Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das sechsunddreißigste Kapitel

Im Paradiese ist es schön. Da sitzen die Seligen bankweise, und die auf Erden brav gewesenen Tanten haben auch ihre Bank. Der im unsinnigsten Laufe durch die Gassen von Frankfurt am Main stürmende Pechle malte es sich aus, wie behaglich auch seine Tante da oben sitzen könnte unter den anderen, und seine Verzweiflung stieg, je lebendiger und farbiger und behaglicher er sich das ausmalte, was sein konnte, aber leider nicht war. Und zum Wirtshause mußte er zurück; sie warteten auf ihn mit dem Abendessen und hatten ihm seinen Platz auf der Bank leer gelassen, seinem Engel gegenüber. O er sollte ebenso weich und noch weicher gebettet werden, wie sein Freund Ferdinand von Rippgen, der seinen Sitz neben der Gattin während der Abwesenheit des glücklichen Erben hatte festhalten müssen und, sonderbarerweise, »wie auf Kohlen« gesessen hatte.

Der Exstiftler Christoph Pechlin hatte nicht selten recht einfach und unbehaglich zu Nacht gegessen; aber so üppig Leib und Seele umkehrend wie in dieser Nacht noch nie. Wie Macbeth konnte er beim Schluß der Tafel und nachdem er den Damen eine gesegnete Mahlzeit gewünscht hatte, zu sich selbst sagen:

Ich hab' zu Nacht gegessen mit Gespenstern,
Und voll gesättigt bin ich von Entsetzen!

Daß er sich dazu sagen mußte, daß er diese Gespenster selbst beschworen habe, und daß sie nur auf sein eigenes Wort gekommen waren, die selige Tante voran, gab ihm weiter keinen Trost und dem Baron Rippgen auch nicht. –

Die Damen waren bei Tisch natürlich sehr inquisitorisch gesprächig gewesen, und sie hatten das Recht dazu gehabt. Sie hatten ihre Einwilligung dazu gegeben, daß Christoph sich sofort zu seinem Rechtsbeistand begeben hatte; aber nun verlangten sie auch die genaueste Auskunft über die Tante, ihre letzte Krankheit, ihr betrübtes Abscheiden und ihre fröhliche Hinterlassenschaft, und Pechle mußte berichten. Miß Christabel Eddish fragte, und Pechle berichtete, das heißt, er fraß und suchte jede Antwort durch einen angsthaft fingierten Heißhunger solange als möglich hinauszuschieben, aber antworten mußte er auf jegliche Frage endlich doch. Sie, das heißt Miß Christabel, hatte sich durchaus nicht mit der bloßen Notiz, daß der Herr Doktor Schmolke ihren Verlobten zu einer neuen Konferenz auf den folgenden Morgen um halb zwölf Uhr eingeladen habe, zufrieden geben können. Sie hatte selbstverständlicherweise mehr wissen wollen. Die Tante interessierte sie doch sehr, und ihre Fragen nach ihrem Aussehen, ihrem Alter, ihrem Charakter und ihren sonstigen nunmehr verewigten Um- und Zuständen wollten kein Ende nehmen. Zuletzt fragte sie nach der Wohnung der Seligen, und setzte durch diese Frage mehr als durch irgendeine andere ihren unseligen Verlobten in Verwirrung.

Mit dem letzten erbärmlichen Reste seiner früheren Unverschämtheit brachte er aber auch das noch zustande.

»Hin–ter – der Schlimmen – der – schlimmen – Mauer,« stammelte er, und nannte auf gut Glück eine gar nicht vorhandene Hausnummer. »Es ist das alte venetianische Gebäude rechter Hand, links um die Ecke – ein nettes Haus, zwei weinende – männliche Karyatiden unter dem Balkon über der Haustür – ein schönes, wurmstichiges altes Haus – o wie glücklich werden wir vielleicht in diesem Hause sein, liebes Kindle.«

»Ich liebe eigentlich nicht diese alten Häuser, dearest«, sprach Christabel. »Ich habe eine Erfahrung darin, Lucy; dieses Pittoreske ist gewöhnlich feucht und der Gesundheit nicht sehr zuträglich. Es riecht auch meistens nach mushrooms, nach champignons, nein, nach German tinder – o yes, es riecht malerisch nach German tinder. Doch dieses ist gleichgültig heute abend; – hat dein attorney, dein Rechtsanwalt etwas dagegen, daß wir dich morgen begleiten zu dieser Konferenz?«

Ein Gefühl, als wenn jemand vor seinen Augen und Ohren mit den Fingernägeln an einer Kalkwand herunterkratze, durchschauderte den Sünder mit der Erinnerung des Tones, in welchem Schmolke ihn eingeladen hatte, alle mitzubringen, die er bei sich habe.

