Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das vierundzwanzigste Kapitel.

Sie war gegangen, und er saß noch da, dem erhaltenen Winke gehorsam. Sie hatte ihm nicht gute Nacht gewünscht, aber er ihr, und dann hatte er das Buch zugemacht.

Eine Weile behielt er den zartsinnigen Dichter noch in der Hand; aber zuletzt legte er ihn doch nieder auf den Tisch und stützte den Ellenbogen darauf, – so saß er und wartete – wartete allein auf Pechle.

Ein kühlerer Wind, der erste Vorbote des nahenden Morgens, drang in das Fenster; ihn, den Baron, überlief ein Frösteln, – er schloß das Fenster, nachdem auch er noch einmal hinausgesehen und gehorcht hatte, und gegen drei Uhr morgens ging auch er, Ferdinand von Rippgen, zu Bett. Pechlin war noch immer nicht nach Hause gekommen!

Er schlich zu Bett, er, der Baron Ferdinand von Rippgen, und wenn in jeder Nacht die Baronin aufzufahren pflegte mit dem Rufe:

»Da kommt er nach Hause!« so fuhr sie in dieser Nacht empor, geweckt durch den leisen Schritt des Gatten:

»Ist er nach Hause gekommen?«

Im trüben Scheine der nächtlichen Lampe schüttelte der Gatte das Haupt:

»Bis jetzt noch nicht; – und soeben schlägt es Drei. Verzeihe, mein Kind, aber auch meine Kräfte sind zu Ende.«

»Empörend!« murmelte die holde Schlaftrunkene, sich schwer auf die andere Seite werfend und ließ es jedenfalls zweifelhaft, wem der Ausruf galt. Der Baron sank auf sein Lager, das heißt, er fiel darauf hin, und grausame Götter entrückten ihn schon im Fallen in hämischer Bosheit durch tiefste Bewußtlosigkeit seinem Elende: sie wollten natürlich noch länger ihr Vergnügen an ihm haben und versparten ihn sich; – oh, sie verstehen es, sich einen aufzuheben und zwar von einem Tage zum andern! –

Von einem Tage zum andern! Die ganze Weltgeschichte mit allem, was sich einbildet, daß es etwas sei, ist auf diese dumme Redensart angewiesen, und also auch wir und unsere Leser. Es war von neuem Morgen geworden, und Pechle war noch immer nicht nach Hause gekommen.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, die volkreiche Stadt bewegte sich mächtig, und es wurde von neuem sehr heiß in Stuttgart. Neun Uhr schlug es auf dem Turme der Stiftskirche, und mit dem letzten Schlage wurde es der Freifrau Lucie von Rippgen in ganz Stuttgart am heißesten zumute, sie hatte erfahren, daß – der Doktor Pechlin seit länger als drei Wochen gar nicht mehr in einem Hause mit ihr wohne.

Weshalb hatte die Frau Baronin sich nicht gleich bei der Heimkehr nach dem guten, bescheidenen Hausgenossen erkundigt?

Der Baron schüttelte bei der Nachricht, daß der Exstiftler ausgezogen sei, den vollen, siedenden Inhalt seiner Kaffeetasse sich über die Kniee; die Baronin starrte dunkelrot im Gesicht die schwäbische Katharina eine Minute lang an, sah dann auf ihren Gatten, sah ihn groß und immer größer an, und sprach, mit dem Taschentuch sich hastig soviel Luft als möglich zuwehend:

»Das setzt allem die Krone auf. Wenn das nicht eine verabredete Geschichte ist, kenne ich weder dich noch ihn, noch die Welt mehr; und ich will es jetzt auf der Stelle wissen, was du hierüber gewußt hast! Antworte!«

Der Gatte, die verbrühten Schenkel und Knieplatten reibend, ächzte:

»Liebe, ich bitte dich – du siehst meine Überraschung! Was soll ich dir sagen? Ich weiß von nichts! Lucie, ich schwöre es dir, daß ich von nichts weiß. Gütiger Himmel, wie sollte ich? Mein Gott, wer kann denn etwas darüber sagen? Vielleicht – vielleicht – deine – unsere Freundin – unsere – Lucie, sollte nicht vielleicht Miß Christabel –«

»Dummes Zeug!« schnarrte die Baronin, den Kopf ärgerlich zurückwerfend. »Was hat Christabel mit jenem Menschen gemein? Wo wohnt der Unhold jetzt?«

Die letzte Frage war wiederum an die Katharina von Schwaben gerichtet; doch auch diese holde Maid zuckte nur die Achseln und erwiderte in ziemlich gröblichem Tone:

