganz vertraulich auf den Tanzmeister zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte:

»Ja, Herr,– Sie – höre Sie, wenn das so ischt, so sage Se mer wenigstens an, wo an Sie de Bekanntschaft des Fräuleins g'macht habe. Von dene andere Herrschafte weiß i's so ziemlich oder kann's mir denke; aber dies wäre mir wirklich no interessant zu erfahre.«

»Mon cher Monsieur, wenn Sie mir hab gesackt, in welches Verhältnis Sie selber zu Mademoiselle –«

»Stehen!« schloß der Exstiftler donnernd. »O freilich! Ja gewiß! Mit Vergnügen, Herr! . . . Ich hatte die feste Absicht – Mademoiselle zu meiner Frau zu machen! O Tumboffski! . . . Tumboffski!«

»Touchez-y! touchez-là!« fistulierte Monsieur Faustin, wie im hellen Entzücken von einem Fuße auf den anderen hüpfend und dem betäubten Pechle beide Hände zum freundlich-freundschaftlichen Dreinschlagen offen darstreckend. »Grad wie ick! Oh, monsieur, da sind wir wie Gebrüder – wie Milch- und Blutsgebrüder! War nicht Mademoiselle l'écolière la plus formée – la plus jolie fille – la plus vivace im Institut von Madame de L'ermitage zu Liège, in Lüttich?! War ich nicht maître de danse dort, und haben wir nicht ausgeführt zur fête d'école zur Weihnacht, unter der Aufsicht von Madame und von den lieben Eltern das groß mimisch Ballett la Pucelle d'Orléans, die Jungfrau von Orleans? O mon coeur, mon ange, ma Christabelle . . .«

»Oui!« sagte Christoph Pechlin gebrochen und schüttelte matt den Kopf: »Es ist wahrhaftig, als hätte man in Schlossers oder Rottecks Welthistorie die ganze englische Geschichte von Anfang bis zum Ende vor sich! Grundgütiger Himmel, es fehlt bloß noch ein Vertreter von Nordamerika und Hinterindien; – nachher haben wir alles beieinander!«

Er hatte das in seiner Wehmut wie so manches andere im Verlaufe dieses Berichtes im schönsten Hochdeutsch gesprochen, doch mit der Leidenschaft kam auch der angeborene Dialekt in ursprünglichster Frische in ihm zurück. In übersprudelnder Wut sich an die Verlobte wendend, schrie er:

»Na, höre Se, dees hätte Se au eher sage könne! Grüeß G– guten Morge!«

Wie halb blind und ganz betrunken tastete er sich gegen die Tür hin, stieß mit dem Haupte dagegen, ehe er den Griff fand, fand ihn endlich und stürzte hinaus aus der Pforte, sie aber dergestalt hinter sich zuschlagend, daß das Haus in seinen Grundfesten wankte, der Doktor Dachreiter im Korridor in die Kniee fuhr, und Master Christopher Sliddereddisch sein leises Heulen in ein durchdringendes Zetergeschrei übergehen ließ. –

Der Doktor Dachreiter schien sich während der eben geschilderten Vorgänge und Auseinandersetzungen im Korridor aufgehalten zu haben. Der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, seine Lippen zuckten, seine Kniee wankten unter ihm, als er sich jetzt seinem Studierzimmer näher schob, und fürs erste einmal das Ohr an die Tür legte.

Zuerst vernahm er nichts; sodann ein undeutliches Gesumm, aus welchem schrillere Töne – Ausrufe, wie Raketen sich erhoben, und in dem Moment, in welchem er sich soweit gefaßt zu haben glaubte, um die Tür öffnen und sich selbst wieder zeigen zu können, hörte er einen gell-klatschenden Ton, und unmittelbar mit ihm die Worte: »Mille tonnerres!« Miß Christabel Eddish hatte abermals eine Ohrfeige ausgeteilt – gottlob die letzte in dieser wahrhaftigen, internationalen, ungemein geschichtsphilosophisch auf der Basis der allgemeinsten Menschenliebe sich abspielenden Geschichte! –

Sie teilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus;

wie der große Landsmann Pechles von seinem Mädchen aus der Fremde singt; aber mit ihren Früchten war unser Mädchen aus der Fremde, wie gesagt, nunmehr zu Ende. Nur noch eine Blume hatte Miß Christabel zu vergeben, und diese bekam im natürlichen Verlaufe der Dinge der Vorsteher von Frankfurts berühmtestem internationalen Knaben-Erziehungsinstitut, der durch die Vorgänge des Morgens wahrlich schon genug aus aller Fassung gebrachte Dr. Otto Dachreiter.