»Gewiß nicht! Sehr angenehm! Freunde – ganz erwünscht – bei – der Verhandlung!« stotterte er, und Christabel machte dieser Verhandlung sofort ein Ende, indem sie bestimmt sagte:

»Dann werden wir dich sicherlich begleiten; – alle – nicht wahr, Lucy?«

Und Lucy lächelte ihr süßestes Lächeln:

»Gewiß, mein Liebchen! Aus der Zeit der Amtstätigkeit meines Mannes ist mir zwar sonst nichts verhaßter als diese tötenden, dummen, langweiligen, juristischen notwendigen Übel; allein, daß ich dich und unsern teuren Freund morgen auf diesem Wege zum Glück begleiten kann, ist mir selber das schönste Glück. O Christabel, Christabel, was werden wir diese Nacht träumen? Nicht wahr, Herz, du erzählst mir morgen früh auf dem Wege zu diesem – diesem Herrn Schmolke alle deine süßen Träume?!«

Damit war die Tafel aufgehoben. Drei Minuten lang waren zum erstenmal an diesem dranghaften Tage die beiden Freunde, Christoph und Ferdinand, auf dem Korridor unter sich. Sie hielten sich an den Schultern, ihre Nasenspitzen bohrten aufeinander ein, ihre aus den Höhlen gequollenen Augen angstvoll gleichfalls; hätten sie Hasenohren besessen, so würden dieselbigen wahrscheinlich Wirbel der zitterndsten Aufgeregtheit geschlagen haben. Und so standen sie und besprachen sich – flüsterten sich gegeneinander aus. Doch schon in der vierten Minute erklang aus Lucys Zimmer Lucys Glocke und Lucys Stimme. Noch einmal riß der Baron seinen Pechle krampfhaft an den Busen und riß sich dann los:

»In Gottes Namen denn: morgen mittag am Eschenheimer Tore!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Auch diese Nacht ging vorüber; obgleich sowohl Christoph wie Ferdinand, ihre wüsten Köpfe dann und wann vom Kopfkissen hebend und nach der Uhr schauend, es jedesmal bezweifelt hatten. Nach Mitternacht sagte an seinem Stammtische hinter der Schlimmmauer im Kreise seiner kreuzfidelen aber jetzt etwas schläfrigen Kneipgenossen, der Doktor Leopold Schmolle seine Uhr hervorziehend:

»Da hawwe mer's mal widder. Uih, da geht's ja mal widder recht ordentlich auf ein Uhr. Gottlob! denn wisse Sie, meine Herre, was mich anbetrifft, so glaub i a recht sonderbaren Tag angebrochen zu haben. Schad ist's, daß der Dachreiter nicht vorhanden war! Dem hätt' ich noch a Wort zu sagen gehabt. Na, heut abend komme mer dann wieder zusammen, und so – bitt ich jetzt schon ums Wort für heute abend.«

»Miraculum! Schmolle verlangt wieder einmal das Wort!« rief ein städtischer Oberlehrer im tiefsten Baß vom anderen Ende des Tisches.