»No, des wär doch no besser, daß i mi nach der Adreß vo so'me U'g'heu'r umtät! Noi, des ei'zige, was i sage will, ischt, daß mer durch alle Etasche seelefroh ware, als er ab'zoge ischt. Er war sauber frech, aber so frech war er doch net, daß er uns sei Visitekart nachg'lasse hätt. Wir habe uns manches g'falle lasse müsse bei Tag und bei Nacht, und i wahrlich net allei; aber sei Visitekart hätt i ihm doch durch mein Schatz, den Ruckgable, nachg'schickt, und da hätte sie beide 's unter sich ausmache könne.«

Daß die gnädige Frau sich von diesen unbefangen frisch, munter und lebendig hervorsprudelnden Herzensäußerungen ihrer Kathrine mit verstärktem Ekel und Unwillen abwendete und die Person schnell wieder hinausschickte, verstand sich von selbst. Mit einem Weltgeschichte in sich begreifenden Blicke fragte sie ihren Gemahl:

»Nun, wie findest du denn dieses?«

Der Baron fand es sehr, sehr eigentümlich, worauf seine Frau sich auch von ihm wieder abwendete und für eine geraume Zeit in ein tiefes Nachgrübeln versank.

»Das ist ein Abgrund, ein neuer Abgrund!« murmelte sie. »Die Bodenlosigkeit fängt allmählich an, mir zu imponieren.«

Laut gegen den Gatten gewendet, fuhr sie ihn an:

»Und die Rücksichtslosigkeit des Menschen gegen dich übersteigt alle Grenzen. Du rechnetest ihn zu deinen Freunden, du nanntest ihn sogar deinen einzigen Freund, – doch, wehre dich nur nicht dagegen, ich weiß es und behaupte es. Der Patron ist mir gleichgültiger als sonst irgend etwas in der Welt, aber dieses Verschwinden intrigiert mich. Dir wird es nicht unangenehm sein, dich nach ihm zu erkundigen, und du wirst mir beiläufig – hörst du, beiläufig! – Nachricht geben, wohin er gegangen ist, hörst du!?«

»Wenn du es wünschest –«

»Durchaus nicht! Wie abgeschmackt?! Ich wünsche einzig und allein mit ihm nicht wieder unter einem und demselben Dache zusammenzukommen; alles übrige ist mir vollkommen einerlei.«

»So werde ich mich erkundigen, liebes Herz.«

Die Baronin zuckte die Achseln, nahm die Zeitung auf und vertiefte sich von neuem in ihr Frühstück. Der Baron sah sie hinter dem schwäbischen Merkur versinken und versank in gewohnter Weise in sich selber. Er hätte den schwäbischen Merkur auch recht gern bei seinem Frühstück gelesen; allein er bekam ihn selbst heute, wo die Gattin ihn doch nicht las, nicht. Wenn irgend jemand sich die Weltbegebenheiten aus der Ferne anzusehen hatte, so war er, Ferdinand von Rippgen, königlich sächsischer Assessor außer Diensten, dieser Jemand.

Man hörte die Fliegen im Gemach summen, und eine derselben setzte sich der Baronin auf die Nase, wurde ärgerlich verscheucht und wiederholte den Versuch dreimal. Der Baron sah auf das Tier und versuchte es, sich in seine Seele zu versetzen, was ihm natürlich nicht gelang, da er in der Bewunderung des Mutes der Kreatur stecken blieb. Charlotte sah mehrere Male in das Zimmer, aber ihre Herrin hatte kein Auge für sie und blickte selbst über den Herrn von Beust hinweg, welcher der Zeitung zufolge in vergangener Woche der Dresdener Aristokratie und dem diplomatischen Korps einen Sommerball im Maskenkostüm gegeben hatte und ungemein liebenswürdig auf demselben gewesen war.

Der Baron von Rippgen hatte auch einst als jugendlicher Dresdener Aristokrat zu den Gästen des Herrn von Beust gehört; das historische Faktum würde ihn also höchlichst interessiert haben, mais – – – Lucie behielt es für sich. Sie behielt alles für sich, Herrn von Dalwigk, wie Herrn von der Pfordten, den Grafen Borries wie den Herrn von Varnbühler, bis sie mit einem Male, ganz unvermutet Weltgericht spielte, mit einem erbosten Griff der kleinen fleischig-zierlichen Hand die ganze Zeitgeschichte zusammen knitterte, dieselbige unter den Tisch warf und jetzt selber scharf, wild, aufgeregt die Kammerjungfer herbeischellte. Ferdinand aber sah auf den Vorgang ungefähr geradeso, wie das deutsche Volk in den, die genannten Herren betreffenden Staaten auf gleichartige Vorgänge zu sehen pflegt und pflegte. Es war nunmehr gegründete Aussicht vorhanden, daß er doch noch etwas von dem erfuhr, was vorgegangen war und vorging: er brauchte die Dokumente nur unter dem Tische hervorzuholen. –

