Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das einunddreißigste Kapitel.

Mein Väterliches hat der alte selige Herr jedenfalls selber unter die Leute gebracht, wenn dergleichen ja vorhanden gewesen ist. Ich habe wenigstens nichts davon zu Gesicht bekommen und genossen,« sprach Christoph Pechlin. »Und wie hat mir mein gut alt Mütterle vor zwei Jahren, bei ihrem seligen Abscheiden, die tausend Gulden und den Hausrat auf die Seele gebunden; aber dran muß der Mammon jetzt!« fuhr er fort. »Der Hausrat freilich ist schon längst dem allgemeinen Weltverkehr wieder übergeben; aber die tausend Gulden, – – ja, die würde ich ja mit dem allergrößesten Gusto drangeben, wenn« – – – er fuhr nicht weiter fort, sondern schwieg und bezog eine sehr anständige Junggesellenwohnung an der Königsstraße, nachdem die Tage immer kürzer, die Nächte immer länger, die Nebel immer dichter geworden waren, – kurz, nachdem es Herbst im Ernste geworden war, und Christabel den Aufenthalt in Untertürkheim für a nuisance, für eine Unerträglichkeit erklärt hatte.

»Gottlob, daß man sich wieder näher ist!« hatte Lucie gesagt. »Das Zusammenrücken unter Freunden ist doch das Beste in der Welt.«

»Das ist es!« hatte Christabel zugestimmt, und darauf war nichts weiter zu bemerken gewesen. –

Das gute, alte, brave Pfarrmütterle dahinten im Schönbuch in seinem Witwenstüble, in seinem Lehnstuhl und hinter seinem Spinnrocken! Das gute Mütterle, dem der ungeratene Sohn in der wüsten Residenz, das Bübele, das so ganz vergeblich das Landexamen bestanden hatte und zu Maulbronn und in Tübingen im Stift so ganz und gar vergeblich für den Dienst Gottes groß gezogen worden war – so manchen Kummer und Herzensgram gemacht hatte, das liebe alte Mütterle hatte sich wahrlich nicht eingebildet, wozu sein Mitgebrachtes samt den saueren Sparkreuzern dermaleinst verwendbar sein werde!

»Jetzt hätt i es sehe möge!« sagte der Exstiftler wehmütig, als er die Staatspapiere des alten Frauele versilberte, und dann dachte er von neuem an Miß Christabel Eddish und legte sich zum ersten Male die Frage vor: was wohl das alte Frauele zu der gesagt haben würde. –

Das Jauchzen der Freude war auf den Hügeln verstummt; man knallte nicht mehr in den Sonnenschein hinein; die Raketen, Schwärmer und Frösche hatten ausgezischt und ausgeknattert, und bengalische Flammen und romanische Lichter erschienen höchstens noch auf den Nasen und den Wangen der ausgepichtesten Bewohner des Landes, wie sie in den Kneipen saßen und den »Neuen« beredeten und seine Verdienste gegen die verflossenen Jahrgänge abwogen.

Es regnete jetzt häufig auf den Bergen und im Tal, und es war ein trüber Regentag, an welchem der Baron Ferdinand von Rippgen an die Tür der neuen Wohnung seines Freundes, des Doktors Christoph Pechlin, klopfte.

Er hatte geklopft und hätte eintreten können, tat es aber nicht; denn drinnen sang man: – Pechle sang!

Er sang, und daß er bezaubernd sang, ging schon daraus hervor, daß der Baron länger als eine Viertelstunde mit dem Türgriff in der Hand stand und staunend horchte, ohne ein Wort des choralähnlichen Getöns zu verstehen. Wir aber, die wir jedes Wort verstehen, verweilen mit dem erstarrten Ferdinand auf der Schwelle und horchen, womöglich noch gespannter als er.

Wie Unkenruf aus Teichen erklang es von drinnen:

»Falsche Liebeslust im Herzen
Macht ja, daß die Lichteskerzen
Dunkel brennen oder grau.
Darum, wenn man recht will bitten,
Muß man jene auch ausschütten,
Oder man ist nicht Jungfrau;«

und:

»Es muß ihm sehr weich ums Herz sein!« sagte draußen der Baron.

Drinnen schien der Sänger zu blättern, und dann schlug er auf sein Buch und wimmerte:

»Seite Tausendundzweiundzwanzig!« sofort nach der Melodie: O, wie selig sind usw. – fortfahrend:

»Jünglinge sind auch Jungfrauen,
Die mit Weibern sich nicht trauen
Und nicht in der Ehe sein:
Wenn sie sich ganz Gott ergeben
Und ganz keusch und züchtig leben,
Also heilig, recht und rein.

Männer aber, die sich trauen.
Nennet man nicht mehr Jungfrauen,
Sind sie gleich dem Herrn vertraut.
Heilig können sie auf Erden
Dennoch auch daneben werden.
Und gelangen zu der Braut.

