Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das siebente Kapitel.

Bei München, vor dem Sendlinger Tor, dehnt sich die Theresienwiese. Am Rande der Theresienwiese liegt die bayerische Ruhmeshalle. Vor der bayerischen Ruhmeshalle steht die Bavaria, und neben der Bavaria sitzt ein Löwe. Gegen ein Trinkgeld von zwölf Kreuzern kann man sowohl die berühmten bayerischen Menschen in der Halle hinter dem Gitter in der Nähe betrachten, wie auch die Aussicht auf die Ferne vom Kopfe der Bavaria aus genießen. Nämlich die letztere ist hohl; hohl von den Füßen bis zu dem Kopfe, und von dem Kopfe aus genießt man in der Tat eine sehr schöne Aussicht, nicht nur über die Theresienwiese, sondern auch über einen großen Teil der Stadt München und auf das ferne Hochgebirge, auf den Untersberg und den Watzmann, das Kaisergebirge und das Karwendelgebirge bis zur Zugspitze hin. Es ist sehr schön.

Sechs Personen haben in dem Kopfe der Bavaria Platz, und niemand, der nach München kommt und es irgend möglich machen kann, verabsäume es, in denselben hinaufzuklettern. Wir, der Geschichtsschreiber, haben in der Hinsicht Außerordentliches geleistet; wir sind, nachdem uns unsere diesmalige ernste Aufgabe auf die Schultern gefallen war, eigens nach München gereist, um in der hohen Frau hinaufzusteigen, und uns persönlich durch den Augenschein zu überzeugen, daß das in dem Folgenden getreu Berichtete wirklich in ihrem Haupte und Leibe habe vorgehen können. Wenn wir ein Bayer wären, sei es auch nur aus Schwaben oder aus Franken, so würde uns unbedingt ein Platz in der Ruhmeshalle hinter dem Rücken des Löwen und seiner Herrin gebühren, so aber begnügen wir uns bescheidentlich mit der Aussicht auf eine Büste in der Walhalla bei Regensburg, und lassen uns gern ob unserer Bescheidenheit loben.

Sechs Personen haben in dem Kopfe der Bavaria Platz, das verhält sich wirklich so. Wir haben das Lokal ausgemessen und die feste Überzeugung gewonnen, daß also auch für unsere hohe Heldin, Miß Christabel Eddish Raum darin war.

Miß Christabel Eddish saß an dem wolkenlosen sonnigen Maientage, in der großen Stunde, die wir jetzt zu schildern haben, wirklich darin – allein; allein in dem Haupte der Bavaria, dasselbige wie ein schöner, tiefinniger, reiner Mädchengedanke vollständig ausfüllend. Und jetzt ist auch der Moment gekommen, wo wir uns zum ersten Mal ein wenig eingehender mit ihr – Miß Christabel – beschäftigen können; völlig gerecht werden wir ihr freilich kaum am Schlusse dieses Buches geworden sein.

Miß Christabel Eddish war eine hoch gewachsene, hübsche Blondine, die körperlich den leeren Raum im Haupte der Bavaria durchaus nicht ausfüllte. Im Gegenteil, sie war ein wenig hager, jedoch sicherlich nicht zu hager. Wenn wir sie schlank nennen, werden wir nicht ganz, aber doch sehr annähernd das Rechte treffen; nennen wir sie also schlank. Ihre Gesichtsfarbe erschien ein wenig matt, doch keineswegs ungesund; die über die etwas energischen Züge ausgestreuten Sommersprossen verunzierten die Dame durchaus nicht. Blaugrüne Augen können auch schön sein und sind häufig recht interessant, vorzüglich wenn man zu denselbigen ein grünes Kleid und einen gelben Strohhut mit hellblauem Bande und einer silbernen Biene als Heftel trägt. Ein Sonnenschirm von Naturseide gehört freilich unbedingt zur Vervollständigung des Kostüms und der Erscheinung.

