Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das fünfunddreißigste Kapitel.

Wir folgen der Droschke nicht. Wir wissen, daß sie vor einem der besten Gasthöfe der wegen ihrer Gasthöfe berühmten Stadt halten wird, und das genügt uns. Wir gehen unsern eigenen Weg, das will sagen, wir wandeln den Pfad unserer wahrhaftigen internationalen Geschichte fürbaß, und auch dieser Pfad führt uns vom Taunustor bis tief in die Mitte der Stadt – mitten in die Döngesgasse, wo an einer Pforte in dunkeln Runen auf weißem Grunde deutlich, sehr deutlich, außergewöhnlich deutlich der Name Schmolke samt Zunamen und Beschäftigung zu lesen ist. –

Es war jetzt gegen acht Uhr abends. Die Stadt Frankfurt am Main glänzte behaglich, und stellenweise sogar ganz vornehm im Scheine ihrer Gasbeleuchtung, und die Bureaus des vielgewandten und deshalb auch vielbeschäftigten, gleichfalls internationalen Rechtskundigen Leopold Schmolke erglänzten gleichfalls im Scheine der Lampen, welche grün verdeckt ihr hellstes Licht auf die Schreibtische warfen. Wir durchschreiten die Schreiberstube und bemerken, daß das Geschäft sehr gut gehen muß, und daß wahrscheinlich für die Arbeiter im Weinberge Schmolkes fürs erste noch nicht an Feierabend, Abendandachten, Feierabendgefühle und Nachtessen zu denken ist.

Ein halb Dutzend eiliger Federn fuhr mit kunstgerechter Geschicklichkeit möglichst schnell über das billige oder wenigstens nicht teuere Aktenpapier, um es in die kostbarsten, pekuniären Gewinn und europäischen Ruf zu gleicher Zeit bringenden Dokumente zu verwandeln. Wir freuen uns darüber, gehen weiter und treten durch eine halboffen stehende Tür in das Privatkabinett des berühmten Advokaten, und unser Vergnügen am Geschäft wird sofort zur Bewunderung des Geschäftsinhabers.

Auf einem grünen, bequemen Sofa lag der rechtskundige Beistand der gekränkten oder gekränkt habenden Menschheit ohne Unterschied der Rasse lang und behaglich ausgestreckt, die lange Pfeife im Munde und die Frankfurter Laterne in der Hand: ein zweiter und klügerer Diogenes, – ein Diogenes, der zwar auch seine Menschen suchte, aber sie jedesmal richtig und ohne sich im mindesten in der Person zu irren, zu finden wußte! Wie weit auch die Schreiber über die gewohnte Bureaustunde hinaus schreiben mochten, wie gut auch das Geschäft ging: der Chef bewegte seinen Olymp, und natürlicherweise die Erde mit, durch ein einfaches Kopfnicken über die Frankfurter Laterne hinweg, und ließ sich wie andere große Männer kaum jemals durch irgend etwas aus dem Seelengleichgewicht bringen. Man sah es dem Doctor juris Schmolke in der Dönges-Gasse an, daß es ihm gut ging, und daß er keine Ursache hatte, sich über seine Praxis oder über seine Verdauung zu beklagen, zumal da er als internationaler Ehestifter und Ehezertrenner wohlweislich für seine eigene Person sich im ehelosen Stande erhalten hatte und erhielt.

»Na, na, nur langsam! nur ohne Aufregung!« sprach er deshalb sehr ruhig, als jetzt plötzlich die Klingel an seiner Haustür mit einer Heftigkeit und Gewalt gezogen – gerissen wurde, die nur ein außergewöhnlich außer sich geratener Klient aufzuwenden haben konnte. »Nor ruhig! ruhig! merr hamme ja noch alle Instanzen vor uns,« fuhr er mit der Behaglichkeit die Würde vereinend fort. »Aber Stübner, was gibt es denn da?«

»Ein Herr – un monsieur très animé – très vif – très brusque ein sehr aufgeregtes Menschenkind, welches nicht die mindeste Zeit zu haben scheint, über den Stuhl, welchen man ihm anbot, hingefallen ist, und sofort den Herrn Doktor zu sprechen verlangt,« sprach Stübner ebenso phlegmatisch wie sein Arbeitgeber, und fügte mit dem Stahlfederhalter bedächtig sich am Nasenwinkel kitzelnd hinzu: »Nicht wahr, ich bestelle ihn auf morgen mittag zu bequemerer Stunde wieder her?«

»Ich bitte – tun Sie das, lieber Stübner,« sagte der große Advokat gähnend; doch er hatte noch längst nicht ausgegähnt, als nach einem kurzen neuen Wortwechsel draußen im Bureau, die Tür des geschäftlichen Heiligtumes aufgerissen wurde, und der aufgeregte Herr, der vorhin die Klingel gezogen hatte, über den Stuhl, den man ihm höflich bot, hingefallen war, und der nach Stübners Meinung ruhig morgen wiederkommen sollte, bereits ins Zimmer stürzte.

