Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das sechszehnte Kapitel.

Je lustiger und wilder es im Tanzsaal des Ochsen zuging, desto stiller und stummer lag der im Lamm da; nur die Geister, die Gerüche früherer Feste und Jubelnächte waren noch nicht aus ihm entwichen. Sie durchschwebten, durchwogten gespenstisch den weiten Raum und es entging dem Baron keineswegs, daß sie da waren. Er nannte sie »grauenhaft«.

Die Stühle, Bänke und Tische, auf und an denen sonst das muntere Völkchen der Umgegend sein Behagen nahm, waren jetzt mit Kunst bis an die verrauchte Decke aufeinander getürmt; es war Platz vorhanden, einem Fähnlein waiblingischer Lanzenknechte ein Strohbett aufzuschütten. Der Wirt zum Lamm in Hohenstaufen jedoch bereitete seinem Freund, dem Doktor Pechlin ein behaglicheres Lager, als sich durch ein auseinandergebreitetes Bund Stroh herrichten ließ, und auch der königlich sächsische Assessor außer Dienst fand, um seine Glieder zu strecken, einen Platz, der schlimmer aussah, als er in Wirklichkeit war.

Aber die zwei Freunde suchten ihre Kissen fürs erste noch nicht auf, – auch der Baron nicht, der sich doch kaum noch auf den Füßen hielt. In der Mitte der dunkel um sie her sich dehnenden Wüste nahmen beide zuvörderst ihr Abendessen ein, – Pechle mit Appetit und Heiterkeit, der Baron mit dem, vielleicht auch anderen Leuten als ihm bekannten Würgen in der Kehle.

Er war nicht der erste in der Welt, dem eine unklare und eigentlich gar nicht begründete Gewissensangst schlimmer zusetzte, als einem behaglichen Bösewicht alle seine wohlüberlegten Schandtaten und Sünden; und der auf den nächsten Hügeln gewachsene Wein bekam dem Freund gleichfalls besser, als ihm, des weiland römischen Reiches Frei- und Bannerherrn Ferdinand von Rippgen aus Dresden, dem er gar nicht zusagte. –

Während des Essens horchte der Baron fort und fort hinunter nach den eichenen Bohlen des Fußbodens; nach dem Essen legte sich der Exstiftler mit elegischem Aufatmen und mit der Zigarre noch einige Augenblicke in das geöffnete Fenster, und blickte hinaus auf das dunkle bewegte Dorf, die stille übrige Landschaft und empor zu dem nur hier und da durch einen glitzernden Stern gekennzeichneten Firmament. Bald rief er auch den Reisegenossen zu sich, legte ihm den Arm um den Nacken, klopfte ihn auf die Schulter und sprach:

»Ebert, mich scheucht ein trüber Gedanke vom blinkenden Weine
Tief in die Melancholei!«

»Dich auch?« rief der Baron im höchsten Zweifel und jammervollsten Tone.

»Nun natürlich, denn es wäre doch viel vergnüglicher, wenn die zwei Weiber mit uns oder wir da unten mit ihnen zu Nacht gegessen hätten. Aller Verdruß und alles Elend in der Welt läuft auf dieses Abgesondertsitzen der für einander geschaffenen Seelen hinaus. Jetzt überkommt mich und dich die große Poesie der Welt im ruhigen Einschlürfen dieser balsamischen Nachtluft und Hinhorchen auf den Frieden der Erde; – so lyrisch wie jetzt hab' ich mich lange nicht gestimmt und aufgestimmt gefühlt, und wen haben wir, um ihm unsere Stimmungen mitzuteilen? Ich dich und du mich! Genüge ich dir dazu, so ist mir das sehr angenehm; aber, offen gestanden, du genügst mir nicht, und wäre es mir viel lieber, die Engländerin sähe hier an deiner Stelle mit mir zum Fenster hinaus. Du könntest dann ja mit deiner Frau aus dem andern gucken.«

»Das könnte ich, und es wäre freilich –«

»Was wäre es?«

»O nichts!« seufzte der Baron, und wir, – wir die Unbeteiligten stellen gerade an dieser Stelle die Frage, was uns eigentlich die holde Landschaft und der stille Sternenhimmel angehn? Nicht das geringste; denn unser Platz ist augenblicklich nicht einmal im verhältnismäßig ruhigen und friedlichen Lamm, sondern im stürmisch aufgeregten, lichterglänzenden, musik- und tanzdurchtosten Ochsen. Im Ochsen ist er, und wie schwer und sauer es uns auch dann und wann ankommen mochte, unsere Pflicht haben wir noch stets getan, und der leisen, ernsten Stimme in unserem Busen haben wir noch zu jeglicher Stunde bereitwillig Folge geleistet und werden stets ihr Folge leisten.

