Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das achtzehnte Kapitel

In der Via mala hatten sie – der Frankfurter Rechtsgelehrte und Sir Hugh Sliddery – noch allerlei Ansichten und Betrachtungen über den Lauf der menschlichen Dinge und die Hindernisse alles Lebensbehagens ausgetauscht und am folgenden Tage stumm – ein jeglicher in seiner Ecke des Eisenbahnwagens, mit einem merkwürdigen Ekel und Überdruß am andern, lehnend, den Bodensee erreicht. Sie waren noch zusammen über den See nach Deutschland zurückgefahren; aber in Friedrichshafen hatten sie sich getrennt. Schmolke mit einem Segenswunsch für den englischen Ritter, der in den Postillen seines frommen Namensvetters recht sehr am rechten Platze gewesen wäre; – der Baronet mit einem Worte, das selbst in unserem Bericht als ungebührlich erscheinen müßte.

Schmolke war nach Frankfurt am Main in seine Geschäftsstube zurückgekehrt; Sir Hugh hatte noch mehrere Tage in Friedrichshafen gesessen, oder vielmehr auf einem Sofa unbeschreiblich lang ausgestreckt gelegen, um sich von dem neuen, jähen Schrecken am Hinter-Rhein zu erholen. Dann war er aufgestanden, hatte wieder einmal eine Wirtshausrechnung berichtigt und mit dem intensivsten Verlangen nach Waldluft, Stille und ländlicher Einsamkeit sich durch das Schwabenland weiter geschleppt. Nimmer in seinem Leben hatte er das Gefühl, nirgends mit sich hin zu wissen, so deutlich und beängstigend empfunden, als in diesen wonnigen Frühsommertagen. Freilich war er auf genug abgelegene, romantische Plätzchen getroffen, die einen weltvergessenen Klausner hätten bewegen können, das Logis zu wechseln; aber auf nicht ein einziges, welches ihm, dem Kapitän, unzweifelhafte Bürgschaft gab, daß Miß Christabel Eddish es nicht auch vor ihm belegt habe und sofort nach seinem Einzug ebenfalls eintreffen werde. So fröstelte ihm in der Hitze des heißesten Mittags, und so schwitzte er in der kühlsten Mitternacht, und so befand er sich durchaus in jener Stimmung, in welcher die nüchternsten Leute sich dem Trunke ergeben. Letzteres tat er annähernd, und stellenweise sogar sehr annähernd, da ihm seine Natur in dieser Beziehung wenig Hindernisse in betreff des Lebensbehagens in den Weg legte. Er studierte die schwäbischen Landweine seiner Nerven wegen. Er studierte sie vom Seewein an, er studierte sie gründlich. Und da er von Eton aus einige dunkle, historische Erinnerungen an den Glanz des hohenstaufenschen Kaiserhauses (das er aber dessenungeachtet hartnäckig mit dem hohenzollernschen Königsgeschlechte verwechselte!) im Gedächtnis behalten hatte, so benutzte die Moira das, um ihn an diesem wissenschaftlichen Faden in den Ochsen zu Hohenstaufen zu leiten.

Da saß er, und wir machen ihm durchaus keinen Vorwurf daraus, daß er immer noch glaubte, aus freiem Antriebe und nicht aus Angst, Unruhe und auf der flüssigen Bahn lieblicher Getränke hergekommen zu sein. Seinen historischen Schulerinnerungen hatte er jedenfalls Genüge geleistet und war auch auf den Gipfel des Burgberges gestiegen und sofort wieder hinunter.

Am Mittage des Tages, in dessen späteren Stunden Lucie von Rippgen und – Miß Christabel Eddish, sowie der Baron Ferdinand von Rippgen und Herr Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch den Staufenberg erklommen hatten, war Sir Hugh Sliddery auf seinem Gipfel gewesen und war schon demgemäß auch früher als die übrigen Herrschaften im Dorfe wieder angelangt. Sehr enttäuscht war der Kapitän heruntergekommen. Er hatte sich ungemein gewundert, so wenige, das heißt gar keine Überreste der einstigen weltdurchleuchtenden Herrlichkeit vorzufinden auf der Höhe und somit von neuem Grund gehabt, den unbegreiflichen Verlust seines Reiseführers, seines Murray, zu bedauern. Und mit dem festen Vorsatze, diesen Verlust so bald als tunlich zu ersetzen, um sich nie wieder der Möglichkeit solcher Enttäuschungen auszusetzen, war er aus der tiefsten Bergeseinsamkeit in den Strudel des hochzeitlichen ländlichen Festgetümmels hineingeraten. Als ein Tourist, der nicht umsonst durch die Welt gestrichen sein wollte, hatte er sogleich beschlossen, die Feierlichkeit bis zum Ende mit durchzugenießen, und zugleich zu versuchen, ob der Lärm nicht beruhigender auf sein erregtes Gemüt wirken werde, als die Stille, die Einsamkeit und überhaupt die naive Harmlosigkeit der Natur.

