Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das achte Kapitel

Im goldenen Zeitalter kannte man keine Gespenster. Im silbernen hatte man vielleicht eine Ahnung davon, daß es dergleichen geben könne, doch niemand hatte eins gesehen. Aber im eisernen wimmelte es von ihnen in allen Nächten zwischen zwölf und ein Uhr; und heute, wo der Welt Entwicklung doch unbedingt eine Wendung zurück gegen das goldene Glück des saturnischen Alters genommen hat, wo Friede und Freiheit, Glück und Behagen sich von allen Seiten her die Hände reichen, sind wir schlimmer daran denn je; denn heute erscheinen die Geister im Vertrauen auf die höhere Bildung und das kältere Blut der Erdbewohner unbefangen und mit Vorliebe am hellen Mittage, und irren sich dann und wann doch in ihrem Vertrauen auf den klaren Blick und die ruhige Überlegung des jetzt lebenden Menschengeschlechts. Wahrlich, die Gespenster, welche den Menschen am hellen Mittag erschrecken, sind schlimm; und jedermann, der in den Ammengeschichten des Daseins Bescheid weiß (und wer weiß heute nicht darin Bescheid?) kennt sie. Dem Kettengerassel und Türklappen, dem Rascheln, Rauschen, Seufzen, Lachen, Stöhnen und Weinen um Mitternacht fühlen wir uns allmählich gewachsen, so daß wir sogar angefangen haben, uns philosophisch lustig darüber zu machen; allein dem Spuk, der uns am hellen, lichten Tage, in der belebten Gasse, auf dem wimmelnden Markt, im summenden Gerichtssaal oder der federkritzelnden Schreibstube angrinst, die Spitze zu bieten, sind wir armen nervenschwachen Herren und Herrinnen der Schöpfung weder philosophisch noch unphilosophisch noch lange nicht imstande.

Geschlossenen Auges, mit der einen Hand sich gegen die kalte Bronze stützend, mit der andern krampfig den krampfdurchzuckten Brief der Freundin in der Tasche zerknitternd, lehnte Miß Christabel Eddish im Hinterkopfs der Bavaria, und länger als fünf Minuten lehnte sie so da. Als sie dann das Auge, oder die Augen, die großen blaugrüngrauen Augen unter den langen blonden Wimpern wieder aufschlug und sich allein sah, sprang sie mit einem Wutschrei in den Vorderkopf:

»Hau! Nau! o dear me! o the wretch! Der Schuft, der Elende! der Nichtswürdige!« –

Im goldenen Zeitalter würden ihre Aufregung und die Äußerungen derselben unbedingt allgemeines Erstaunen erregt haben: wir auf der Umkehr nach dem Reiche Saturns begriffenen Söhne und Töchter des Tages wundern uns gar nicht darüber. Wenn wir auch die Härte und Schärfe der Exklamationen bedauern, so wissen wir nur zu gut, welche Steine, Verhacke, Gräben und Gestrüppe den Weg zur Ruhe, zum Frieden, zum Ideal versperren, um mit unsern Nachbarn und Nachbarinnen auf diesem Wege zu hart ins Gericht zu gehen. Gutmütig blicken wir über die Schultern nach ihnen hin, flüstern: Jo Saturnalia! Bona Saturnalia! und marschieren weiter, behaglich, solange das Behagen dauert. –

Zitternd vor Wut und Aufregung blickte Miß Christabel von neuem durch die Öffnungen im Haupte der Schutzgöttin des Bayerlandes. Sie sah dem Schrecknis nach, welches – soeben vor ihr so merkwürdig entsetzt und so blitzschnell durch den Bauch der Bavaria Reißaus genommen hatte. Rekapitulieren wir, was sie sah!

