Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das elfte Kapitel.

Es ist für einen denkenden, mit etwas politischem Sinn und vor allen Dingen mit Phantasie begabten Menschen immerhin etwas, die steile Gasse des Dorfes Hohenstaufen gegen den Burgberg hin zu durchwandern. Es liegt, abgesehen von manchem andern ein ziemlicher Trost für unsereinen in der Fortexistenz dieses Dorfes mit dem berühmten Namen. Diese Bauernhäuser und Hütten und das Volk in ihnen haben vielerlei überdauert, was vordem, wenn nicht mit Verachtung, so doch mit lächelnder Geringschätzung auf sie herab sah, und sie jedenfalls beim Aufbau und Ausbau seiner stolzen Pläne wenig in Rechnung zog. Die hohen Zinnen sind gefallen, die Fürsten, die gewaltigen Herrscher der Welt zerstoben; aber die Hütten stehen noch aufrecht, und die Bauern von Hohenstaufen schlagen heute noch wie vor tausend Jahren auf den Tisch, halten ihr Dasein für etwas ganz Selbstverständliches und haben sicherlich über die Berechtigung dieses ihres Daseins noch nie nachgedacht.

Es ist eine große Merkwürdigkeit, und wer einmal angefangen hat, darüber nachzudenken, oder gar mündlich oder schriftlich etwas darüber von sich zu geben, der findet nicht leicht das Ende seiner Betrachtungen. Angefangen haben wir leider; aber wir wissen uns zu mäßigen und brechen kurz ab, in der fröhlichen Aussicht, heute abend im Ochsen mit der kaiserlich-hohenstaufenschen Hintersassenschaft von neuem zusammenzutreffen. –

Die beiden Freunde, Ferdinand und Christoph, Wettin und Beutelsbach – stiegen, nachdem sie vorher das Quartier im Tanzsaal in Augenschein genommen und annehmbar gefunden hatten, jetzt der alten Kirche zu, und – betrachteten sie von außen. Hinein ging Pechle nicht, behauptend, das könne man von ihm, als früheren Tübinger Stiftler, nicht verlangen. Dafür aber erging er sich in den kuriosesten Mutmaßungen über die Frage, was für eine Art von Patronatsherr wohl der freigeistige zweite Friedrich gewesen sein möge, und kam zu dem Endresultat, daß der kaiserliche Schlaukopf hier auf der eigenen Scholle unbedingt den Orthodoxen reinsten Wassers gespielt und die Pfarre nie vergeben haben werde, ohne dem Herrn Kandidaten selber scharf auf den Zahn zu fühlen, oder vom Konsistorio fühlen zu lassen.

Mit einer Schulterbewegung gegen das Dorf hin, sprach Pechle gedrückt:

»Sie stimmen heute noch in der Furcht des Herrn nach der Richtung!«

Doch leider war der sächsische Freiherr und Assessor außer Diensten allzu matt und daher nicht imstande, dem biederen Reisegenossen auf seinen feinen Wegen durch diese, jeden Theologen und vor allem jeden vormaligen Insassen des Stiftes zu Tübingen höchlichst interessierenden Fragen mit dem nötigen Verständnis zu folgen. Er, der Baron, ging einfach hinter dem Exstiftler her, stand still, wenn jener still stand, folgte mit den Augen der deutenden Hand des Freundes und wandte sich ohne Teilnahme mit, als Christoph Pechlin dem uralten Gotteshause den Rücken kehrte. Widerwillig und doch auch ohne Willen stolperte er dann auch dem Führer nach, als dieser den auf die Höhe des Burgberges führenden Fußpfad weiter beschritt.

»Bei Baphomet! wird der imperatorische Fuchs jedesmal gesagt haben, wenn er irgendwo in Apulien das Anstellungspatent seines hiesigen schwäbischen Hairle unterschrieb. Ich wüßte nicht, was er sonst gesagt haben könnte, Rippgen!« brummte Christoph Pechle im Bergaufsteigen.

