Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das dreiundzwanzigste Kapitel.

Und wieder befinden wir uns auf dem Bahnhofe – auf dem Stuttgarter Bahnhofe; diesmal im Monat September und um ankommende Freunde zu erwarten!

Von Süden kommt ein Zug und bringt von Friedrichshafen her mit vielem Gepäck und mit Bedienung den Baron und die Baronin von Rippgen nach der Schwabenhauptstadt zurück.

In Rorschach am See hat die Frau Lucia die heißen Tage, Wochen und Monden unter einem Zelt, doch in einer an dreidoppeltgedrehten Kokosnußfaserstricken aufgehängten Hängematte zugebracht und trotz der leichtesten Ankleidung arg gelitten unter dem Gewicht der Körperlichkeit. Und der Baron, der ihr natürlich stets behülflich sein mußte, in den Sack hinein und aus dem Sack heraus zu gelangen, hat trotz Wogenschlag und Alpen-Anhauch am Ufer des Bodensees ebenso viele Schweißtropfen vergossen, als die Atmosphäre des Nesenbach-Talgrundes während der Monate Juni, Juli und August von ihm beansprucht haben würde.

Aber auch das war überwunden, und das Ehepaar kommt, wie gesagt, nach Stuttgart zurück und wird pflichtgemäß von uns und unseren Lesern am Bahnhofe in Empfang genommen, wobei den Leserinnen freigestellt bleibt, in welcher Toilette sie erscheinen wollen: der Historiograph jedoch gibt sich selbstverständlich die Ehre im Frack. –

Miß Christabel Eddish hat die Villegiatur ihrer Busenfreundin nicht geteilt, den dringendsten und zuletzt beinahe zürnenden Bitten und Aufforderungen zum Trotz. Was aber konnte sie einzuwenden haben gegen eine zweite Hängematte zu Rorschach am Bodensee? Sie hat eben gar keinen Grund für ihre sonderbare, höchst eigentümliche, unerklärliche Abneigung angegeben; denn einen matten Hinweis auf ihr durch die Schlacht bei Hohenstaufen zerrüttetes Nervensystem hat Lucie nicht gelten lassen. Auch Lucies Nerven waren zerrüttet; aber Lucie ging gerade deshalb nach Rorschach. Lucie hatte zuletzt es ganz klar und scharf ausgesprochen, daß sie die Weigerung der Freundin nur als eine Weigerung – als gar nichts anderes – anzufassen vermöge. Daraufhin hatte Christabel ihre »dearst« stumm und wild an den Busen gedrückt und sie auf die Stirn geküßt und Lucie, den Druck und Kuß erwidernd, hatte geflüstert:

»O du, du weißt gar nicht, wie böse du bist!«

»Nein, nein! doch, doch!« hatte Christabel zurückgehaucht, und dann waren trotz aller noch folgenden äußerlichen Liebes- und Freundschaftsbezeugungen die zwei seelisch ineinander Verwachsenen in einem ziemlich gereizten Zustande voneinander geschieden. Miß Christabel war, die Hand auf die heiße Stirn drückend, in die Kissen ihres Diwans zurückgesunken, und Lucie von Rippgen hatte wieder einmal ihren Gemahl für Sünden gestraft, die er wahrhaftig nicht begangen hatte, und ihm Lasten auferlegt, die unbedingt auf den Rücken eines andern gehörten; doch – wie gesagt – alles das liegt in der Vergangenheit: der Baron und die Baronin von Rippgen kehren heute zurück aus der Sommerfrische, und nichts hindert uns, zu hoffen, daß die alles ausgleichende Zeit das alte, das frühere, liebliche, zartinnige Verhältnis zwischen Freundin und Freundin in voller Frische und Duftigkeit wieder hergestellt haben werde. Sollten wir uns irren, so ist das jedenfalls nicht unsere Schuld; wenn wir mancherlei abzubüßen haben, die Seelenehe zwischen Miß Christabel Eddish und Lucie von Rippgen haben wir jedenfalls nicht gebrochen! – – –

Sanft verschleiert lag der Schein der Septembernachmittagssonne auf dem Pflaster der württembergischen Residenz, als das Ehepaar (wir meinen diesmal nicht Christabel und Lucy, sondern Lucy und Ferdinand) vom Bahnhofe seiner Behausung zurollte. Die Straßen sahen noch gerade so aus wie früher, die Menschen auf den Straßen ebenso, und ohne jetzt am Schlusse noch etwas Sonderliches zu erleben, erreichten Ferdinand und Lucy ihre Wohnung. Das Haus von außen sah noch ganz aus wie vorher, und der Hausherr blickte beim Anrollen des Wagens natürlich aus dem Fenster, und man sah auch an ihm keine ins Auge fallende Veränderung. Da war das gewohnte Wimmern der Glocke der Vorsaaltür, da war die sonderbare Atmosphäre innerhalb der Tür – da war mit breitem Lächeln die dienende schwäbische Jungfrau, da war in den Gemächern alles, alles, wie man es verlassen hatte, – alles unverändert und doch – wie vieles hatte sich geändert! Wie manches war anders geworden! . . .