Wolkenlos, in reinster Bläue, überspannte der Mai-Mittagshimmel die schöne Welt, die Alpen, die Stadt München und vor allen Dingen die Theresienwiese. Aber die blitzenden Zacken am Horizonte hätten sich sämtlich in feuerspeiende Berge verwandeln und schwefelige Flammen bis zum Zenit hinausschleudern können, so würde das kaum die Aufmerksamkeit der britischen Jungfrau auf sich gezogen haben. Da lag der rote Murray ruhig am Rande des Weges, und da hielt die Droschke, welche das englische Fräulein zur bayerischen Ruhmeshalle und ihrer riesigen Wächterin geführt hatte, auf dem Wege, und der Kutscher mit untergeschlagenen Armen und nickendem Haupte schnarchte ruhig auf seinem Bocke. Der Wächter des Bayerischen Ruhmes, der Riesin und des Löwen schnarchte wahrscheinlich ebenfalls in süßer Mittagsruhe im Innern seiner Amtswohnung. Kein Mensch war zu sehen, so weit die Sendlinger Landstraße zu überblicken war. Kein Mensch auf der Sendlinger Landstraße! aber da – da auf dem falben Grün der unermeßlichen Wiese – viel näher der Stadt als der Bavaria – jenes hüpfende, helle, von Augenblick zu Augenblick winziger werdende Pünktchen – war das ein Mensch?

Ei ja, – wie auch Miß Christabel Eddish ihrerseits darüber denken mochte – es war ein Mensch und zwar der Besitzer des Reisehandbuches am Rande der Böschung der Theresienwiese! Es war der Kapitän zu Fuß, Sir Hugh Sliddery, und die lange schmale Hand im veilchenblauen Handschuh auf dem Rande des Gucklochs zuckte, und das große grünliche Auge, das durch das Guckloch dem Flüchtling nachsah, schleuderte Blitze ihm nach, bis die Ferne und die Stadt ihn seinen Strahlen entzogen hatten.

Als er verschwunden war, schlossen sich die Augen einen Moment, dann legte sich die lange feinbehandschuhte Hand über die zornig zusammengezogenen Brauen; Miß Christabel Eddish faßte sich, wie eine englische Maid überall sich zu fassen versteht. Sie klemmte das Glas wieder fest auf die Nase und stieg – glitt gleichfalls abwärts durch Busen, Magen, Unterleib usw. der ehernen Jungfrau und kam ebenfalls auf dem festen Boden zu den Füßen des Monuments wieder zum Vorschein.

Da stand sie, sich noch immer mehr fassend, blickte nach dem Riesenhaupte, in welchem ihr soeben das Traumhaft-Fürchterliche begegnet war, zurück und empor, glaubte sogar in dem biederbehaglichen Gesicht des ruhig auf seinem Hinterteil sitzen gebliebenen bayerischen Löwen einen Zug diabolischen Hohnes zu bemerken, wandte sich mit verachtend zuckender Lippe, und sah sich nun auf der Erde um.

Schrill zirpten die Grillen im Grase. Sonst war weiter kein Laut in der heißen Mittagsstunde zwischen zwölf und ein Uhr zu vernehmen. Noch immer schlief der Kutscher auf dem Bocke der Droschke, und der schläfrige Wächter, der dem Fräulein das Loch zu Füßen der Bavaria aufgemacht hatte, schlief gleichfalls im Stehen weiter und zog sich sofort nach getaner Pflicht und über die nicht über die Taxe zahlende Touristin sich wie im Traume ärgernd, brummend in sein kühles Gehäuse zurück.

Noch einen Augenblick, und Christabel spannte den Sonnenschirm auf, – noch ein Zusammenschaudern und dann ein Entschluß! ein fester, eiserner, unumstößlicher, unerschütterlicher Entschluß, den Murray vom Rande des Weges aufzunehmen!

Da lag er freundlich und friedlich im Sonnenschein; und ganz und gar sich fassend, schritt das Fräulein auf das rote Buch zu, sah auf es hin und – ergriff es mit einem blitzschnellen Griff, wie man wohl ein böses, häßliches oder giftiges Thier, eine Kröte oder Schlange im Grase packt. Krampfig klemmten sich die feinen Finger um das unschuldige Reisebuch; aber der größeste Ekel war damit denn doch überwunden. Fest die Beute an sich drückend, schritt die Dame zu ihrer Droschke hin, berührte den Kutscher mit der Spitze ihres Sonnenschirmes, rief dem grunzend aus dem Schlummer Auffahrenden die Adresse ihres Hotels zu, machte ihm endlich klar, wo er sich befinde und was man von ihm verlange, stieg in den Wagen, warf den Murray auf den Vorder- und sich erschöpft auf den Rücksitz und rollte die Landstraße hinab, die Theresienwiese entlang dem Sendlinger Tore zu.