Gründlicher als diese Staufenburg ist wohl nie ein Feudalsitz vom Erdboden weggefegt worden. Man hat auf dem Gipfel des Berges den schrankenlosesten Spielraum für Erinnerung, Gefühl und Einbildungskraft; denn er ist vollständig kahl. Und in unserem besondern Falle kann uns das nur im höchsten Grade angenehm sein, denn im höchsten Grade verdrießlich wäre es, wenn irgendein zertrümmertes Gemäuer von Palas, Wall oder Turm die Aussicht nach irgendeiner Seite hin hinderte. Aber die Aussicht ist frei nach allen Seiten, sowohl von oben den Kegel hinunter, wie von unten den Berg hinauf. Das wenige, kunstgärtnerisch angepflanzte Gebüsch hält sich bescheiden am Boden, und man braucht sich keineswegs auf die Zehen zu stellen, um über es weg den Hohenzollern, das Stammhaus jenes andern freigeistigen zweiten Friedrichs zu erblicken.

Um diesen König und jenen Kaiser kümmerten sich die beiden, in diesem Augenblick in tiefer Einsamkeit auf dem Gipfel des Zuckerhutes stehenden Damen natürlich nicht. Ohne sich eingehend mit Philosophie der Geschichte zu befassen, standen sie aufeinandergestützt, wie die beiden Leonoren auf dem bekannten Düsseldorfer Bilde und fanden schon daran allein ihr seelisches Genügen; – doch daran nicht allein, wie wir sogleich aus ihrer Unterhaltung erfahren werden.

Sie standen, die eine schlank und die andere in etwas üppiger Beleibtheit, vor allem in der sicheren Gewißheit, daß die ganze Herrlichkeit der Hohenstaufen von Konrad bis zu Konradin ihnen und ihren Reizen Platz gemacht habe; und im letzten Grunde war dem auch so. Selbst die Abendsonne, welche glänzend auf der schönen Landschaft, über Tälern und Gebirgen lag, schien einzig und allein ihretwegen sich so holdselig gegen die Berge im Westen zu senken, und auch diese Meinung hatte ihre unumstößliche Berechtigung. Die goldene Sonne hielt es mit Vergnügen für ihre Ehrenpflicht, die beiden schönen Frauen auf dem romantischen Bergesgipfel vor allem übrigen zu verklären und sie in die rechte Beleuchtung zu stellen. Wie sie auch sonst dann und wann dem unbefangenen Betrachter erscheinen mochten, in diesem Moment und in diesem wundervollen Scheine repräsentierten sie doch das Wirkungsvollste in aller Nähe und Ferne und mußten jedem vom Dorfe her den Berg Erklimmenden als solches ins Auge fallen.

Weich schmiegte sich der Schatten der beiden Damen – nämlich der Freifrau Lucia von Rippgen und der englischen Miß Christabel Eddish an den weichen Grasteppich unter und zu ihren Füßen.

Sie waren es! Ja, sie waren es, die Baronin und Miß Christabel! Da waren sie, da standen sie im goldenen Abendsonnenschein auf dem Gipfel des Hohenstaufenberges und blickten hin auf das Herzogtum Schwaben: das englische Fräulein still und ziemlich unangefochten, die Baronin aber im heftigen Kampf mit den unendlichen Mückenschwärmen, welche sich vorzugsweise an sie, die deutsche Frau und Heldin hielten, sie immer näher und näher umtanzten und immer unverschämter ihren Reizen huldigten!

Die beiden Damen blickten augenblicklich nicht auf den nach dem Dorfe hinabführenden Fußweg, sondern, wie gesagt, auf die in abgestuftem Blau sich hindehnende Kette der Alb.

»Sieh, Teure, wie schön, wie herrlich, wie erhaben – o diese entsetzlichen Mücken!« rief die Baronin. »Welch ein Eden ist diese Welt – könnte diese Welt sein, ohne so vieles, vieles – diese Mücken sind unerträglich! was nicht hineinpassen will! Christabel, fassest du mich denn? Ja, ja, wir fühlen uns vollkommen eins in diesen unaussprechlichen Gefühlen! Schau doch jene Gebirge, wie sie uns hold lächelnd zuwinken! Erregen sie dir auch dieses süße, namenlose Heimweh nach einer noch bessern Welt – nach unserer Welt, unserer eigenen wirklichen, wahren Welt?«

»O yes, it is very fine, indeed!« seufzte die Engländerin, ohne ihr intensives Anstarren der Landschaft zu unterbrechen.