Miß Christabels Alter belief sich auf dreißig wohlgezählte Jahre, offiziell war sie jedoch, sozusagen, durch ein sonderbares, höchst seltenes naturhistorisches Ereignis auf dem fünfundzwanzigsten stehen geblieben und hielt sich darauf. Wie die Dame diesmal in den Kopf der Bavaria auf der Theresienwiese bei München hinaufgestiegen war, so war sie jederzeit fähig, in Kalifornien in den höchsten Wipfel der höchsten Wellingtonia gigantea, so war sie in jedem Augenblicke bereit, auf die Spitze der höchsten Pyramide bei Ghizeh hinaufzusteigen, und der sollte noch geboren werden, der imstande war, sie wider ihren Willen wieder herunterzuholen. Sie pflegte ihre Briefe mit einer Gemme zu siegeln, auf welche eine nicht blühende Aloe als Sinnbild eingeschnitten war, und das Symbolum verdankte seine Entstehung ihrer eigenen Erfindung. Daß sie – Miß Christabel – noch blühen mußte, unterlag keinem Zweifel; allein welcher Blumist kann einer Aloe gegenüber genau bestimmen, wann es ihr gefällig sein werde, das holde Wunder eintreten zu lassen? –

Von der Aussicht auf die fernen blauen Alpen mit den silbern blitzenden Zacken wandte sich Christabel und griff in die Tasche ihres grünen Reisekleides. Da war das rosafarbige duftende Blättchen, welches die königliche württembergische Post am Ende des vorigen Kapitels nach München beförderte! Da war es, am rechten Ort und in den rechten Händen, und – den »Klemmer« auf den Nasenbug fester aufdrückend und zurechtrückend – entfaltete Miß Christabel Eddish den schriftlichen Hülfeschrei der verzweifelnden Unglücklichen in Stuttgart und überflog, nach einem letzten Blick auf die Stadt München, das Schreiben der Assessorin außer Dienst und Freifrau Lucia von Rippgen von neuem.

»Yes!« sagte sie, das Augenglas am schwarzen Bande fallen lassend. »Very merkwürdig! Diese Lucy ist eine sehr liebe Freundin von mir und hat sich immer sehr ausgezeichnet durch ein sehr großes Vertrauen gegen mich. Na, wir haben die Christabel von Coleridge zusammen gelesen in ihrer Cottage bei Dresden, und ich liebe diese Freundin, doch dieses ist sonderbar. O, sie ist sehr drängend, diese Lucy, sie würde sonst nicht geschrieben haben – so!«

Hier klopfte das schöne Fräulein mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf den Brief und fuhr nach einigem Kopfschütteln in ihrem Selbstgespräche fort:

»Ah, hier ist ihr Ehegemahl, ihr Mann und noch ein Mann; let my see – yes, P–ech–le! Das wird es sein, der wird sie bringen zu ihrer Verzweiflung, der Pichle wird verführt haben ihren Mann, und ich werde zu ihr gehen, da sie mich doch zu ihr ruft, wenn sie gleich weiß, daß ich gemietet habe meine Zimmer in Florenz und bin auf dem Wege nach Florenz – yes. Yes, ich werde sehen, was ihr fehlt, ich werde ihr kommen zur Hülfe gegen den Pichle, ich werde ihre Tränen abtrocknen. Oh yes, ich werde kehrtum machen und nicht nach Florenz gehen immediately, sondern nach Stuttgart, welches haben soll auch eine große Ähnlichkeit mit Florenz, was mir lieb ist. That is a very strange letter, ein merkwürdig sonderbarer Brief, und ich bin verpflichtet, mich meiner Freundin hinzugeben mit ganzer Seele. Ich will Virginy lassen in München hier und will wiederkommen nachher, obgleich es ist sehr uncomfortable, aber ich werde kurz sein mit Mr. Pichle, und werde dem Baron in sein Gewissen hineinreden und werde Lucy trösten und schnell zurückkommen. Was sie will, weiß ich nicht, die deutschen Ladies sind so sehr unbestimmt in ihren Briefen, aber ich werde es erfahren, und ich werde ihr Hülfe und Tröstung bringen; denn ich fühle mich dazu gewachsen; ich fühle mich gewachsen auf der Erde jeder Erscheinung – »yes!«

No!« entgegnete das Schicksal, unhöflich und brutal im höchsten Grade, das heißt, die Lust und den Humor der Sache unter der Maske grenzenloser Brutalität mit altbekannter Meisterhaftigkeit verbergend. Schon seit einigen Augenblicken hatten sich im Leibe der ehernen Schutzgöttin des Bayerlandes allerlei Töne vernehmen lassen: jetzt polterte es in ihrem Magen, und etwas stieg ihr über das Zwerchfell hinaus. Im Haupte schob Christabel den Brief der Freundin in die Tasche zurück, klemmte das Augenglas von neuem auf die Nase und horchte nach dem Halse hinunter.