Das Volk des Landes, das ihn anfangs sehr sonderbar von der Seite angesehen, welches mißtrauisch genug über ihn geflüstert, welches ihm auch mehr als einen Rippenstoß im Gewühl des Festes versetzt hatte, hatte sich doch allmählich an die Gegenwart des kuriosen Fremdlings in seiner Mitte gewöhnt. Nachher hatte man ihn ausgefragt. Zuerst waren die ehrwürdigen Alten des Dorfes näher an ihn herangetreten und hatten sich erkundigt: Wer? Woher? Warum? Dann waren die jüngeren Leute gekommen, und die Frauenzimmer hatten ihnen im Kreise über die Schultern geguckt und gekichert und einander die Ellbogen in die Seiten gestoßen, und zuletzt – hatte ihm der Schultheiß einen Schoppen gebracht, und Sir Hugh hatte erst dem Schultheiß, sodann sämtlichen übrigen ländlichen Würdenträgern und Honoratioren Bescheid getan. Es war alles in der schönsten Ordnung.

Da saß er – er, Sir Hugh Sliddery, Kapitän im siebenundsiebenzigsten Infanterieregiment ihrer britannischen Majestät, Victoria regina, und niemand mehr fand seine Anwesenheit im Ochsen zu Hohenstaufen sonderbar. Da saß er ganz behaglich zwischen dem Brautvater und dem Küster, ließ den deutschen Walzer mit unbewegter Miene an sich vorübertosen, sah stier, stumm und ein wenig dumm außerdem in den Wirbel der schwäbischen Fröhlichkeit und dachte – in diesem Moment – nicht im allergeringsten an – Miß Christabel Eddish; und da sich uns in eben diesem Augenblick die treffendsten Vergleichungen und Gleichnisse zu Dutzenden darbieten, so verzichten wir darauf, von irgendeiner oder einem derselben Gebrauch zu machen, und überlassen es bescheiden dem Leser, einmal selber recht außergewöhnlich geistreich zu sein.

Wir sind jetzt nicht imstande, uns mit dem Geiste abzugeben; die Körperlichkeit nimmt alle ihre Rechte und sogar noch einige darüber in Anspruch. Schon nahete das, was der Doktor Christoph Pechlin mit aller Bestimmtheit erwartete. Was nahete? Was kam? . . . Mit einem Male kam aus der offenen Tür des Saales mitten aus dem Gedränge der Zuschauer des Tanzes ein Gegenstand, der sich später in der Gerichtstube zu Göppingen protokollarisch als ein leerer Bierkrug auswies. Im hohen Bogen schwirrte er unter der rauchgeschwärzten Decke hin und schmetterte auf den Tisch unter der Musikantenbühne, dicht vor den Nasen des Brautvaters und des englischen Gastes nieder. Klirrend flogen die Splitter des Wurfgeschosses, sowie der getroffenen Flaschen und Gläser umher. Roter und weißer Wein spritzte auf und der ahnungslosen Fröhlichkeit der Stunde ins Gesicht. Grenzenloser Tumult war natürlich die augenblickliche Folge des ruchlosen Attentates. Rasendste Entrüstung malte sich auf allen Mienen, und einen wahrhaft Entsetzen erregenden Durst nach Rache rief das so schnöde vergossene Getränk unter sämtlichen Hochzeitsgästen hervor.

War es verschmähte Liebe, war es blutrote Eifersucht, oder was war es, was den Krug schleuderte? Als Poet nehmen wir an, daß es verschmähte Liebe war und nicht bloße urgermanische Rauflust eines der dem Lamm zugehörenden Stammgäste. Aber was es gewesen sein mochte, die Folgen blieben dieselben. Schon war die Musik mitten im lebhaften Takt abgebrochen. Die Paare der Tanzenden lösten sich voneinander, in der Tür entstand eine wogende Bewegung kämpfender Männer. Weibliches Geschrill mischte sich schon darein, und eine Schoppenflasche, die von einer eifrigen aber unbedachten Hand aus einem Winkel des Saales gegen den unbekannten hämischen Angreifer – gegen die Tür geschleudert wurde und auf dem Rücken des gegen eben diese Tür wütend vorgesprungenen Bräutigams zersplitterte, brachte die Aufregung der Gemüter zum gischendsten Übersprudeln.

