Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das dreizehnte Kapitel.

Das ist das Leiden, daß wir es wahrscheinlich keinem außerhalb der Grenzen des Königreichs Württemberg Geborenen werden begreiflich machen können, wie sehr die Gegenfrage der englischen Miß den schwäbischen Autochthonen überraschte.

»Wie es mir selber g'fällt?« lallte er, die schöne Fragestellerin geöffneten Mundes anstarrend; wir aber versuchen es gar nicht, unserem Publikum die Gründe klar zu machen, aus welchen Herr Christoph Pechlin so äußerst verblüfft aussah.

Herr Christoph Pechle räusperte sich, spie aus und, nachdem er seine Kehle vollkommen gereinigt hatte, sprach er im grollend rollenden Brustton von der Höhe eingeborenster Stammes- und Landschafts-Begeisterung herunter.

»Ausgezeichnet gefällt es mir,« sagte er. »Ihne etwa nicht? O, da ischt doch kein Mensch, der nicht auf diese Stelle mit klopfendem Herzen herkommt und mit Wehmut und Entzücken auf die Gegend und die Menschen hinunter sieht und froh ist, daß er drin und drunter ischt. O, gnädiges Fräulein, wenn Sie jetzt drunten im Tal stünden, so würde ich sagen: Fräulein, Sie stehen mitten im Nabel der Welt! Hier auf der Höhe kann ich, um nicht aus dem Bilde herauszufallen, nur bemerken, daß Sie sich unbedingt auf seinem Rande befinden.«

Miß Christabel Eddish hatte fortwährend Figuren mit der Spitze ihres Sonnenschirmes auf den Boden gezeichnet; jetzt plötzlich faßte sie die zierliche Waffe fest, krampfhaft fest, dicht unter dem Griffe. Miß Christabel wurde sehr rot, um sofort um so bleicher werden zu können. Sie richtete sich in ihrer ganzen jungfräulichen Würde empor, und ihre Lippen zitterten, je fester die Hand den Stock des Schirmes packte. O – Miß Christabel Eddish hatte noch niemals in der Mitte eines Nabels oder an dem Rande eines solchen gestanden. Es war abscheulich, shocking, zu abscheulich! Man konnte sich fest vorgenommen haben, vieles der Seelen- und Völkerkunde wegen zu ertragen; aber dieses ging doch über das Duldungsvermögen reinlicher Weiblichkeit hinaus! Eine Seele hatte dieser Mensch nicht, konnte er nicht haben; wer die Grenzen der Menschheit soweit überschritt, stand in der Tat außerhalb jener Grenzen, stand außerhalb ihres äußersten Randes. Wir wissen nicht, ob es ihm selber ganz und gar klar wurde, aber für die Freundin der Frau seines Freundes verflüchtigte Pechle sich vollständig, ging er im Grau des Abends auseinander, verschwand er in Dämmerung und Nacht, wurde er zu Nichts!

Was von ihm doch übrig blieb, das traf ein letzter Blick grenzenlosester Verachtung; – Miß Christabel legte die Hand – jene Hand, welche den Sonnenschirm nicht hielt – auf den Arm der Baronin und sagte mit selbst bei ihr außergewöhnlich befremdend hervordringendem Nachdruck:

»Dearest, nicht wahr, wir steigen hinabwärts? Es wird später; die Dunkelheit kommt, die Sonne ist untergegangen, wir haben gesehen alles und – das das – Inwendigste – Ausgewendetste notiert. Gehen wir!«

»Ja, Liebe, wir haben das Notwendige –« begann die Baronin, ohne diesmal ausnahmsweise imstande zu sein, fortzufahren. Schon war der Baron mit der ängstlichen Hast eines Stürme beschwörenden Gatten der Gattin ins Wort gefallen; schon war er in seiner Verzweiflung förmlich über beide Damen hergefallen.

