Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das fünfte Kapitel.

Seit längeren Jahren war der Freiherr nicht in so teilnahmsvollem, ja erschreckt-zärtlichem Tone von seiner Gattin angerufen worden, als jetzt, und doch – doch hätte die bissigste, höhnischste Aufforderung zur Verantwortung, im Verlaufe seiner Ehe, nie einen solchen erschütternden Eindruck auf ihn gemacht, wie dieser, aus einem das Schlimmste befürchtenden Herzen hervorbrechende Schrei der Liebe. Wie einem auf der Folterbank Verendenden zum letzten Mal vor dem Erlöschen des Lebensfunkens ein alle erduldete Qual zusammenfassender Schauder sämtliche verrenkte Glieder durchzuckt, so durchschauerte den Baron dieser fragende Ruf: »Ferdinand?!«

Er erhob sich bei demselben halb, und sank auf der Stelle ganz zurück. Ewige Bewußtlosigkeit war unbedingt dem Gedanken an die demnächst unausbleiblich folgenden Auseinandersetzungen vorzuziehen. Ja, ja, lieber Ferdinand, hier war der Wurm, welcher nie stirbt; und drohend sah die Ewigkeit herein, und ersuchte die Baronin, sich auch auf dieser Blüte des Daseins niederzulassen, die Süßigkeit derselben aufzusaugen und – Honig daraus zu bereiten.

Der Baron war auf sein Kissen zurückgesunken, nachdem er versucht hatte, sich von demselben zu erheben; glücklicherweise aber war es dem Afterarzt und Pseudodoktor Christoph Pechlin gegeben, desto fester auf den Füßen stehen zu bleiben, nachdem er sich aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte. Er vermochte sogar noch mehr. Mit einer Verbeugung, welche ihm wahrscheinlich nicht Einer seiner früheren Kommilitonen zugetraut haben würde, trat er der gnädigen Frau entgegen und stellte sich ihr vor, ganz unbefangen eingedenk des Wortes: Wie machen wir's, daß dich meine Lucie ohne Widerwillen bei sich empfängt? –

Er nannte seinen Namen und gab sich als Hausgenosse zu erkennen. In kurzen, doch höchst wohlgesetzten Worten gab er der gnädigen Frau über sein früheres Verhältnis zu dem Assessor und Baron Ferdinand von Rippgen Nachricht, und freute sich unendlich, nun auch die Gattin seines Freundes kennen zu lernen; die Baronin ließ ihn nach einer kurzen Verbeugung reden und sah ihn nur an. Sie sah ihn an!

Wenn die Frau Baronin jemanden, der sich ihr vorstellen ließ oder sich selber ihr vorstellte, lange ansah, so war es kaum nötig, daß er sich in ein gutes oder sogar sehr gutes Licht zu stellen suchte; die gnädige Frau fand schon allein heraus, was er für sie bedeute, und er kam selten auf die Kosten seines Eigenlobes. Und welch ein Schleier war in diesem besonderen Falle sofort von den Augen der Gnädigen abgefallen! Lucie von Rippgen hatte bereits seit fünf Minuten den Doktor Pechlin seinem ganzen Werte nach erkannt, wußte ganz genau, wie sie sich von jetzt an ihm gegenüber zu verhalten habe, und hatte im Innersten ihrer Seele ihre Maßregeln bereits genommen. Wenn sie sich diesmal, was die letzteren anbetraf, ein wenig verrechnete, so lag die Schuld wahrlich nicht auf ihrer Seite. Die Bedeutung und der Wert des Platonübersetzers lagen zwar auf der Hand; jedoch die Art und Weise, wie er als Herr Christoph Pechlin behandelt werden mußte, war doch nicht so leicht herauszufinden. Daß dem Monstrum beizukommen war, stand fest; lassen wir also der gnädigen Frau die feste Überzeugung, daß sie ihm beikommen werde, unerschüttert. Die Menschen leben eben deshalb in Haufen auf der Erde, um einander Gelegenheit zu geben, ihren Scharfsinn aneinander zu erproben, ihr Mütchen aneinander zu kühlen und sich das Leben so angenehm als möglich zu machen.

Fürs erste betrug sich Lucie außergewöhnlich impertinent.

Fürs zweite log der Ex-Stiftler, wie er glaubte, mit ausnehmendem Geschick, und – drittens – verfehlte beides ganz und gar seinen gewünschten Zweck, – ganz und gar dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge auf dieser Erden zuwider.