»There, you nauseaous german fool, you are welcome to all, what you have got! Da, Sie widerlicher deutscher Dummkopf, behalten Sie ganz ruhig und ungestört alles, was man Ihnen aufgeladen hat!« kreischte Miß Christabel, an ihm vorüber und die Treppe des Hauses hinunterrauschend, und der gelehrte Pädagog stand längere Zeit und starrte stumm, doch geöffneten Redeorgans, ihr nach und gebrauchte verschiedene Male sein Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocknen, ehe es ihm möglich war, sein Studierzimmer von neuem zu beschreiten. Drinnen verzierte Master Christopher die langgehaltenen Töne seines nicht unmotivierten Gesanges mit immer geschmackvolleren Kadenzen, und Mr. Faustin hüpfte noch immer umher, die Hände in den Lüften hin und wider werfend:

»Oh mon dieu, mon dieu, quelle aventure!«

Mit vor dem Unterleibe matt ineinander gelegten Händen stand der Doktor Dachreiter und betrachtete sich seinen interessantesten Zögling. Er sah ihn heute in einem ganz andern Lichte als gestern. –

Und nun durch das Eschenheimer Tor zurück, im wildesten Lauf durch die Eschenheimer Gasse über den Paradeplatz, den Roßmarkt, durch die große Gallengasse zum Taunustor hinaus nach dem Main-Neckar-Bahnhof! Hinein in den Schnellzug und nach Haus, nach Haus, nach Haus! Mit dem Kopfe gegen die Wand – durch die Wand womöglich! nicht wahr? . . .

Ganz und gar nicht! Langsam, Schritt vor Schritt, und jedesmal den Fuß fest aufsetzend, die Hände auf dem Rücken, niemandem ausweichend, ging Pechle – Herr Christoph Pechlin nach dem Main-Neckarbahnhof, fuhr ab nach Stuttgart, kam an, verschloß seine Tür hinter sich und dachte ein Vierteljahr lang nach über sich und über der Welt Lauf und Verhängnis.

»Unsterblich blamiert!« sagte er. »Sich den Hals abzuschneiden, wäre dumm; – sich zu ersäufen, wäre dümmer; – sich zu erschießen, wäre am dümmsten, und nach Amerika durchzubrennen, mir – ungeschickt. O ihr unsterblichen Götter, wenn man doch dieser Bestie von Welt imponieren könnte!«

Ein volles Vierteljahr hindurch zerrieb sich hinter niedergelassenen Vorhängen, eingehüllt in undurchdringlichstes Tabaksgewölk, der Exstiftler und Exbräutigam Christoph Pechle die Stirn über die Frage, wie es sich eben am geschicktesten machen lassen werde, um die Welt und – sich selber in ein diesmal bewunderndes Erstaunen zu setzen. Es gab allerlei, was man versuchen konnte, zum Beispiel ein Trauerspiel zu schreiben, oder die schwäbische Republik zu gründen und sie als dreiundzwanzigsten Kanton an die schweizerische anzuhängen, oder dergleichen glorreiche Unterfangungen. Der melancholische Einsiedler machte wirklich den Plan zu einer Tragödie und schrieb, dem Hohenasperg zum Trotz, die Grundzüge einer Verfassung des Kantons Württemberg nieder: beides beschäftigte ihn angenehm zerstreuend bis Weihnachten; um Weihnachten fing er wieder an, die Maultrommel zu schlagen und konnte als gerettet angesehen werden: sich selber hatte er bereits von neuem imponiert. –