Freilich, es lehrt die Erfahrung,
Daß der Ehstand ist Verwahrung
Für das männliche Geschlecht.
Jünglinge sind öfters Narren;
Aber in dem Kreuzeskarren
Kommen ihrer viel zurecht.«

»Es geht wahrhaftig nicht gut aus mit ihm!« sagte der Baron an der Tür. »Es kann zu keinem guten Ende führen!«

Drinnen schlug der melancholische Sänger von neuem auf das Buch und fuhr jetzt wie wütend fort, und zwar nach der Melodie: O Durchbrecher! –

»Wolltest du dem Herzen trauen,
Das so gern den Irrweg wählt,
Und du hast davor kein Grauen:
O so ist es schon gefehlt.
In der Lust steckt ein Begehren,
Das ist Schlangentrieb und Brut,
Und will sich mit Gleichheit nähren,
Darum ist das Fliehen gut.«

»Wenn ich nur eine Ahnung von dem hätte, was er in seinem Elend herausheult!« seufzte kopfschüttelnd der Baron. »Ach selbst Lucie müßte Mitleid mit ihm haben, wenn sie dieses hörte.«

»Seite Tausendundfünfzehn!« rief drinnen der Sänger, der das folgende bereits auswendig zu kennen schien, und mit dem Zeigefinger zwischen den Blättern sein Buch zum Taktschlagen auf dem Fußboden verwendete:

»Lust ist einer Blume ähnlich,
Sie ergießet Samenstaub.
Wer nicht fliehet, macht sie sehnlich.
Daß sie ausgeht auf den Raub.
Denn der Staub will sich vermengen,
Dann wird die Tinktur befleckt;
Weil sie mit dergleichen Dingen
Schon wie im Bedürfnis steckt.«

»Ich kann es nicht länger ertragen!« rief der Baron. »Ich habe ihn in Tübingen doch in mancherlei Stimmungen kennen gelernt; aber dieses überschreitet die Grenzen. O wenn ihn doch Lucie hörte!«

Lucie würde ihm sicherlich mit Vergnügen zugehört haben, und trotz seinem Worte trug's auch der Baron noch; Pechle aber sang:

»Ein Jüngling ist zu aller Sünd
Von Jugend auf geneiget;
Ein Jüngling als ein Adamskind
Bald Böses von sich zeiget;
Ein Jüngling ist die kleine Welt,
Dem unsre große Welt gefällt,
Und dies ist's, was mich beuget.

Was außer einem Jüngling ist,
Das ist auch in ihm drinnen;
Drum er nach allem Bösen dürst't
Mit innern Sünden-Sinnen.
Von außen wirkt's auch auf ihn zu,
Und will, daß er das Böse tu';
Und wer will da gewinnen?

Der Jüngling ist ein Gegenstand
Der Höllen und der Erden
Allhie in diesem Erdenland,
Bis er wird göttlich werden.
Die Wunder jener Welten beid
Am Jüngling haben ihre Freud,
Da hat er dann Beschwerden!«

Und jetzt hielt der Baron es wirklich nicht länger aus. Er riß die Tür auf und stürzte hinein, blieb aber ebenso starr, wie auf der Schwelle, drei Schritte weiter ins Zimmer hinein stehen. Ein eigentümliches Schauspiel zeigte sich seinen Augen.

Ein Schauspiel war es wirklich zu nennen, was er sah. Die letzte Szene einer Tragödie pflegt sich gerade in solcher Weise dem tränenvollen Blick des gerührten, hastigatmenden Publikums aufzudringen; einerlei, ob die Tränen etwa auch von dem Gegenteil der tiefsten Rührung, nämlich von der höchsten Heiterkeit und dem zwerchfellerschütternden Lachen herrühren.

Wie in der letzten Szene eines Trauerspiels einer, eine oder mehrere entweder auf dem Rücken oder auf dem Bauche liegen, so lag hier der Exstiftler Christoph Pechlin in der Mitte seines Gemaches lang ausgestreckt auf dem Fußboden und zwar auf dem Bauche. Mit dem Haupte der Tür und den Beinen und Füßen dem Fenster zugewendet, lag er. Sein Gesicht ruhte auf einem Sofakissen und in der weit hinaus geschleuderten linken Hand hielt er den zehnten Band der sämtlichen Schriften Michel Hahns, des wackern frommen Bauersmannes und Gutsverwalters der Frau Gräfin Franziska von Hohenheim zu Sindlingen. Diesen aus der Bibliothek des Vaters in die seinige hinübergeretteten Autor hatte er hervorgesucht zu seinem Troste! Dieser Poet allein hatte für seine gegenwärtige Stimmung gepaßt! Aus diesem Dichter hatte er soeben gesungen, und war imstande, weiter aus ihm zu singen, auch ohne dazu aufgefordert zu werden.

Zu seiner Rechten aber stand ein verdächtig aussehendes Glas mit dem Reste einer Flüssigkeit von absonderlich scharfem und durchdringendem Geruche.

»Christoph?!« rief der Freund; allein der Hingestreckte rührte sich nicht, hob nicht das Gesicht von dem Sofapolster auf. Nur ein dumpfes Röcheln, der letzten Atemnot eines Erwürgten unter dem Deckbett hervor, eines Asphyxierten mitten aus dem dicksten Kohlendampfe heraus vergleichbar, erreichte das Ohr des Barons.

Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte den: er sah stier auf das Glas, und außer sich vor Bestürzung, Angst und Schrecken schrie er:

»Herrcheses, Herrcheses! Pechle?! Pechlin, was ist dir? Was hast du? Hülfe – Hülfe – es war sein Sterbegesang – er hat Gift genommen, er stirbt – er ist tot! Gift, Gift, Gift! O Herrcheses, ja er ist tot, tot – er hat sich richtig vergiftet!«

Da hob der Sterbende oder Tote noch einmal das Haupt, den wirren Haarwulst aus der Stirn zurückstreichend, empor, starrte den Jugendgenossen aus weit und stupide aufgerissenen Augen und mit sehr erweiterten Pupillen an und stöhnte:

«Yes! Er hat sich vergiftet . . . Hic jacet! . . . da liegt er!« – – – – – – – – –



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