Die gnädige Frau glaubte nicht, daß Pechle in der vergangenen Nacht durch ein schrilles Hülferufen Katharinens erweckt worden und für sein eilig gutmütiges Zuhülfeeilen durch ein Erkennen des Freundes in dem unbekannten, so plötzlich erkrankten Hausgenossen belohnt worden sei. Die gnädige Frau glaubte nicht an dieses plötzliche Unwohlsein ihres Mannes und noch viel weniger daran, daß nur der Jugendfreund durch sein schleuniges Ein- und Beispringen den Gatten gerettet habe. Sie konnte sich auf ihre Nase verlassen und blickte zugleich auf die leere und die halbvolle Weinflasche neben dem Sessel des Doktors, doch leider imponierte dieser Blick dem freundlichen Menschen gegenüber gar nicht.

Was ein beleidigtes Weib an Verachtung in ein Achselzucken zusammenfassen kann, das raffte Lucia von Rippgen zusammen und zeigte es Herrn Christoph Pechle aus Waldenbuch. Der Doktor Pechlin aber übersah die Gebärde vollkommen und wurde nur um einige Schattenstufen liebenswürdiger und zutunlicher; in seiner Widerlichkeit furchtbar, sah er sogar nach seiner Uhr und freute sich, die herrlichen Genüsse freundschaftlichen Seelenaustausches noch eine Weile ausnutzen zu dürfen. Und als darauf die Baronin sich erhob, ihm den Rücken wandte und an das Fenster trat, und er doch nicht ging, hielt sie ihn für dumm, und damit hatte Pechlin – für diesmal wenigstens – den Sieg gewonnen und beherrschte die Situation.

Der Held auf dem Sofa stand Höllenqualen geistiger und körperlicher Angst aus. Seine Phantasie zerarbeitete sich, nicht ohne Grund, in der Ausmalung dessen, was geschehen werde, wenn der Freund nach gemachter Bekanntschaft von seiner Hausgenossin Abschied genommen haben und in heiterer Sicherheit oben auf seiner Stube sitzen werde. Ach, der Baron wußte, daß er selber nicht in Sicherheit auf seinem Marterkissen liege! Verstohlen hielt er unter der überhängenden Tischdecke den schändlichen Verführer an einem Schoße seines schwarzen kandidätlichen Frackes, und Pechle verstand den krampfhaften Griff ganz gut, hatte Erbarmen mit dem wehrlos Darniederliegenden und ging noch nicht.

Nein, er ging noch nicht. Er wurde liebenswürdiger und liebenswürdiger, und die gnädige Frau gewann von Minute zu Minute mehr die Überzeugung, daß sie ihm ohne die geringsten Gewissensbisse den Hals umdrehen könne. Sie kam vom Fenster zurück und setzte sich von neuem. Sie rauschte von neuem empor und wollte mehr als einmal alles aufgeben und hinausrauschen; aber der uralte unheimliche Kitzel, zu sehen, wie weit ein Mensch seine Unverschämtheit treiben könne, hielt sie dann doch wieder zurück. Sie blieb und wurde, als Pechle auch blieb, gespensterhaft ruhig; aber der Studiosus der Theologie Christoph Pechlin war nicht umsonst aus dem Tübinger Stift ausgebrochen, – er blieb, er hatte sich längst vorgenommen, jeglicher Gespenster-, Geister-, und Geist-Erscheinung gegenüber – zu bleiben. Geradeso wie er sich vorgenommen hatte, nach dem Plato den Aristophanes zu übersetzen. –

Pechle trieb seine Unverschämtheit sehr weit, während die Baronin sich immer tiefer in den Charakter und die Lebensführung der berüchtigsten Giftmischerinnen hineinfand und in ihrem stillsten Herzen der Frau Lucretia Borgia ein makelloses Leumundszeugnis ausstellte. In ganz gehaltenem, elegisch-zärtlichem Tone sprach er von jenem schönen unschuldigen Tage, an welchem ihm der Freund zum ersten Mal begegnete, und selbstverständlich benutzte er die Gelegenheit, seinen Schwur, dem Freunde bis in den Tod Freund zu bleiben, nun auch vor der Gattin des Freundes zu wiederholen.

Er zitierte eine ganze Reihe wohl oder übel auf das Verhältnis passender Verse aus eigenen und aus fremden Poesien, und dann kam er auf den heutigen Tag.

Ruhig, ruhig – ruhig hörte ihn die Baronin an. Sie verzog jetzt keine Miene mehr.

Das nach dem gestrigen wunderholden Tage! Das nach dem Sonnenuntergang und dem nächtlichen Seelenaustausch in Heidelberg! Das nach den Tränen des Wiedersehens und des Abschiedes! Das nach dem gestrigen Zusammensein mit Miß Christabel Eddish! –

Nicht eine Miene verzog Lucia von Rippgen; der Exstiftler Christoph Pechle hatte keine Ahnung davon, was sich unter der weißen olympischen Stirn bewegte, was daselbst durcheinanderwogte, und wie der hülferufende Schrei, gleich einer aufgescheuchten, erschreckten Möve über den wirbelnden Wassern im Kreis umherfuhr.