Im Ochsen zu Hohenstaufen, im staubwolkenerfüllten, erstickendheißen Saale schlingt sich der schwäbische Wirbeltanz mit allem dazu gehörigen Spektakel. Menschen rollen hin und her, Fässer werden voll hin und leer her gerollt. Von dem Musikantengerüst trompetet und pfeift, grunzt, quiekt, zirpt und schmettert es ohrbetäubend, trommelfellsprengend und gibt den Gliedern, und vorzüglich den unteren Extremitäten der männlichen und weiblichen Hochzeitsgäste Rhythmus, Takt und Maß, letzteres am wenigsten. Das würdige Alter beiderlei Geschlechts aber ziert die Wände und drängt sich in den Türen: sämtliche Mannsen mit Wehmut und Hohn jener Zeiten gedenkend, wo man die Beine noch ganz anders in die Luft schwang, als die heutige, drüsenkranke Generation, und wo man mit den Damen, das heißt den Weibern und Mädeln noch ganz anders umsprang und zierlicher umging, als das junge steife, ellenbogenlahme Volk von heute.

Auch das ältere schöne Geschlecht gedenkt mit Rührung schönerer, vergangener Tage. Es tanzt auch heute noch, das ältere schöne Geschlecht, wenn man ihm die Gelegenheit bietet. Es ziert sich nicht mehr, als es muß, wenn es aus Spaß oder Ehrfurcht aufgefordert wird, in den Reigen zu treten; aber schöner war's doch dazumal, als man es als ein angeborenes Recht nahm, geholt, in den Wirbel gerissen und bis zum wahnsinnigsten Schwindel herumgedreht zu werden.

Lieblich war's, schön war's und ganz anders als im spindelbeinigen Heute!

Die dickste Bäuerin erinnert sich mit verhaltenem Atem und merklichem weitern Aufblasen und Vorschwellen ihrer Persönlichkeit jener holden, freundlichen Nächte, in welchen sie hier im Ochsen oder droben im Lamm oder gar drunten in Göppingen der Stadt unter dem Gebraus ganz anderer, kräftigerer Walzermusik von ihren gleichfalls ohrenzerschmetternd jauchzenden Tänzern bis an die Decke des Tanzbodens geworfen wurde, um wie ein Federkopfkissen wieder aufgefangen zu werden.

Aber lassen wir doch das würdige Alter und seine Gefühle; wenn wir dermaleinst anders empfinden werden, so wollen wir es der dann vorhandenen Jugend überlassen, unsere Empfindungen und Gefühle ebenfalls zu würdigen. Wir haben uns wahrlich nicht durch Drang und Stank in den Ochsen hineingearbeitet, um uns in unfruchtbare philosophische Betrachtungen zu verlieren. O Gott bewahre, gewiß nicht! Denn wenn wir von der Abgeschmacktheit und Lächerlichkeit aller philosophischen Betrachtungen nicht längst und fest überzeugt wären, so würde der Mann, der dort unter den Musikanten, zwischen dem Schultheißen und dem Küster des Ortes sitzt, uns sofort davon überzeugen.

Wer aber sitzt unter dem Musikantengerüst und zwischen dem Kantor und Schultheiß von Hohenstaufen?

Wir kennen jemand, der allem weltbewältigenden Trotz zum Trotz, einen zeternden Schrei der Überraschung ausstoßen würde, der laut kreischen würde und zwar nicht ohne Grund, wenn er, oder vielmehr sie diesen Mann an diesem Orte sitzen sehen würde.

Wer, – wer ist es, dessen Gegenwärtigkeit im Ochsen zu Hohenstaufen an diesem Abend selbst unsern, an alle möglichen und unmöglichen romantischen und unromantischen Begegnungen gewöhnten und auf dieselben eingeübten Gleichmut in einem wenn auch nicht zeternden, so doch recht hellen und durchdringenden Ruf des Erstaunens sich Luft zu machen zwingt?

Fassung! Wer könnte es anders sein als der britische Kapitän auf Urlaub, Sir Hugh Sliddery, er, der im Haupte der Münchener Bavaria der Miß Christabel Eddish einen so entsetzlichen Schrecken durch sein plötzliches Auftauchen einjagte; er, der selber so entsetzlich erschrak und, mit hastigem Gepolter sich dem Leibe der Riesin entwindend, am Sockel derselben dreimal sich überschlagend, sich aufraffte, um über die Theresienwiese nach Florenz hin davonzulaufen!

Daß dieses Wiederauftauchen des Kapitäns in einem neuen Kapitel behandelt werden muß, ist klar, und scheint uns das siebenzehnte ganz geeignet dafür zu sein. –



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