»Schmolke! . . . ich . . . ich bin's! ich, Pechlin! . . . o Schmolle, Schmolle! ich habe dich, ich halte dich, ich umklammere dich, und, bei allen Teufeln über, auf und unter der Erde, ich lasse dich nicht los, bis ich dir das Versprechen, mir zu helfen, deine verruchten europäischen, juristischen Geheimnisse oder deine Seele aus dem Leibe gerissen habe. Schmolke, was ist's mit mei – mit Miß Christabel Eddish?«

»Pechle? . . . Ja aber Pechle, bist du denn das?«

»Freilich! Leider! Das was noch von mir übrig ist! und jetzt vor allem anderen: hast du meine Karte bekommen? vor ungefähr sechs Wochen, meine und ihre Karte?«

»Deine Verlobungskarte?«

»Yes! uhi! meine Verlobungskarte!«

»Franko beantwortet, – nicht wahr, lieber Stübner! Und Stübner, ich habe Sie für heute abend nicht mehr nötig. Lieber Pechle, wenn du dich einige Schritte weiter gegen jene Wand heranbewegen wolltest! dort steckt sie – dort am Spiegel – und es ist die einzige, welche ich in den langen Jahren eines lebhaften erotischen Geschäftsbetriebes der Ehre würdigte, an den Spiegel gesteckt zu werden.«

»Das wäre zu gütig, wenn nicht die raffinierteste Bosheit und Schadenfreude dahinter steckte. O Schmolke, Freundle, Alterle, lieber guter Kerle, wenn du mir helfen kannscht, so wirscht du es tun! nicht wahr, du wirscht es tun?«

»Wie könnte ich dir noch weiter helfen, du glücklicher Mensch? Hast du bis jetzt nicht alles, alles ohne mich zustande gebracht und glücklich und segensreich selbst vollendet?«

»Zum Haarausraufe glücklich!« schrie der aus aller Fassung geratene Pechlin. »In Tübingen und Heidelberg würde ich dich für die Gratulation auf krumme Säbel gefordert haben; aber hier in Frankfurt am Main küsse ich winselnd deine Stiefel, und gestehe dir wimmernd, daß ich einzig und allein deshalb nach Frankfurt gekommen bin.«

»Sehr verbunden.«

»Also, deinen Rat, deine Hülfe! du hast so viele Hunderte glücklich zusammengebracht, – du bist der einzige, der auch mir in der höchsten Not helfen kann.«

»Ich?«

»Ja du; denn du hast es uns selber gesagt, mir und dem armen Ferdinand, an jenem Abend, weischt du, als ich dir unseren Freund, den Rippgen, wieder an unseren Kneiptisch in Stuttgart setzte. O ihr Götter alle, damals hab' ich freilich nicht darauf geachtet; aber Ferdinand hat mich drauf zurückgebracht, und – so sind wir denn hier: Ferdinand und ich, – meine – Christabel – und die Baronin, – und – sie sind beim Tee im Hotel, und ich bin hier bei dir, Schmolke, und jetzt Alterle, gutes, altes, braves Freundle, jetzt – wirst du mir sagen, was ich zu tun habe.«

Es war ein Blick, wie er selten zweimal in einem Jahrhundert geworfen wird, und der Frankfurter internationale Thalamialrechtsverständige sah mit demselben den extheologischen Freund seiner juristischen Lehrjahre an. Dann stand er langsam von seinem Sofa auf, schritt zu dem, vorhin dem aufgeregten Pechle angedeuteten Spiegel hin, nahm die feine Karte mit den zierlichen verhängnisvollen Kupferstichzügen herab und hielt sie stumm – stumm dem Absender unter die Nase. Und Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch erwiderte nichts. Er drückte die Augen zu, stöhnte und war erst nach einer ziemlichen Pause imstande zu bemerken:

»Was ich gewesen bin, hab i schon vorher g'wußt und brauchte deshalb nicht nach Frankfurt zu komme. Was du weischt, Schmolke, will i wisse, und wisse will i, was i zu tun habe; hernach ischt mir alles einerlei.«

Bedächtig schob der Advokat die Karte wieder an ihren frühern Ort zurück und sagte langsam und eindringlich:

»Also morgen früh um eilf Uhr und dreißig Minuten am Eschenheimer Tore!«

»Wie? Was?«

»Morgen früh um halb zwölf Uhr am Eschenheimer Tor, wie gesagt. Gute Freunde und zärtliche Verwandte sind zur Begleitung willkommen. Siehst du, mein Junge, so lästig gute Freunde und zärtliche Verwandte manchmal in der Praxis sein mögen, ebenso angenehm und zu allseitig befriedigender Lösung verworrener Lebensknoten und Liebesknäuel notwendig sind sie dann und wann. Bringe alles mit, was du bei dir hast und fürchte diesmal nicht, unverschämt zu erscheinen.«

»Schmolke, du würdest mehr Mitleid haben, wenn du meinen Seelenzustand wirklich zu würdigen verständest.«

»Lieber Freund,« sprach der Advokat mit melancholischer Behaglichkeit im Ton und im Gestus der deutenden Hand:

»Sieh dir den Teppich an, auf welchem du da stehst. Ich habe ihn eigens ausgesucht für mein Kabinett; – flammende Herzen, brennende Liebe, Rosen und weiße Lilien, Orangenblüten und Myrten! Hunderte haben auf ihm unter Rosen geweidet; Hunderte beiderlei Geschlechts haben sich auf ihm gewälzt!«

»Gewälzt?«

»Ja! Si! Oui! . . . Yes! Hunderte, viele Hunderte an ihrem Verstande und ihrem Lebenswohlsein Verzweifelnde haben sich auf ihm um sich selber gedreht und mir später doch in ziemlich ruhiger Gemütsverfassung und wahrlich auch nicht ungern das Honorar schämig auf den Tisch geschoben. Morgen früh am Eschenheimer Tore, wie gesagt. Da du deine liebe Braut mit dir hast, so werden wir dich heute abend wohl nicht mehr an unserem Stammtisch hinter der Schlimmmauer zu Gesicht bekommen?«

»Schmolke, o Schmolke, sind wir nicht Freunde? Haben wir nicht Blutsbrüderschaft miteinander gemacht? hat uns nicht ein und dieselbe Alma Mater an ihren Brüsten gesäugt?«

»Natürlich, und nicht allein eine! O wir haben ganz ordentlich gesogen, sowohl am oberen Neckar wie am unteren; sowohl in Tübingen als in Heidelberg; – Blutsbruderherz, morgen früh um halb zwölf Uhr am Eschenheimer Tore! . . Nun, Stübner, sind wir noch immer nicht mit der Tagesordnung zustande? Was, bei allen Teufeln gibt es denn noch?«

Was es noch weiter Geschäftliches im Bureau des Dr. jur. Leopold Schmolke in der Dönges-Gasse gab, geht uns nichts an. Wir haben es nur mit unserem eigenen Geschäfte zu tun, und dieses konzentriert sich augenblicklich in dem verzweiflungsvollen Ruck, mit welchem der Doktor Christoph Pechlin den Hut aufsetzte und in dem heulenden Laute, mit welchem er aus dem Kabinett seines juristischen Freundes heraus und in die Nacht hineinstürzte. Wir haben nur den Kapitän Sir Hugh Sliddery in gleicher Weise fortrennen gesehen.

»Recht guten Abend, lieber Pechlin!« hatte ihm der juristische Freund nachgerufen, und zwar im völlig aktenmäßigen Tone und vollkommen mit dem Ausdruck eines durch tausend anderweitige wichtige Händel in Anspruch genommenen und zerstreuten Geschäftsmannes. Sobald sich aber die Tür hinter dem Forteilenden geschlossen hatte, war es bei dem berühmten internationalen Rechtsbeistande mit der Wahrung des Anstandes vollständig vorbei. Er warf sich krähend rücklings auf sein Sofa, streckte beide Beine gen Himmel, streckte beide Fäuste gegen die Zimmerdecke und ächzte:

»Stübner, um Gott und Jesu, drücken Sie mir a Kopfkisse auf das Gesicht, erwürgen Sie mich! Stübner, ich verletze ihn, – ich verletze den geschäftlichen Anstand, wenn Sie mich nicht durch ein Federkopfkissen ersticken!«

Und damit brüllte er los, und sein Lachen vernahm der Exstiftler Christoph Pechle noch in der Gasse und stand einen Moment still, um sich mit der Faust vor die Stirn zu schlagen und zu stöhnen.

»Um halb zwölf am Eschenheimer Tor. Wie oft habe ich diesem Menschen gegenüber Trumpf ausgespielt! und jetzt? . . . ich bin hin; aber nachher – soll auch alles hi' sein! Morgen früh also; – was bleibt mir denn sonst noch übrig als dieser Strohhalm, dieser verruchte, nichtswürdige, heillose, bestialisch-lächerliche Strohhalm Schmolke?!«



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