Das neunzehnte Jahrhundert weiß Bescheid in betreff dieses Nachhausekommens aus den Bädern, aus der Sommerfrische. Es kennt zum Überdruß genau die Gefühle und Stimmungen, welche den Leib wie die Seele während der ersten Stunden, die diesem Nachhausekommen folgen, bewegen; und es ist überflüssig, unsere Darstellungskunst noch einmal an ihnen zu zeigen. Wir begnügen uns, mitzuteilen, daß Ferdinand sofort sein Horchen nach oben von neuem begann, und daß Lucie nach einigem unruhigen, zerstreuten, verdrießlichen Wandern und Umherstöbern durch alle Räume der Wohnung und in allen Winkeln derselben, matt in einen amerikanischen Schaukelstuhl sank und von ihm aus bald begann, in gewohnter Weise dem Gemahl himmlische Rosen ins irdische Leben zu weben.

»Da sind wir also wieder!« sagte sie, mit eingebrochener Dämmerung schlaff und gelangweilt aus einem stumpfsinnigen Brüten erwachend.

»Ja, da sind wir wieder, mein süßes Herz, und – o Lucie, es ist doch angenehm, wieder zu Hause zu sein, und sich so zu fühlen!« erwiderte der Baron, wie gewöhnlich die gemütlichen Regungen seines Weibes gänzlich mißverstehend.

»Zu Hause? . . . Angenehm?« rief die süße Gattin, sich mit einem hastigen Vorwerfen des Oberkörpers in ihrem Sessel nach vorn schwingend und den Gatten höchst erstaunt anstarrend. »Ich glaube, die unerträgliche Hitze auf der Eisenbahn liegt dir noch schwerer auf der Stirn als mir. Reiche mir das Flacon.«

»Du warest doch des Aufenthalts zu Rorschach vollkommen überdrüssig,« erlaubte sich Ferdinand schüchtern zu bemerken.

»Wie töricht! wie albern! Freilich war mir allmählich dort mehr als alles zuwider geworden; aber schafft mir das hier wirklich ein Haus? Schafft mir das einen Herd, an welchem ich – ich – ich mich wohl fühlen dürfte? Wie lächerlich! Was ist mein Leben anders, als ein Herumwerfen auf einem Krankenbett? Ich bitte dich um Gottes willen, verschone mich mit deiner Jammermiene, sieh mich nicht so an, Ferdinand, ich kann und kann es nicht ertragen.«

Aus der Tiefe seiner Brust aufstöhnend griff der Freiherr durch die Haupthaare und – sah aus dem Fenster, wurde aber natürlich auf der Stelle herum gerufen.

»Das will ich dir übrigens noch einmal und zwar zum letzten Male hiermit aussprechen, mein Lieber, daß ich mich nicht mehr imstande fühle, zu deinen – deinen Anmaßungen – Anmutungen, noch die Extravaganzen – die Roheiten – ich sage die Pöbelhaftigkeiten eines andern – ich sage des Menschen da über uns, nach dessen Fußtritten du schon wieder sehnsüchtig hinhorchtest, wie ich bemerkt habe, zu ertragen! Ich ertrage sie nicht länger, Ferdinand! Ich will sie nicht, hörst du, ich will sie nicht! . . .«

»Aber Lucie?«

»Christabel begreife ich nicht; aber dir – dir, Ferdinand, sage ich jetzt, der Verkehr mit deinem – deinem Freunde hört von dieser Minute an auf – hört vollständig auf, oder – wir gehen zugrunde – du und ich, wir gehen beide zugrunde, und dein Gewissen mag dir einst sagen, wer die Schuld an dem namenlosen, grenzenlosen, herzzerfressenden Elend trägt, in welchem wir untergegangen sind.«

Hierauf erwiderte der Baron nichts. Sein Schutzgeist würde ihm sicherlich nicht geraten haben, etwas darauf zu erwidern, und was uns betrifft, so wissen wir einfach nicht, was sich darauf hätte sagen lassen. Wir hätten nur zu einer Tat raten können, und wenn ein Seufzer eine Tat ist, so erhob sich unser Freund auch ohne unsern Rat auf die Höhe einer solchen. Auch sein Schutzgeist hatte nichts dagegen – wir meinen gegen diesen neuen Seufzer, einzuwenden, obgleich er, der Schutzgeist, hoffentlich mitseufzte, da ja die Schutzgeister vor allem wissen müssen, wie sehr Seufzer solcher Art die Konstitutionen ihrer Schutzbefohlenen untergraben. Der Baron setzte sich von neuem seiner Frau gegenüber auf einen Stuhl; er wagte es selbst nicht mehr zu horchen; aber er hatte die festeste Überzeugung, daß sie jetzt horche und selbstverständlich nach der Stubendecke, und das war noch um ein Bedeutendes peinlicher.