Jetzt stöhnte und schnaufte es im Busen der Riesin, jetzt zwängte es sich durch die Kehle, es war kein Zweifel mehr, es stieg ihr wieder etwas zu Kopfe!

»Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit,
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen,«

sagt Wallenstein, und wir überlassen, fast ebenso heimtückisch und vergnügt wie das Schicksal, es den Lesern, den Ausspruch des großen Feldherrn, Staatsmanns und Astrologen mit dem jetzt zu schildernden Zusammenstoß in Einklang zu bringen. Mit Aufbietung all ihrer Logik wird es ihnen hoffentlich gelingen.

Ein wenig ärgerlich über die Störung lauschte Miß Christabel Eddish nach dem Schlunde der Bavaria hinab, und jetzt erhob sich aus der Öffnung, die in das gigantische Haupt führt, langsam – langsam ein anderes Haupt!

Ein helle seidene schottische Reisemütze auf einem Walde brennend roter Haare! Ein brennend roter Backenbart! Ein gelblich Gesicht mit einem lippenlosen Mund, in welchem eine Reihe sehr gelber Oberzähne trotz aller herausfordernden nationalen Berechtigung recht melancholisch zutage trat! Ein langer – langer Hals, ein buntes Halstuch, und ein blendend weißer Hemdkragen:

Sir Hugh Sliddery, Kapitän im siebenundsiebenzigsten Infanterieregiment Ihrer Majestät Viktoria, Königin von Großbritannien und Irland, und ein Mann, der freilich seinen besten Freunden und seiner innigsten Freundin einen heillosen Schrecken einjagen konnte, auch wenn er ihnen gerade nicht, wie augenblicklich der letztern, im Kopfe der Bavaria im Halse heraufstieg!

Miß Christabel mit der Absicht, durchaus keine Notiz von der sich emporwindenden Störung ihrer stillen Natur- und Lebensbetrachtungen zu nehmen, sah einen Moment flüchtig hin und starrte sofort wie festgebannt durch das Verhängnis. Und das Haupt in der Rachenhöhle der Riesin starrte auf Miß Christabel aus gläsernen Augen, und die sich nachschiebenden Schultern zuckten im jähesten Schreck. Miß Christabel Eddish stieß einen gellenden Schrei aus, und fuhr zurück in den Hinterkopf der Bavaria, den Sonnenschirm gegen das Fürchterliche schleudernd und mit weit vorgestreckten Händen das Entsetzliche von sich abwehrend. Und weiter konnten sich die Augen des Kapitäns Sir Hugh Sliddery nicht öffnen. –

»By Gad,« schrie er heraus; »beg your pardon! bitt' um Verzeihung!« zog den Kopf zurück und verschwand blitzschnell, phänomenartig – hundertfach schneller, als er emporgestiegen war. Wiederum kollerte und polterte es im Leibe der Bavaria, doch diesmal verlor sich der unheimliche Schall nach unten hin, und Christabel lauschte halb ohnmächtig in Schrecken, Schauder und Zorn. Jetzt schoß ein langbeiniges Individuum zu den Füßen der Gigantin hervor, verlor an ihrem Granitpostament einen braunroten Murray, übersah in blinder angstvoller Hast den breiten Weg zur Sendlinger Landstraße und stürzte – raste im vollen Lauf quer über die Theresienwiese der Anatomie und den Magistrats-Wagenschuppen zu. Man muß die Theresienwiese im hellen Mittagssonnenschein haben liegen sehen, um sich vorstellen zu können, welch ein winzig, verschwindend, hüpfend Pünktchen der Kapitän Sir Hugh Sliddery auf derselben war!



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