»Ach, diese Berge, diese herrlichen Berge,« fuhr die Baronin fort, mit dem duftenden Taschentuch den vergeblichen Kampf gegen die Scharen ihrer geflügelten Feinde fortsetzend, »diese herrlichen Berge, mit ihren lieblichen, von hier nur geahnten, idyllischen Tälern; welch einen tieferen, objektiveren, ruhigeren, wonnigeren Eindruck würden sie auf mein Herz machen, ohne die bedrückende Vorstellung, daß augenblicklich jene beiden herzlosen, seelenlosen Menschen auf und in ihnen umherschweifen! Ich weiß es ja, Christabel, du siehst alles nicht nur mit meinen Augen, sondern auch mit meiner Seele; aber es ist doch – mein Mann, den dort in jener duftig entzückenden Ferne der widerliche Mensch, dieser – Pech–le, die–ser Ver–führer hinter sich herschleppt! Hinter sich herschleppt? O Gott nein, aus freien Stücken ist er mitgegangen und läuft er vielleicht ihm voraus, der Abscheuliche – mein Ferdinand!«

»Welches ich doch nicht glaube,« sagte die Engländerin.

»Du glaubst es nicht?!«

»No! Weil ich es ihm nicht zutraue, daß er vorgeht dem anderen. Es ist nicht sein Charakter.«

»Vielleicht! Aber das ist doch gleichgültig und entschuldigt ihn gar nicht – die Mücken sind fürchterlich! – und wer weiß, ob nicht vielleicht gerade in diesem Augenblick, dort auf jenem mir dem Namen nach nicht bekannten Gipfel im Abendduft die beiden harten Ungeheuer wie wir hier Arm in Arm stehen und hierher herüberschauen, wie wir dorthin. O, ungezählte Schätze für ein einziges Zucken aus unserer Gemütswelt durch die rohen Gemüter jener beiden! Ach, Christabel, Christabel, du kennst die zwei Patrone nicht! Ach Süße, was ist doch der Mensch, wenn ihm für das Bewußtwerden der eigenen Nichtigkeit, – und wenn ihm für – unser Sehnen nach der ewigen, ungestörten Sabbatsruhe des Lebens jegliches Organ fehlt?!«

»O–i, Sabbatsruhe!« murmelte die Engländerin, die Augenbrauen zusammenziehend und mit einem schaudernden Schulterzucken, das nur von einer plötzlichen fröstelnd kalten oder siedend heißen Erinnerung an jene träumerische Ruhe im Haupte der Bavaria und die unvermutete Störung dieser Ruhe durch den Kapitän Sir Hugh Sliddery herrühren konnte. Miß Christabel zog auch ihren Arm aus dem der Freundin und sagte:

»Du sprichst sehr gut, Lucy; aber du mußt es mir nachher noch einmal zeigen in deinem diary, deinem Tagbuch, was du mir gesprochen hast, daß ich es gänzlich verstehe. O ja, diese Umgegend ist sehr schön zu besehen, von diesem erhobenen Standpunkt aus besehen; aber was ist uns diese schöne Gegend anderes als die Folie von das bright, polished, das spiegelglatt Elend von unseren Herzen? Wir besehen nur unsere Tränen in that mirror of beauty, in dem Schönheitsspiegel, welchen nature uns vorenthält. O Lucy, wenn wir doch allein mit uns wären in dieser betrügungsvollen existence. Alas, what creeps, ach Gott, was kriecht alles mit uns durch diesen Spiegel? Da, look, da kommen schon wieder zwei Gentlemen den Berg hinaufwärts, und unsere gehobene Ruhestunde ist zu Ende.«

»Es ist unerträglich!« seufzte die Baronin, fügte hinzu: »Sehen wir nicht hin!« – und blickte zum Himmel empor, den Kampf mit den irdischen Mücken notgedrungen ohne Unterbrechung fortsetzend.

