Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das vierunddreißigste Kapitel.

Wir haben uns Manchem in unserem Dasein, und nicht bloß in unserem schriftstellerischen, gewachsen gefühlt, wir haben dann und wann Dinge ausgeführt, die uns die Leute nicht zutrauten, wir haben sogar einige Male uns selber in Erstaunen gesetzt; so kleinlaut, so gliederschwach, so auf den Mund geklopft wie an dieser Stelle haben wir uns noch nicht gefühlt. Wir sind einfach nicht imstande, unserer Pflicht zu genügen und zu sagen, was Christoph sagte, als seine Braut am Nachmittag in sein Gemach schritt, ihm wieder einmal die Hand zum Kusse hinreichte und ihm mitteilte, daß sie ihn nach Frankfurt am Main zur Testamentseröffnung begleiten werde, und, um seine Freude, sein Behagen zu erhöhen, hinzufügte, daß auch Lucy, – ihre Lucy, ihre einzige Lucy den Gatten nicht allein fahren lassen werde, sondern in ihrer Herzensgüte und Aufopferung alles übrige beiseite setze und gleichfalls mitfahre nach Frankfurt an dem Main.

Weshalb aber sind wir nicht imstande, dem Laufe der Begebenheiten zur Seite zu bleiben, wie es sich gehört?

Grundgütiger Himmel, weil unsere Nerven es nicht erlauben! Unsere Nerven lassen uns hier zum erstenmal im Leben vollständig im Stich, das heißt, sie machen sich bemerkbar wie noch nie: wir lassen, in den Winkel gedrückt, Pechle mit Miß Christabel das Weitere und Genauere über die Fahrt nach Frankfurt verabreden, und – gottlob – Epiker haben ja das Recht, welches Dramatiker sich so sehr häufig nehmen!

Man hat ihn, unseren Freund, Christoph Pechlin, noch gesehen an diesem Tage. Man sah ihn gegen Abend in den Straßen der Stadt, und verschiedene Leute behaupten auch, ihn angeredet und sich besorgt nach seiner Gesundheit erkundigt zu haben. Ob das letztere wahr ist, können wir nicht sagen: was uns anbetrifft, so würden wir ihn nicht angeredet haben. »Igitur colos exsanguis, foedi oculi, citus modo, modo tardus incessus; prorsus in facie voltuque vecordia inerat – blutleer war seine Visage, gräsig seine Augen, sein Gang bald hastig, bald schleppend, kurz wahnsinnige Verzweiflung malte sich in Mienen und Gesten,« zitierte ein philologischer Bekannter, der ebenfalls an einer Ecke auf ihn traf und mit dem Sallust in der Tasche vom Gymnasium nach Hause ging; – aber einerlei! wie Lucius Sergius Catilina nach Pistoria, so mußte Christoph Pechlin nach Frankfurt am Main. Die Katastrophe, die er sich selber zubereitet hatte, war zur Hand, und das einige Glück bei der ganzen Geschichte war, daß für ihn, unsern Freund Pechle, ein fast ebenso guter Geschichtsschreiber zur Hand war, wie damals für den fürchterlichen Römer. – Das Jahr ließ bis tief in den Winter hinein nichts zu wünschen übrig, und so war auch der Reisetag klar und sonnig bis zum Sonnenuntergang, obgleich der winterliche Monat November bereits bedenklich auf seine astronomische und meteorologische Berechtigung Anspruch machte. Kurz nach fünf Uhr am Nachmittag sollte der Zug – der schicksalsschwere Zug, der Ferdinand und Lucie, Christoph und Christabel mit sich führte, in Frankfurt anlangen, und abgefahren war er von Stuttgart; nicht das geringste ließ sich mehr ändern an dem Faktum. Die Räder drehten sich, die Maschine schnob, kreischte und schnaufte, und Pechle schnaufte ebenfalls und zwar sehr bedenklich.

Sie saßen wahrhaftig einander gegenüber – die Herren den Damen, – und hatten zu lächeln und fröhlich, ungemein fröhlich zu scheinen; die beiden Herren nämlich! Wer aber wäre imstande, auszudrücken durch Worte, wie vergnügt sie sich im Inneren ihrer Seelen fühlten?