Wer auch der Täter gewesen sein mochte, der den Krug entsendet hatte, der Schleuderer der Flasche hatte seinen Wurf unter der Beihülfe des Dämoniums deutscher Bauernhochzeiten doch noch besser und wirkungsvoller getan. Mit aller Unterscheidungsfähigkeit zwischen Freund und Feind war es aus und zu Ende im Ochsen zu Hohenstaufen! Schon hatte der Hochzeiter in der Pforte des Saales zwei Köpfe seiner eigenen Hochzeitsleute in besinnungsloser Wut gefaßt und dieselbigen gegeneinander gestoßen. Die Gegenpartei aus dem Lamm hatte wahrlich nur wenig von ihrem eigenen Haß und Geifer in die Flammen zu spritzen; – die Fackel der Eumeniden loderte und leckte auch schon ohne das mit schweflichten Zungen über das Fest hin. Überall – über und unter den Tischen, im Saale und vor dem Saale, auf der Treppe und vor dem Hause entbrannte der Streit, tobte die Schlacht, – war man sich in die Haare gefallen; und Sir Hugh Sliddery in der Mitte der Strudel und Wirbel fand sich plötzlich zu seinem allergrößesten Erstaunen dringendst in allen Fasern seines Wesens aufgefordert, mit Aufbietung aller seiner Kräfte für die Erhaltung seines Daseins zu kämpfen. Ohne im geringsten zu wissen, wie es eigentlich zuging, bekam er die vollste Gelegenheit, im Dorf Hohenstaufen alles bei Inkerman Verabsäumte nachzuholen und das Gefühl, den Bathorden verdient zu haben, in Abwehr und Angriff sich glorreich zu erobern. Glorreich! denn er kämpfte unter Hindernissen. An seinen gelben Rockschößen hing der schwarze Küster des Dorfes und suchte sich seiner als einer Schutzwehr gegen die wild fliegenden Wurfgeschosse aller Art, gegen die unvernünftige Rücksichtslosigkeit der Stuhlbeine, gegen Faustschläge und gegen Fußtritte zu bedienen. Schon mischte sich Wimmern und klägliches Wehgeheul in den Lärm der Schlacht, gellender schallte das Zetern des schönen, auch anderen Geschlechtes durch die stille Sommernacht, und – am stillen Fenster des leeren, öden Tanzsaales im Lamm sprach Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch mit einem verständnisvollen Blicke auf das dunkelschöne Firmament zu dem mit ihm lauschenden Reisegenossen:

»Hab' ich nicht recht gehabt? Gelt, hab' ich nicht recht gehabt? Hörst du – die Geischter sind los; jetzt wird es wieder eine Lust, zu leben! Ich meine, Ferdinando, daß auch unsere Stunde gekommen sei, und schlage vor, daß auch wir jetzt, und zwar ohne jegliches weitere Zögern – noch auf einen Augenblick – in den Ochsen gehen.«

»Ich nicht!« rief der sächsische Baron, mit den ausgesprochensten Zeichen des Haut- und Seelenschauderns vor der Vorstellung vom Fenster zurückfahrend. »Pechle, du wirst doch nicht?! Christoph, ich beschwöre dich, – sei Virgil, soviel du willst – ich bin dir bis jetzt durch alle Kreise der Hölle gefolgt; aber so tief steige ich nicht mit hinunter! Großer Gott, höre sie doch nur! Christoph, Christoph, sie schlagen dich ebenso tot, wie sie sich selber tot schlagen; – nachher bringen sie uns deine Leiche, und dann versetze dich in die Lage der Damen und in meine Lage. Bedenke, daß ich dann die Verpflichtung habe, dich nach Stuttgart zurückzuschaffen, und sage dir selber, was meine Frau unter solchen Umständen sagen würde! Liebster, Bester, ich bin Jurist und habe mehr als einer Sektion beiwohnen müssen als Protokollführer; bleibe bei mir, denn ich habe die vollste Gewißheit, daß ich dich nur als Sektionsobjekt wiedersehen werde, wenn du gehst!«

»O nei!« sagte Pechle gemütlich. »Weischt, i bin a Landesei'geborner und weiß mein Teil auf mich zu nehme und den Überschuß weiter zu gebe. Da sorge dich nicht, Sechserle! Geh du nur ruhig mit mir; ich halte es auch für dich als das Beste, daß du mit mir gehst. Willst du?«

»Unter keiner Bedingung!«

»Gut, dann gehe ich allein und überlasse es dir, hier die Honneurs zu machen. Du hast doch in Tübingen studiert und weißt, daß eine Schlacht, die im Ochsen beginnt, gewöhnlich im Lamm – oder umgekehrt – zu Ende geführt wird. B'hüt di Gott, alter Knabe und halt di gut –«

Er vollendete nicht; denn es hatte in der Tat den Anschein, als ob er nicht nur vollkommen recht habe, sondern es auch sogleich bekommen solle. Der Kampf hatte sich unbedingt bereits auf die Dorfgasse hinausgewälzt, in derselben selbstverständlich immer größere Dimensionen angenommen und schwoll bedrohlich gegen das Wirtshaus zum Lamm heran. Wie der Küster von Hohenstaufen am Rockschoß des englischen Baronets Sir Hugh Sliddery, so hing der deutsche Baron Ferdinand von Rippgen an den Schößen Christoph Pechlins, als ein blondhaariges Schwabenmädchen das liebe freundliche Gesichtle in die Tür steckte und rief:

»Sie! ihr Herra! – de beide Fraue drunte möchte de Herre bei sich habe – den mit dem kleine Bärtle: den andere net! De dicke Frau secht, ihr Ma möcht auf d'r Schtell zu 'r komma, und d' Dürre liggt in Krämpf.«



 << zurück weiter >>