Christabel neigte das Haupt und lehnte sich von neuem an die zärtliche Freundin und wandte ebenfalls die Augen von der schlechten, gemeinen, verdrießlichen Erde ab und den Rosenwolken des Sonnenuntergangs zu. Beide Damen hatten die feste Absicht, sich nicht im mindesten um die zwei heransteigenden atembegabten Erdklöße männlichen Geschlechts zu kümmern, sie nicht anzusehen, ihnen den Rücken zu wenden, kurz, gar nicht für sie da zu sein. Es kam nur darauf an, ob die Freifrau Lucie von Rippgen oder die britische Jungfrau Miß Christabel Eddish diesem, der Stunde und der Stimmung so sehr angemessenen, echt weiblichen und idealischen Vorsatz zuerst untreu werde.

»Richtig, da sind sie, und zwar für jeden eine!« sagte Pechle, auf die zwei Sonnenschirme deutend. »Mit dem irdischen Jammertal scheinen sie fertig zu sein; aber den Speisezettel im Lamm haben sie sich doch herzählen lassen, ehe sie zu Berg stiegen. Ich habe es in der Küche in Erfahrung gebracht, als ich mich ebenfalls nach ihm umsah. Ach, ein himmlischer A–bend –«

Es ist zwar ein großer, längst nicht genug gewürdigter Vorzug des Menschengeschlechts, aufrechten Hauptes das Firmament betrachten zu können; allein lange hält es niemand aus, vorzüglich wenn er, um über die Erde wegzusehen, den Zenit ansieht.

In ein und demselben Moment wurden die beiden holden Schwärmerinnen des doch Schwindel erregenden Blickes ins Blaue müde und sahen geradeaus. Und die Baronin stieß natürlich einen Ruf aus, der mehr als Überraschung und weniger als Entzücken war, aber einem Durcheinander von Seelenregungen Ausdruck gab, welches die weiten Grenzen unserer Darstellungsgabe nach allen Richtungen hin zersprengend, durchbrechend und überflutend, sich – einfach Luft machte in den zwei Worten:

»Mein Mann!«

»Dein Mann?!« rief Miß Christabel Eddish mit aller Hast das Augenglas auf die Nase drückend, und – zwanzig Schritte abwärts am Hohenstaufenberge faßte der Baron Ferdinand von Rippgen, mit beiden Händen krampfig einkneifend, den Arm seines Begleiters, stand, riß den Exstiftler gleichfalls rückwärts, starrte aufwärts und sagte tonlos:

»Meine Frau!« . . .

»Was? Herrgott, deine Frau?« schrie Christoph Pechlin höchlichst verwundert, und setzte sofort äußerst gefaßt, ruhig und gemütlich hinzu: »Richtig, sie ist es, und das Lange da neben ihr wird also wohl die andere sein!«

Die beiden Leonoren auf dem Gipfel des Berges rührten sich nicht weiter, nachdem sie gesehen hatten und ein Zweifel an der Wirklichkeit des Gesehenen nicht mehr möglich war. Sie standen wie angewurzelt, statuenhaft, im Abendsonnenglanz und überließen es den beiden Herren, näher zu kommen.

Und sie kamen näher; der Baron, da er nicht anders konnte, Pechle vergnügt wie ein Iltis auf dem Wege in den Hühnerstall.

»Was zögerst du denn? So geh doch! Freu di doch!« rief er, kräftig dem Freunde den Ellenbogen in die Seite setzend und zu gleicher Zeit als ein höflicher Mann den Hut lächelnd gegen die Damen lüftend.

»Ja, ja, Sechserle, wir sitzen drin,« flüsterte er im Voransteigen, »da ischt kei' Zweifel, also – Mut! Courage! Manneskraft! Tu wenigstens, als ob dir ungemein leicht zumute sei, Rippgen! Lächle sie an und besiege, überwinde, stürze sie um durch heitere, fröhliche Unbefangenheit. Donnerwetter, die Engländerin ist gar so übel nicht! weiß Gott, das ischt ja a recht nettes, a ganz sauberes Mädle! Meine Damen, wir haben die Ehre – Grüß Gott, meine Damen.«

Sie waren oben, und da, wie gesagt, die beiden überraschten schönen Schwärmerinnen nicht zurückgewichen waren, so standen sie sich alle vier gegenüber, und das war unserer Meinung nach das merkwürdigste Zusammentreffen, welches der Hohenstaufengipfel je erlebt hatte!



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