Sechs lange Stunden hatten Christoph und Ferdinand den zwei geliebten Wesen Knie an Knie gegenüber zu sitzen, während eine einzige genügt hätte, um in derselben für alle Sünden des Lebens genug zu tun und zu büßen. Sechs lange Stunden saßen die beiden Überrascher der Frau und der Braut, den beiden heute einmal ausnahmsweise nichts ahnenden Werkzeugen der ewigen Gerechtigkeit, gegenüber und lächelten – lächelten – lächelten, und blickten sich nur dann und wann verstohlen an und zwängten den hohläugigsten Jammer in die kürzesten dieser der munteren Gesamtunterhaltung entzogenen Blicke. Ihr Herzblut bis auf den zum Leben und Atem unbedingt notwendigen Bruchteil würden sie hingegeben haben, wenn sie sich dadurch eine von den Damen nicht gestörte Unterhaltung von fünf Minuten hätten verschaffen können; aber niemand – niemand war vorhanden, der ihnen hätte zur Ader lassen können. Sie mußten ihr gesamtes Herzblut bis auf das letzte Kügelchen bei und in sich behalten, und es kreiste heftig in ihnen. Schlagflußhaft wurden sie von den Damen warm gehalten; was warm? heiß, brühheiß wurden sie von Christabel und Lucy im holdesten, heitersten Gespräch gehalten, und nicht einmal den kalten Angstschweiß durften sie sich abwischen.

»Schmolke!« sagte von Zeit zu Zeit einer der beiden Sünder ganz leise, und:

»Station Bruchsal!« schrie der Schaffner in den Wagen hinein.

Wahrlich, da war bereits Bruchsal mit seinem Wagenwechsel via Heidelberg, mit seinem lebhaften Portier und seinem stillen Zellengefängnis; und der Exstiftler, der von Bretten an es vergeblich versucht hatte, durch die Philosophie seinen Zuständen einen freien Atemzug abzugewinnen und sich einfach auf das bekannte »vorerst leben« hatte beschränken müssen, versuchte es hier von neuem mit der Weltweisheit. O dieses Zellengefängnis! welch eine Wonne eine solche einsiedlerische, verschlossene, stille Zelle der augenblicklichen Situation gegenüber!

Er blickte hinüber nach dem Gefängnisse und suchte sich durch alle möglichen Zitate aus dem Brunnen menschlicher Erfahrung, von Thales bis zu Schopenhauer, zu erfrischen. Aber der Eimer entglitt ihm stets wieder, sobald er ihn an die Lippen heben wollte, und platschte vor einem einzigen freundlichen Blick und zärtlichen Kopfnicken Christabels oder der Baronin hinunter in die grundlose Tiefe. Die heiligen, erquickenden Wasser des Lebens flogen ihm nur in kribbelnden Tropfen um die wüste, irre Stirn, – er streckte vergeblich ihnen die lechzende Zunge nach: o eine Zelle – eine Zelle auf Lebenszeit in dem Zuchthause zu Bruchsal! – die Idee allein kühlte ihm die lechzende Zunge, die immer trockner werdenden Lippen. Was Ferdinand anbetraf, so war dieser nicht einmal imstande, den Versuch zu machen, zu philosophieren. Der Baron fühlte sich ganz einfach körperlich übel vor geistiger Qual; er fühlte sich durch und durch sozusagen seekrank, und er, der sonst in dieser Hinsicht sich der Konstitution eines Postkondukteurs erfreute, konnte heute das Fahren durchaus nicht vertragen. Setzen wir uns auf seinen Platz, seiner Gattin gegenüber, und – werfen wir den ersten Stein auf seinen Magen, das heißt später, nach der Rückkehr nach Hause.

»Heidelberg!«

Gewöhnlich wenden sich bei diesem Rufe zwei Drittel der Reisenden mit einem freudigen »Ah!« dem Wagenfenster zu, und die Unverschämten benehmen den übrigen dadurch die Aussicht, daß sie sich sofort halben Leibes aus diesem Fenster hinaushängen, um von dem angenehmen Orte sobald als möglich und soviel als möglich zu genießen; für unsere zwei Vergnügungsreisenden aber war die liebliche Stadt der schlimmste Anhaltepunkt auf der Reise: natürlich der schönen Erinnerungen wegen, die sich für sie daran knüpften.

O Pechle, o Christoph Pechlin, welche Philosophie hielt gegen die Bilder stand, die Heidelberg in dir wach rief, und welche gegen den Ton, mit dem heute – diesmal – jetzt – Christabel, deine Christabel, deine süße Christabel – Miß Christabel Eddish dich lächelnd bat, ihr ein Glas Wasser zu besorgen?! . . .