Aber nichts klang herunter. Nichts rührte sich oben. Weder Maultrommelgesang, noch akrobatisches Turngepolter und Fußgetrampel; weder melodischer Gesang aus tiefgestimmter extheologischer Mannesbrust; noch – sonst etwas! Alles war und blieb still und stumm; Christoph Pechlin war unbedingt nicht zu Hause, zumal da er auch vorhin beim Anrollen des Wagens der heimkehrenden Freunde nicht aus dem Fenster gesehen hatte.

»Wenn er nach Hause kommt, wirst du ihm mitteilen, was ich dir eben gesagt habe,« sprach die Frau Lucie, und Ferdinand nickte zwar, wußte jedoch absolut nicht, was unter so bewandten Um- und Zuständen in diesem Herbst und Winter aus ihm werden solle. Einen festen Anhaltspunkt fand er nicht in dem Gewühl wirrer Gedanken und konfuser Vorstellungen, das sich durch sein Gehirn drängte, und so starkgeistig war er nicht, um zu überlegen und sofort herauszufinden, welch ein Trost für ihn in der Erklärung der Gattin lag, daß sie ihre Freundin Miß Christabel auch – nicht begreife.

Als die Lampe angezündet worden war, fühlte die Baronin sich wieder stark genug, den Baron vorlesen zu hören. Er erhielt den Befehl dazu und leistete ihm Folge. Es war gewissermaßen eine Erleichterung für ihn, auch einmal das Wort für eine längere Zeit zu haben und zu behalten, und wenn es auch nur das Wort eines andern war, nämlich jenes geliebten Poeten, dessen – Magengrube Miß Christabel Eddish so nachdrücklich mit dem Reisehandbuche des Kapitäns Sir Hugh Sliddery getroffen hatte.

Der Baron fuhr im Buche da fort, wo er am vorletzten Tage des Rorschacher Aufenthaltes stehen geblieben war. Er las – er las mit Ausdruck und Gefühl und königlich sächsisch; und Pathos und Tonfall bekamen dem gelesenen Worte ganz ausgezeichnet. Er hatte bis tief in die Nacht hinein zu lesen, und je stiller die Gassen wurden, desto deutlicher mußte man es vernehmen, – wenn Pechle nach Hause kam.

Die Stunden verflossen, eintönig floß der Singsang hin, die gnädige Frau lag still und horchte, jedoch nicht allein auf das Wort des Dichters und auf den Gemahl; die Tatsache war fürchterlich, aber sie ließ sich nicht wegleugnen, Lucie von Rippgen horchte und wartete auf – Pechle!

Wie der Baron Ferdinand zwischen den Zeilen horchte, ist nur nachzufühlen, aber nicht nachzubeschreiben. Er mußte kommen! Jeden Augenblick von jetzt an mußte er kommen! . . . Horch da! da! . . . Nein, noch nicht –!

Von Zeit zu Zeit blickte der Gatte verstohlen von dem Buche auf die Gattin, jedoch ohne im Lesen einzuhalten. Die Zustände der Heldin waren augenblicklich sehr interessant; aber wie matt, blaß und nichtssagend war doch das alles gegen die Atem anhaltende Spannung der Minute!

Das ist er!! . . . Nein? . . . Wiederum nicht?!

Er war es nicht. –

Eine geraume Weile nach Mitternacht fing die gnädige Frau an, auf ihren Kissen unruhig zu werden. Sie versuchte es noch einige Male, in veränderter Lage dem Dichter eine neue Seite, ein neues Interesse abzugewinnen, allein es gelang ihr nicht, und sie erhob sich. Mit einem schüchternen, heisern und asthmatischen Räuspern machte Ferdinand das Buch zu.

Noch einmal trat die Gattin zum Fenster und horchte hinaus. Dann wendete sie sich in das Gemach zurück und sagte:

»Ich bin zum Tode müde und gehe zu Bett; du bist wohl so freundlich, noch eine Weile zu warten, Ferdinand, und den Menschen zu bitten – wenn er nach Hause kommt – ja, zu bitten, ein wenig leise auf der Treppe zu gehen und in seinem Zimmer nicht mit sämtlichen Möbeln durcheinander zu fallen. Vielleicht kannst du ihm das vorhin Besprochene ebenfalls gleich mitteilen. Seine Musik verbitte ich mir unbedingt für diese Nacht.«



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