»Christabel! Christabel! o Christabel!« Ja, Lucia schrie im Innersten ihres Daseins! Sie schrie nach Luft – nach Rache – nach Miß Christabel Eddish, und Pechle wurde immer gemütlicher, immer noch gemütlicher! Noch kannte er Miß Christabel nicht, er konnte also auch nicht wissen, wen die gnädige Frau sich zur Hülfe herbeirief.

Ruhig, ruhig, ruhig sah Lucia den Freund ihres Mannes an; aber von Zeit zu Zeit glitt ein Blick der Gattin auf den Gatten – auch ein ruhiger Blick, und doch entsetzlich in seinem klaren, kühlen Glanze.

Ferdinand erwiderte ihn nicht zum zweiten Mal. Daß sein Haupt auf dem Blocke lag, wußte er und fühlte er; jetzt legte er die fiebernde heiße Hand auf die Augen, und rote Feuerfunken hüpften vor ihnen umher.

»Gewiß, gewiß, gnädige Frau,« sprach Christoph Pechlin, »wir werden als gute Nachbarn und umgängliche Hausgenossen getreulich zusammenhalten. Verlassen Sie sich darauf! Sehen Sie, ich habe Theologie studiert, habe eine Übersetzung des Plato im Schubkasten liegen, und bin augenblicklich für sämtliche Lokalblätter des Landes hauptstädtisch-politischer und kriminalistischer Berichterstatter; aber mein Gemüt habe ich mir so frisch und grün erhalten, daß es allen meinen nähern Bekannten eine Freude und Rührung ist. Da liegt mein bester Freund, unser guter Ferdinandle. Gnädige Frau, es ist nicht das erste Mal, daß mir das Schicksal das Glück zuteil werden ließ, ihn aus großer Gefahr zu erretten! In vergangener Nacht schmeichle ich mir wieder einmal seinen Körper gerettet zu haben; wie oft ich jedoch sein besseres Teil, seine herrliche unersetzliche Seele durch geschickte Vermittlung im Kampfe mit den dunkelsten aller Mächte unverletzt erhalten habe, darüber fehlt mir in der Tat eine genaue Berechnung.«

Hier wagte es der Baron, seiner Angst zum Trotz, leise zu stöhnen; doch Pechlin fuhr rasch weiter fort:

»O, leugne es nicht, Bester! denkst du wohl noch dran, wie ich dir, nur infolge meiner hohen diplomatischen Begabung, ein mit einem rosaseidenen Bändchen umwundenes Briefpaket wieder verschaffte! Erinnerst du dich wirklich nicht mehr daran, wie Fräulein Hersilie Schnäpple in den Neckar gehen wollte? Besinne dich nur; es wird dir schon einfallen, wenn du dich nur recht besinnst.«

»Wie verhält sich das, mein Herr?« ächzte an dieser Stelle die Baronin, ihren festesten Vorsätzen zum Trotze.

»Wie ich sage. Aber beruhigen Sie sich, gnädige Frau; es ist kein Grund zu einem Sensationsartikel vorhanden. Das Fräulein ging nicht in den Neckar, sondern nur in die fromm-volkstümliche Literatur. Sie schreibt unter dem Namen –«

»Ich bitte dich, so bald als möglich wieder wohl zu werden,« sprach mit der Kälte eines Eisberges die Gattin zu dem Gatten, erhob sich abermals und verließ das Gemach, ohne sich den verdorbenen oder vielmehr recht wohlgeratenen Gottesgelehrten von neuem anzusehen. Die beiden Freunde befanden sich wieder allein, und Ferdinand von Rippgen griff sich in heller Verzweiflung mit beiden Händen in die Krawatte, riß sie sich ab und zerknüllte sie, im tödlichsten Erstickungsgefühl nach Luft ringend.

Christoph Pechlin war mit der Baronin von Rippgen aufgestanden, schritt, wie vorhin die Dame, zum Fenster, sah einige Sekunden lang hinaus, kam zurück, beugte sich über das Lager des Freiherrn und sagte:

»Du, ich halte mich für ein mit dem zum Durchkommen durch diese Welt nötigen Intellekt ausgerüstetes Wesen!«

»Was soll daraus werden, und was hast du mir da angetan?«

»Ruhe, Ruhe, Alterle! Was ich dir angetan habe? Ich habe für dich und mich momentan mit deinem guten Weible gebrochen. Es war nicht anders möglich; aber verlaß dich darauf, wir sind auf dem besten Wege zu einer freundschaftlich behaglichen Verständigung. Rege dich nicht unnötig auf; da ich dich einmal wiedergefunden habe, so werde ich dich nimmermehr verlassen – grüß dich Gott und – gesegnete Mahlzeit.«

Damit ging auch er, und Ferdinand – Ferdinand war allein – allein in der Erwartung, daß seine Frau demnächst wieder zu ihm zurückkehren werde.



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