»Sogleich!« rief der Exstiftler, wie ein aus der Mitte der ewigen Höllenflammen mit einem »Ticket of leave« zum heiligen Peter am kühlen Himmelstor abgeschickter Verdammter rufen würde, – und Ferdinand, hastig nach dem Rockschoße des wenigstens für einen Augenblick der Tortur entrückten Freundes greifend, wünschte natürlich, ihn zu begleiten, wurde aber ebenso natürlich augenblicklich am Rockschoße ergriffen und zwar von der Gattin:

»Bitte, Bester, der Zug geht gleich weiter, und du kennst meine Nervosität; du würdest mich fünf Minuten lang unglücklich machen.«

»Fünf Minuten lang!« sagte der Freiherr still zu seinem Schicksal, auch auf das Minimum von freien Atemzügen verzichtend. Pechle brachte das Glas Wasser mit dem Taschentuche vor dem Munde. Es roch spirituös hinter diesem Taschentuche, und im Innern seiner Seele seufzte der Baron:

»O, einen einzigen Kognak von denen, die er im Laufe der letzten Sekunden hinabgestürzt hat!«

Die Reise ging weiter, ging ruhig weiter, wenn man sich dieses Ausdruckes bedienen will. In herbstlicher Abendbeleuchtung lag die Bergstraße zur rechten Seite da; aber wenn aller Wein, den sie je erzeugt hatte, sich auf einmal vom Gipfel des Melibokus in die Kehle des Doktors Pechlin ergossen hätte, so würde er doch das Gefühl der samum-heißen Trocknis nicht aus ihr haben wegschwemmen können.

Darmstadt lag bereits im beginnenden Abenddunkel, und von Darmstadt an wurde es recht kühl. Aber wie kühl auch die Luft werden mochte, die beiden Herren merkten nichts davon; es war jammerschade, daß sie die Temperatur, welche die Vorstellung, der Stadt Frankfurt immer näher zu kommen, in ihnen erzeugte, nicht mit in den nächsten Winter hinübernehmen konnten: sie hätte ihnen nicht wenig Brennmaterial erspart.

Frankfurt!

Mit jeglichem Lichterschein aus seinen Fenstern, mit jeglichem Laternenstrahl blitzte die Vernichtung herein. Seit auf dieser Erde die erste Tante starb und den ersten Neffen oder die erste Nichte durch ihre Hinterlassenschaft oder eine Klausel im Testament in Entzücken setzte, war nimmer ein Neffe mit wilderem Haarsträuben seinem – Rechtsbeistande zugefahren, als Herr Christoph Pechlin, und nimmer hatte ihn ein zitternderer Freund begleitet, als der Freiherr Ferdinand von Rippgen.

Frankfurt!

Nicht nur in Frankfurt am Main, sondern überall in der Welt pflegen, wenn der Wagen hält und auf der Fahrt drinnen irgend etwas vorgefallen ist, die Damen ohnmächtig oder doch wenigstens in Krämpfen herausgehoben zu werden, – an dem heutigen Abend war das anders. Wenn wer es nötig hatte, aus dem »Coupé« herausgehoben und zur Droschke mehr getragen, als geschleift zu werden, so waren das der Freiherr Rippgen und Pechle – unser braver, breitschultriger Freund Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch. Von Darmstadt an hatten die zwei Damen fast Angst vor ihren Begleitern bekommen, und hatten angefangen, dieser Angst Ausdruck und Worte zu geben. Sie hatten Fragen gestellt, und Ferdinand und Christoph hatten es versucht, diese Fragen zu beantworten, und ihren Zustand dadurch natürlich nur verschlimmert. Auf dem Neckarbahnhof in Frankfurt wurde es so arg, daß Christabel an Vergiftung und Lucie an Betrunkenheit zu glauben begann, und beide Frauen, fast ebenso aufgeregt wie die Herren, die letzte äußerste Frage: »Aber wie war dies denn möglich?« krampfhaft und gleichfalls im halben Schwindel hin und her wendeten. Die beiden Herren waren allerdings gänzlich unfähig, ihren Pflichten als Männer, Ehemänner, Verlobte, Ritter, Gelehrte und als welterfahrene Reiseführer gerecht zu werden. Weder der Baron noch Pechle waren imstande, ihre Geisteskräfte soweit zu sammeln, um dem Wagenlenker ein Ziel seiner Fahrt anzudeuten. Miß Christabel hatte dieses zu besorgen und besorgte es mit den verwundertsten Blicken auf ihren Verlobten. Die Baronin hielt den Baron aufrecht, während die Jungfrau mit dem Kutscher redete und ihm das Hotel angab, in welchem sie zu übernachten wünschte. Der Kutscher aber, mit den Ohren auf der Jungfrau Worte horchend, sah mit den Augen auf die zwei Herren. Leider irrte er ebenso sehr, wie die Freifrau, wenn er die körperliche Unzurechnungsfähigkeit des Freiherrn und seines Freundes dem unmäßigen (die Baronin meinte zugleich heimtückisch verstohlenen) Genuß geistiger Getränke zuschrieb. Er, der Kutscher, zog die Backen zusammen und die Augenbrauen in die Höhe und schnalzte, allerlei liebliche Phantasien vor- und nachkostend, mit der Zunge, als er auf seine Gäule hieb und das sonderbare Vierkleeblatt durch das Taunustor in die Stadt und der ungeheuersten Katastrophe entgegenführte.



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