Aber zu Ostern! – zu Ostern imponierte er der Welt und zeigte sich wirklich als den einzigen anständigen Charakter »unter der ganzen Bande«. Zwischen Neujahr und Ostern schrieb nämlich der Doktor Dachreiter, die Erziehungsgelder, welche der englische Hauptmann Sir Hugh Sliddery ausgeworfen habe, seien mit dem Jahre zu Ende gegangen und neue Wechsel nicht eingelaufen. Was die Miß betreffe, so habe die aus New York und zwar sehr scharf und abweisend geschrieben, und auf die höflichste Anfrage nur erwidert, sie sowohl, wie ihr Gatte, der Reverend Mr. Snoddery verbitte sich alle ferneren impertinenten Mitteilungen und Anforderungen, übrigens gehe sie mit dem Reverend Mr. Snoddery nach Neu-Süd-Wales zur Bekehrung der dortigen Eingeborenen und werde Briefe mit dem Poststempel Frankfurt am Main im traulichen Heim des Reverends, ihres geliebten Gatten, nicht weiter annehmen. – Der Doktor Otto Dachreiter wunderte sich in seinem Briefe über diesen Brief der Miß und teilte ferner mit, daß er sich mit demselben an seinen Freund den Doctor juris Schmolke gewendet habe, und daß dieser die Erklärung abgegeben habe, er – Schmolke, werde sein Möglichstes tun, den Master Chrisiopher Sliddereddisch in eine Frankfurter Waisenanstalt aufnehmen zu lassen und dann den Versuch zu machen, von neuem auf Miß Christabel Eddish einzuwirken; was den Kapitän anbetreffe, so sei der auf dem Überlandwege nach Indien entwichen und schwer fürs erste mit einer Alimentationsklage zu erreichen. Übrigens werde er wohl, nachdem er irgendwo endlich ausgeschwitzt habe, wieder auftauchen, und werde er, Schmolke, dann sofort ihn, seine Gefühle und seinen Geldbeutel anzubohren suchen.

»Quid nunc? was nun?« fragte der Doktor Dachreiter am Schlusse seines Schreibens, und wer sich als ein Mann und Held erwies, war Christoph Pechlin. Fürs erste warf er den Brief des Pädagogen unter den Tisch und griff einen andern auf, der mit dem Frankfurter gekommen war, und zwar aus Dresden. Er erbrach ihn und las ihn bis zur Hälfte und – warf ihn gleichfalls unter den Tisch.

»Dabei kann doch einem Apotheker übel werden!« brummte er. »Herrgott im Himmel, hat das Weib ihm den Daumennagel auf sein besseres Selbst gedrückt! Wenn ich's da unter dem Stiefelabsatz nicht schriftlich von ihm hätte, – mündlich glaubt' ich's nicht von ihm! O Ferdinand!«

Nachher siegelte er die letzten hundert Gulden von seinem Mütterlichen ein, adressierte sie an den Doktor Dachreiter mit der Notiz: zu Pfingsten komme er selber, – und sagte:

»Daß sich das brave, alte, liebe Frauele ärgern würde, und zwar grimmig, ist sicher; aber seinen Spaß hätt's nachher doch daran; da müßt i's net kenne, – – – gekannt habe!«

Im Schönbuch liegt ein Ort, geheißen Waldenbuch, und zu Waldenbuch in der Post steht ein Tisch, in den sind tausend Namen eingeschnitten, und über diese wieder tausend andere in die Kreuz und Quer, und an diesem Tische saß im neuen Sommer, einige Wochen nach Pfingsten Christoph Pechlin und schlug darauf, nämlich auf den Tisch, und seufzte:

»Hundert Gulden von mir, hundert vom Schmolke und den Rest vom Dachreiter, damit halten wir den Lausbub, das arme, unglückliche, gott- und weltverlassene Lamm fürs erste aus. Was doch alles im Lauf der Jahrtausende an uns Urgermanen und besonders uns Schwabe hänge bleibt, das ischt doch ganz erschtaunlich! . . . Ins Stift tu i ihn net; aber hierher ins alte Nest tu i ihn, zu einem Bauer oder Zimmermann, wann er ausgewachsen ist. Da soll er einhergehen als ein lebendiger Beweis für eines hiesigen Ortes großgewordenen, besonders ausbündigen Esels eingeborene Seelenhoheit. Kommt dir was, Pechle, und pereat – auuh!«

Bei dem Pereat hatte er sich zu größerem Nachdruck ein wenig von der hölzernen Bank erhoben, und sich diesmal doch ein wenig allzu fest auf seine lyrischen Gedichte und zwar auf die Kante derselben gesetzt; – einen neuen »Zyklus« warfen seine letzten Erfahrungen in irdischen Liebessachen nicht ab. Jokkele, sperr!

 


 


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