»Ja, meine Liebe, ja,« keuchte er, »wir stehen ganz zu eurer Verfügung! Willst du mir deinen Arm geben, mein Herz? Willst du mir sagen, welchen Plan ihr euch für euern – euern reizenden Ausflug zurecht gelegt habt? Meine Liebe, wie gesagt, wir sind ganz zu deiner und Miß Christabels Verfügung, mein Freund Pechlin sowohl als ich. Es wird freilich etwas abendkühl, mein Herz, und du weißt, wie zart deine Gesundheit ist, wie leicht du dich erkältest; darf ich dir mein Plaid zum Wege in das Dorf hinab anbieten?«

»Du bist, wie gewöhnlich, allzu gütig, Ferdinand,« sagte die Baronin mit einem wie aus einem Eiskeller heraufgeholten Ton, »aber wir danken, sowohl für dein Plaid wie für deine und dieses Herrn fernere Bemühungen. Liebes Kind, eure Abenteurerfahrt hat auch uns ein wenig zu Abenteurerinnen gemacht, und ich habe endlich gelernt, meine Wege allein zu finden. Was ohne Christabel in den letzten Tagen aus mir geworden wäre, kann ich nicht sagen; aber Christabel ist zur rechten Zeit zu mir gekommen, und – wir wünschen heute noch nicht nach Stuttgart zurückzukehren. Siehst du, mein Freund, ich weine nicht mehr, ich hoffe sogar noch einmal das Lächeln wieder zu erlernen; und jedenfalls haben wir uns vorgenommen, einmal in der eigenen Seele nach allen Richtungen hin zu erfahren, wie ein solches alles vernachlässigendes Vagabondenleben bekommt, und wie es seine Reize geltend macht. Wir übernachten im Lamm, Christabel und ich, und Virginy bereitet wahrscheinlich bereits den Tee. Übrigens meine ich mit Christabel, daß wir die Reize dieser Berghöhe und dieses seltsamen Zusammentreffens zur Genüge genossen haben. Ich bitte dich also freundlich, dich nicht weiter um uns zu bemühen, wir werden gehen und unseren Weg allein finden, – nicht wahr, Christabel?«

Mit einem letzten Parthenosblick auf Pechle, nickte Miß Christabel Eddish hastig ihre Zustimmung, und mit einem Epopöen voll Sarkasmus bedeutenden Knix vor demselbigen Pechle schritt die Baronin von Rippgen bergab. Sie schritt Arm in Arm mit der englischen Freundin, und letztere knixte oder verbeugte sich vor niemand. Ihre blaugrünen Meerfeienaugen hingen starr an der im graublauen Abendnebel verschwimmenden Albkette, und es war nicht zu leugnen, daß die schwäbische Alb auch in diesem Moment bei weitem schöner aussah, als der schwäbische Mensch, Herr Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuchwalde, und der königlich sächsische Assessor außer Diensten, Reichsfreiherr Ferdinand von Rippgen aus Dresden. Aber freilich, wenn die zwei Herren auch nicht schön aussahen, so boten sie doch dem Betrachter einen ungemein vergnüglichen Anblick dar, und es ist recht schade, daß wir nicht an dieser Stelle dem Leser und der Leserin anstatt unserer matten Schilderung ein Lichtbild von beiden in unseren Bericht einlegen können. Da wir das nicht können, so wollen wir wenigstens unser möglichstes tun, der Phantasie unserer Lieben und Getreuen aufzuhelfen: wir versetzen uns mit ihnen recht lebhaft so ungefähr in die Mitte des zwölften Jahrhunderts hinein, jedoch ohne unsern und ihren Standpunkt zu verlegen. –

Die Audienz auf dem Hohenstaufen ist eben vorüber. Das kaiserliche Paar hat sich in die inneren Gemächer des Palastes zurückgezogen, im Hofmarschallamte hat die Aufregung und atemlose Geschäftigkeit ihren Gipfelpunkt erreicht. Sämtliche griechische, sarazenische, burgundische, britische und slavische Gesandtschaften sind in Gnaden zur allerhöchsten Tafel befohlen, – die der oberitalienischen Städte nicht!