Rauschend schoß die gnädige Frau in ihr Zimmer, um Toilette zu machen; sie war plötzlich lebendig, äußerst lebendig geworden, es ging ihr nichts rasch genug, und sie erweckte mehr und mehr in ihrer Charlotte die Gefühle einer von der Katze gejagten Maus. Die schwäbische Katharina wurde entsendet, eine Droschke herbeizuschaffen, blieb lange genug aus, um die Geduld eines Engels zu ermüden, und sprach demgemäß nachdrücklich von der Haustür aus:

»Das ischt ja a wahrer Satan!« nachdem sie ihren Auftrag ausgerichtet, und die Gnädige das Fuhrwerk bestiegen hatte und abgefahren war, ohne zu sagen wohin.

Die schwäbische Katharina blickte der Herrin von den Stufen der Haustür, Charlotte sah ihr aus dem Fenster nach, und der Baron lugte vorsichtig hinter der Gardine hervor und in die Gasse hinunter und seufzte ein wahrhaft bergeabwälzendes »Ah!«, nachdem der Wagen um die Ecke gerollt war. Er würde übrigens dies Ah sicherlich bei sich behalten haben, wenn er gewußt hätte, wie kurz die Zeit war, die ihm zum freien Atemholen zugemessen war. – Kaum hatte et sich gebückt, unter den Tisch gegriffen, die zerknitterte Zeitung heraufgeholt, sie geglättet, sich selber ein wenig geglättet und bequemlicher in seinem eleganten Schlafrocke drapiert, als bereits einige Gassen weit ab die Norne wieder winkte und den Kopf schüttelte, ohne die geringste Rücksicht auf ihn zu nehmen. Kaum hatte er angefangen, die Abwesenheit seiner Frau in der allerbescheidensten Weise für seine verkümmerte Lebensbehaglichkeit auszunützen, als der gute Augenblick schon wieder vorübergeglitten war.

Die telegraphischen Nachrichten hatte er glücklich weg, der Leitartikel war durchflogen, die französischen, englischen, türkischen und spanischen Neuigkeiten waren eiligst zusammengerafft, und eben – das Blatt zitterte in seiner Hand! – war der Leser auf das Gartenfest des Herrn von Beust gestoßen, und hatte abermals »Ah!« aber diesmal mit anderer Betonung gesagt; als er die Augen von der Zeitung erhob und mit offenem Munde schreckhaft lauschend saß:

»Es ist doch wohl nicht möglich?!«

Ja, es war möglich; sein Weib kehrte in der Tat schon wieder heim; sie raschelte bereits auf der Treppe, sie ertappte die holde Charlotte bei der Vollendung der eigenen Toilette vor ihrem Spiegel und Putztische, sie rauschte an ihr vorüber, an dieser Stelle durch eine Handbewegung alles Nötige bemerkend, und wie eine prächtig brandende Woge schlug sie hinein in den Salon, schlug weg über den entsetzten Gatten, schlug ihm die Zeitung aus der Hand, und sank – wir müssen leider aus dem Gleichnis fallen! – sank auf den Diwan zurück und keuchte unter kurzen, abgebrochenen Atemstößen:

»Auch Christabel fehlt! Auch Christabel – hat ihre Wohnung – verlassen – ohne mir Nachricht zu geben – ohne mir zu schreiben – ohne ihre Adresse zurück – zu – lassen. Ich fin – de – das – milde gesagt – sehr – eigentümlich!«

Da sie bei diesen Worten den Gatten ansah, so glaubte dieser, und zwar selbstverständlich zu seinem Verderben, eine Meinung haben und dieselbe äußern zu müssen.

»Vielleicht – lieber Gott, vielleicht hat man ihr wieder einmal – ei ja, wieder einmal die Wohnung gekündigt!« stotterte er, um auf der Stelle vernichtet zu werden.

Noch ließ die Freundin nichts auf den Charakter der Freundin kommen. Schmetternd schlug die Baronin Lucie von Rippgen den Fächer zusammen und zischte:

»Wie abgeschmackt?! Wie dumm! . . . wie über alle Begriffe lä – cher – lich!«

»Ja, wenn du meinst, mein Herz,« stammelte der Baron Ferdinand, und sein Weib lachte ihm von neuem Hohn; fing jedoch sonderbarerweise in der Tiefe ihres Busens an zu überlegen: ob man wirklich vielleicht ihrer Freundin Miß Christabel Eddish nur wieder einmal die Wohnung gekündigt habe?! – –



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