»Und er soll's hawwe, Herr Doktor! Vivat der internationale Verkehr! Ihr Herre, man hört immer etwas, wenn Schmolle das Wort verlangt, und ich halte ihn für eine Zierde jedweder Gesellschaft, so ihre gemütlichen Stunden nicht nach der Klepsydra, will sagen, der Wasseruhr abmißt. Dixi, und jetzt gehn mer nach Hause,« sprach würdig der Präses hinter der Schlimmmauer, und so ward, wie gesagt, aus Abend und aus Morgen der nächste Tag – »Uh!« wie der Doktor Pechle bemerkte, als er zwischen fünf und sechs Uhr den ersten grauen Strich im Osten vor seinem Fenster über den Dächern zu Frankfurt am Main, – Francofurti ad Moenum, wie man hinter der Schlimmmauer sagte, – dämmern sah. –

Da's einmal angefangen hatte zu dämmern, so dämmerte es denn auch wie gewöhnlich richtig weiter. Auf den grauen Schein folgte ein rosiger am östlichen Himmel, und hier ist die Stelle, an welcher wir der Sonne ein aufrichtig gemeintes Kompliment zu machen haben.

Wir sind ihr verpflichtet, der Sonne, und bedanken uns bei ihr. In anerkennenswertester Weise hat sie uns durch dieses ganze Buch gnädigst begleitet und beschienen; – die Leute, mit denen wir es diesmal zu tun haben, haben freilich ihrerseits sonderbar nebelige Stunden zu durchleben gehabt; allein uns war die Sonne gnädig, und um ihrer Güte die Krone aufzusetzen, leuchtete sie auch in die Schlußkatastrophe mit heiterstem Behagen hinein.

Es war wohl ein wenig kalt und novemberwindig; doch mit ihrem trockenen Gassenstaub hatten sich die Frankfurter abzufinden, nicht wir. Die Sonne stand am blaßblauen, wolkenlosen Himmel und um elf Uhr dreißig Minuten so ziemlich gerade über dem Eschenheimer Torturm, und sah unsere vier Freunde die Eschenheimer Gasse herabkommen. Sie sah auch den Advokaten und rechtsgelehrten internationalen Doktor Leopold Schmolke sein Haus verlassen und sah, wie er der kleinen erwartungsvollen Gruppe unter dem Tore eiligst zuschritt, schon von weitem seine herzliche Freude zu erkennen gab, den Hut vor den beiden Damen lüftete, der Miß Christabel, zu einigem kühl abweisenden Erstaunen, zutraulich und lächelnd die Hand drückte und zuletzt auch die zwei Herren höflich und freundlich begrüßte.

Die Sonne mußte ihre Lust an dem Doktor Schmolke haben, sie lächelte immer wohlwollender; aber wohlwollender als der Doktor selbst konnte sie doch nicht lächeln. Was hätte man diesem Manne und diesem biederen Gegrinse nicht anvertraut? Vermögen – guten Ruf – die zartesten Geheimnisse – alles, alles lächelte er zu sich heran, lächelte er in seine Schreibstube hinein, verwaltete er lächelnd und – verwaltete er gut, ehrlich und nicht allein zu seinem eigenen Vorteil. Seine ärgsten Feinde mußten ihm das letztere zugestehen, und wer sich acht Tage später um Auskunft über den Dr. jur. Schmolke an den britischen Kapitän Sir Hugh Sliddery gewendet hätte, dem würde der Kapitän mit Tränen der Dankbarkeit im Auge seinen Rechtsbeistand gepriesen und anempfohlen haben, und wie der englische Ritter lobten und priesen ihn ungezählte Scharen seiner Klienten.

»Pünktlich wie die Sonne!« sprach der Doktor Schmolke, noch einmal im Kreise umherblickend. »Und da wir denn sämtlich vorhanden sind, so bitte ich die Herrschaften, mir gefälligst folgen zu wollen.«

Dann seinen Freund Christoph Pechlin beiseite schiebend bemerkte er weiter:

»Mein Liebster, heute morgen muß ich die Ehre in Anspruch nehmen!« und, der holderrötenden Christabel den Arm bietend, schritt er mit einer zum Folgen einladenden Handbewegnng voran durch das Eschenheimer Tor.

»Ein wundervoller Herbsttag!« sprach er laut; und leise – rief, tief im Busen ein anderes Wort bewegend, nämlich:

»O du, du – du Unnennbare, du – grünäugige, fischblütige Polypin, hab' ich dich endlich soweit?! o du heillose, hübsche Perlmutterhexe, werd' ich dich endlich los aus den Akten?! O Pechle, Pechle, Pechle!« . . . . .



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