Da stehen denn die Mailänder! –

Von den Zinnen der Burg tönen die Posaunen, die Zinken, arabischen Becken und Pauken. Heiter und bunt rauschen die kaiserlichen Banner mit den grimmigen Adlern, die in demselben Augenblick vielleicht über Palermo und um Jerusalem flattern. In bunten, mittelalterlich bunten Scharen drängt sich das Ingesinde über Höfe und Gänge, beugt sich aus Galerien und begegnet sich auf Treppen im glänzenden, von dem unerschütterlichsten Glauben an die ewige Berechtigung seiner Gegenwart beseelten Wirrwarr. Da läutet schon des heiligen römischen Reiches Eßglocke. Pforten öffnen sich und schließen sich, Torvorhänge werden von heidnischen Mohrensklaven zurückgezogen, in prachtvollen gold- und silbergestickten byzantinischen und arabischen Gewändern rauschen die Damen der Kaiserin und der kaiserlichen Prinzessinnen hervor und dem Speisesaale zu. Auch die Kaiserin selber und die Prinzessinnen gehen zum Essen, – die Suppe sieht auf dem Tische, und draußen vor den hohen Toren belagert das Volk der Umgegend den ganzen Berg bis unter die Burgmauern. Neuer schmetternder Hall der kriegerischen Instrumente von Wall und Turm! Mit offenem Maule gafft das Volk an den Bollwerken empor und horcht mit tiefster Ehrfurcht dem Klingen, Rollen und Rauschen des kaiserlichen Hoflagers; auch mit einem gewissen, geheimen, aber nicht unerklärbaren Grauen horcht es.

Lassen wir jedoch das Volk außerhalb der Mauern. Innerhalb der Burg fühlt sich jedermann auf die eine oder die andere Weise befriedigt, bis auf die beiden Herren aus dem unbotmäßigen Mailand.

Da stehen sie immer noch im Hofe und sehen sich an!

An ihnen vorüber schritten leise und hämisch lächelnd oder würdig die Köpfe schüttelnd die diplomatischen Kollegen, und eben noch schreitet Kyrios Protospadaios Philadelphos Artepiboplos, der Presdentes aus Konstantinopolis an ihnen vorbei und streift sie, zu Tisch gehend, höhnisch mit dem Saume seines römischen Patriziergewandes. Und das ist noch nicht einmal das Ärgste! Nein, an ihren Nasen vorüber werden von den kaiserlichen Hofköchen die köstlich dampfenden und duftenden Schüsseln getragen, und soweit von der höchsten Zinne des Hohenstaufen das Auge reicht über den Nibelgau in den Brenzgau, über den Albegau in den Burgau und über das Pleonungetal in den Eritgau bis hin zur Burg Zolre ist für sie, die lombardischen Herren, keine Tafel gedeckt, kein Teller gesetzt, kein Stuhl zugerückt! Versetzen wir uns nur mit der Dichterkraft des zwölften Jahrhunderts, also mit möglichster Lebendigkeit, in die Laune und Stimmung der beiden Signori, und wenden wir ihm, dem zwölften Saeculo den Rücken! In dem Moment, in welchem wir uns im neunzehnten Jahrhundert in Sicherheit wissen werden, werden wir auch vollkommen imstande sein, den Mienen und den Blicken des Barons Ferdinand von Rippgen und seines Freundes Christoph Pechle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Auch sie standen alle beide und sahen sich an, und nach einer Weile sagte Ferdinand zu seinem Christoph:

»Da stehen wir!«

Das war richtig, und Pechle erkannte die Richtigkeit der Bemerkung auch sofort an und erwiderte wiederum nach einer Pause:

»Ja, und da steigen sie nach dem Lamm hinunter. Weiß Gott, sind das zwei Lämmer!«

»Sie gehen allein! Sie lassen uns stehen! Sie sehen sich nicht einmal nach uns um!« stotterte der Baron.

»Das ischt richtig; aber – Herrgottssakrament, wo bleibt denn da die Logik? Herrgott, ischt das a Vergleich mit deine Lämmer! Was? Sind wir dazu da, uns von ihne schere zu lassen? O du, Ferdinand, wenn es deiner liebenden Gattin so sehr Bedürfnis ist, Strümpfe von deiner Wolle zu tragen, so bin ich auch noch da, und was diese Engländerin anbetrifft, so – o Gott, Ferdinand, so ischt das weiß Gott ein göttlichs G'schöpf, und sie mag mir antworten oder nicht, fürs erschte bin i noch nicht mit ihr fertig!«



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