Wahrlich, erschöpft lag sie auf den staubigen Polstern, das rotbraune Buch auf dem Sitze vor sich mit einem wahrhaft grotesk-komischen Gemisch von Widerwillen, Neugier, Wut und erstickten Tränen im Auge haltend. Ehe sie es einer weiteren und näheren Untersuchung unterwarf, mußte sie sich noch bedeutend mehr an seinen Anblick gewöhnen, und solange der Wagen im Staube der Landstraße fuhr, war es ihr nicht möglich, das Grauen soweit zu überwinden, um es von neuem aufzunehmen. Sie ging unter in der Betrachtung, und erst als sie in das Tor und die Stadt München hineinrollte und sich wieder von gehenden, reitenden, fahrenden und im Notfall zu Hülfe zu rufenden menschlichen Wesen umgeben sah, wagte sie einen weitern Schritt gegen das sonst so harmlose schriftstellerische Erzeugnis in rotbrauner Leinwand. Sie gab ihm einen Stoß, einen hastig-heftigen Stoß mit dem Sonnenschirm und zeigte dabei eine nicht geringe Ähnlichkeit mit einem den ersten Schnabelhieb auf ein Krokodillenei führenden Ibis weiblichen Geschlechtes. Und wie der Ibis, wenn er seinen Ekel überwunden hat, das Ei mit steigendem Wohlbehagen ausschlürft, so durchblätterte Miß Christabel Eddish das Buch, nachdem sie es, nach dem Stoß, mit spitzigen Fingern aufgenommen hatte, hastig, eilig und mit immer höher steigendem Interesse.

Sie blätterte sich mit ganzer Seele hinein, und das war kein Wunder! Wer würde ein von einem Gespenst zwischen Tür und Angel auf der Flucht verlorenes Reisehandbuch mit geisterhaften Randglossen aus der Nachtseite der Natur heraus, nicht mit zitternder, atemloser, atemanhaltender Spannung durchblättern? Leider wahrscheinlich sehr viele unserer braven Landsgenossen! Drei Viertel der deutschen Nation würden unbedingt ihren Fund getreulich der Polizei überliefern, und es ruhig abwarten, wie diese darüber verfügen werde. Gewissermaßen können wir diese drei Viertel unseres Volkes auch nur darum loben; denn nicht alles, was ein Geist verliert, paßt in das intellektuelle Verständnis des Finders und ist noch weniger geeignet, im allgemeinen Bewußtsein sich zu verbreiten. Das wäre freilich etwas Schönes – und ein ärgerlich Ding für Staat und Kirche, wenn ein Jeglicher das, was die Geister auf ihren Wegen bei Tag und Nacht verlieren oder gar von sich werfen und um sich umherstreuen, sich aneignen und ohne Bewilligung höhern Ortes ruhig behalten dürfte! Malen wir uns dieses ja nicht weiter aus, sondern halten wir uns ruhig an die althergebrachte und durch die Jahrtausende erprobte Weisheit unserer Konsistorien, medizinischen und juristischen Oberkollegien, Hoftheaterintendanturen, akademischen Senate und so weiter! Das, was Miß Christabel Eddish in ihrem Funde fand, soll sie jedoch, kraft unserer eigenen Machtvollkommenheit, zu ihrem Nutzen ruhig sich aneignen und verwenden dürfen. –

Das Buch mußte für sie ein unermeßliches Interesse haben! Daß der Name Sir Hugh Sliddery auf der ersten Seite stand, war das Allerwenigste. Aber es befanden sich Bleistiftnotizen mannigfaltigster Art darin, und Miß Christabel stieß mehr als einmal darüber ein leises Stöhnen aus. Die goldgeränderten Visitenkarten einer Mademoiselle Aglaja Lemarron und einer Madame Artemisia Mabillinoff ließ sie zwischen den Blättern weg auf den Boden der Droschke hinabgleiten und setzte auf jede Karte verächtlich einen Fuß.

Sie blätterte immer hastiger, und stieß auf ein lose eingelegtes Blatt, welches von einer Reiseroute handelte, und in dem Murray selbst war unter dem Artikel Florenz der Name eines Gasthofes unterstrichen und die Notiz an den Rand geschrieben:

»Chambers bespoken for the 15th June,« auf Deutsch: Zimmer gemietet für den fünfzehnten Juni.

Da lag die Schlange zusammengeringelt und reckte höhnisch den unheimlichen Kopf empor und züngelte und wies die Giftzähne! – In dem nämlichen Hotel hatte ganz für die nämliche Zeit Christabel ihr Absteigequartier bestellt – chambers bespoken mit dem Signor Wirt – dicht Wand an Wand mit dem Kapitän im siebenundsiebenzigsten Infanterieregiment, Sir Hugh Sliddery! O, grausam durfte das Schicksal sein, aber so hinterlistig schadenfroh hämisch grausam zu sein – dazu hatte es nicht das Recht! – Miß Christabel Eddish neigte das Gesicht, legte das Buch leise auf den Sitz vor sich hin. Nach einem Nachdenken von zwei Minuten erhob sie das Haupt – blickte ruhig und kalt geradaus, sie wußte bis an die äußersten Grenzen des Falls, wie sie dran war, wie sie sich zu verhalten und was sie zu tun und was sie zu lassen habe: sie hatte den Finger Gottes in dem Zusammentreffen im Haupte der Bavaria erkannt! Der Finger Gottes! Ach, wenn nur nicht zu allen Zeiten das Gebiß des Teufels darüber weg das arme Geschlecht der Menschen anfletschte und so sehr häufig das kindliche Vertrauen in unglaublich kurzer Frist totgrinste!

Im nächsten Moment schon, nach einem neuen Blick auf den unglückseligen Murray, knirschte Christabel wieder ihrerseits mit ihren Zähnen dem bösen Feinde ins Gesicht, ächzte:

»It is a horror! eine Schande ist's!« faßte das Buch, als ob es während der Zeit ihres demütig in einen höheren Willen sich fügenden Nachdenkens noch viel boshafter und giftiger geworden sei, und schleuderte es mit unbeschreiblicher Energie hinaus aus dem Wagenfenster, weit hinaus auf den Karlsplatz und einem den Platz gerade überschreitenden, an nichts denkenden, deutschen Poeten und Ritter des Maximiliansordens gerade vor den Magen. Der Chevalier, fast zu Boden gestreckt durch den vollkräftigen Wurf, drehte sich dreimal, den Dichter in sich natürlich mit sich herumreißend, um seine eigene Achse, griff mit beiden Händen nach dem Leibe und starrte – starrte – starrte, bis es zu spät war, die Droschke einzuholen und um Aufklärung zu bitten. Um diese Stunde des Tages war der Karlsplatz fast ebenso öde wie die Theresienwiese, und nichts störte den feuchtäugigen Lyriker, Epiker oder Dramatiker, oder Lyrischepischendramatiker in seinem Nachsinnen über das höchst eigentümliche Begebnis. Noch zehn Minuten nachher stand er denn auch, und zwar nicht in der Stellung, in welcher er dermaleinst in Erz gegossen zu werden wünschte, und blickte das rote Buch zu seinen Füßen scheu zögernd an. Zuletzt wagte er es, das Ding aufzuheben; aber er ging sehr vorsichtig dabei zu Werke – fast ebenso vorsichtig wie vorhin Miß Christabel Eddish am Sockel der Bavaria. Ob er es der Polizei ablieferte, oder es mit sich nach Hause nahm, können wir nicht sagen, sind jedoch nach unsern vorhin eingeschobenen Bemerkungen über gefundene Sachen innigst überzeugt, daß er es ablieferte, und es erst dann poetisch verwertete, wenn es ihm durch sämtliche im Laufe der Zeit historisch-politisch gewordenen staatlichen und kirchlichen Behörden tintenflüssig gemacht worden war.



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