Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das vierte Kapitel.

Was für ein Geschlecht würde die Erde bevölkert haben, wenn ihm nach verlaufenen Sündflutsgewässern der Weinstock und der Hopfen vorenthalten worden wäre? Wer aber sagt uns, wie sich die Gewährung dieser beiden verderblichen Pflanzen so kurz nach Vernichtung des ersten moralisch verunglückten Wurfes der Menschheit rechtfertigen läßt? Seien wir vorsichtig und überlassen wir die Lösung der zwei Fragen jedem, der nicht fürchtet, sich die Finger zu verbrennen: wir wollen uns einfach mit dem Humor, der in dem Dinge liegt, begnügen.

Doktor Leopold Schmolke, der berühmte internationale Frankfurter Advokat, fuhr mit dem ersten Schnellzuge durch die graue Morgendämmerung nach Hause und seinem Termin auf dem Frankfurter Rathause entgegen, und hauchte, als er auf dem Heidelberger Bahnhofe fröstelnd sich dichter in seine Reisedecke einwickelte:

»O Christabel! Christabel!«

Arm in Arm suchten die beiden andern Studienfreunde ihre Behausung zu erreichen, und es gelang ihnen, wenngleich erst nach Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten. Den Schlüssel des Barons hatte, wie wir wissen, die treue und fromme Maid, Katharina von Schwaben, mit sich nach einem Tanzlokal an der Weinsteige entführt; aber der Ex-Stiftler Pechle besaß, wie wir gleichfalls wissen, auch einen Hausschlüssel und vergaß, als früherer Stiftler, denselbigen nie an seinem Nagel hinter der Tür. Wer von den Herren das Schlüsselloch fand, wird wohl ewiglich in Dunkelheit gehüllt bleiben, aber einer fand es, und da das gelungen war, so erreichten sie auch die Pforte des Barons, und es stand für diesmal einem zärtlichen Abschiednehmen nichts mehr im Wege. Sie nahmen zärtlich voneinander Abschied. Augenblicklich hatten sie beide le vin tendre, und so hielten sie sich eine geraume Weile schluchzend umschlungen. Dann küßten sie sich, dann rissen sie sich voneinander los, und dann – ja dann verweisen wir auf das im Anfange dieses Kapitels Gesagte, und kommen auf unsere dort nachdrücklichst ausgesprochenen Grundsätze ruhig zurück. In diesem Falle jedoch mit einer Wendung nicht an das Deduktions- und Induktionsvermögen der Welt im allgemeinen, sondern an das der Freifrau Lucie von Rippgen ganz im besondern.

Als die Frau Baronin am folgenden Mittag mit ihrer Kammerjungfer Charlotte auf dem Stuttgarter Bahnhofe anlangte, verwunderte sie sich sehr, den Gemahl daselbst nicht auf sie wartend vorzufinden, und sie sprach ein weniges mehr als bloße Verwunderung ihrer ebenso erstaunten Begleiterin gegenüber aus.

»Es ist zum mindesten unbegreiflich!« rief die letztere. »Ein Unglück wird hoffentlich doch nicht vorgefallen sein?!«

»Nein!« sprach die gnädige Frau, ein Heer derartiger Vermutungen bloß durch das kleine Wort vernichtend. Daß sie hinzusetzte: »Nur eine Unschicklichkeit – eine Rücksichtslosigkeit, die ich mir sicherlich nicht gefallen lassen werde!« war uns gegenüber sicherlich nicht nötig.

Ohne auf ein etwa doch noch mögliches atemlos keuchendes Erscheinen des Gatten zu warten, bestieg sie die nächste Droschke und fuhr ab, energisch Honig bereitend aus der in Heidelberg aus dem Verkehr mit der Freundin aufgesogenen Blumensüßigkeit, – Honig für den Hausbedarf. Jeglicher Stoß, den ihr das auf ihre Stimmungen leider keine Rücksicht nehmende Fuhrwerk mitteilte, festigte durch stets wiederholte Erschütterung ihres Nervensystems ihren Entschluß, dem »Herrn« seine Pflicht klar darzulegen und das Wiedersehen mehr als erfreulich zu machen. Die Kammerjungfer Charlotte, welche mit dem Eau de Cologne-Gläschen in der Hand auf dem Rücksitze Platz genommen hatte, hatte eine Art an sich, die gnädige Frau in ihren jetzigen und demnächstigen Gefühlen zu bestärken, die sie während ihres Erdenwandels zu einer ungemein wünschenswerten Akquisition für alle unverwittibten und den besseren, den bemittelten Ständen angehörenden Ehemänner machte.

Das Fläschchen mit kölnischem Wasser wurde während der Fahrt wiederholt in Gebrauch genommen; aber endlich hielt der Wagen. Die Heimat war erreicht, und der gnädige Herr stürzte – nicht die Treppe hinunter, um den Schlag zu öffnen, die zürnende Gattin herauszuheben, sie in die Arme zu schließen und sein unverantwortlich rücksichtsloses Betragen zu entschuldigen. Nur der Hausbesitzer sah im Erdgeschoß aus dem Fenster und griff grüßend an die Hausmütze; – die Kammerjungfer Charlotte konnte sich das Ding weniger denn je erklären.

Es regte sich gar nichts. Auch Herr Katzenlecker, der Hausherr, hatte sein Interesse an dem Wagen, der vor seinem Hause hielt, verloren; er zog den Kopf aus dem Fenster und sich in das Innere seiner Gemächer zurück. Die Baronin sah mit zusammengekniffenen Lippen und Augen an dem Hause empor. Einen Moment stand sie; dann stieg sie die Treppe hinauf, ohne sich nach der Begleiterin umzuschauen. Sie stieg – stieg – stieg empor, stattlich, rauschend – neueste Nummer des Bazars – fatumhaft, ernst und unerbittlich; und der eisernste Schritt des dröhnendsten Kriegs- und Schlachtenschicksals war ein Wiegenlied der Idylle gegen den scharfen Klang ihrer Stiefelchen auf den Stufen der Haustreppe.

Wehe dem Herde, dessen Gebieterin mit derartig kadendziertem Hall der zarten Sohlen heimkehrt! Der Schall allein rächt manches, was das rohe Geschlecht der Männer seit seiner Entwicklung aus dem Gorilla an den Engeln verbrach, die aus dem Himmel niederstiegen, nach den Söhnen der Erde zu sehen und zu Männern zu nehmen »welche sie wollten«. –

Der Griff des Glockenzuges blieb nicht in der Hand der vom Blütenduft der Freundschaft und der Ideale trunken heimkehrenden placens uxor, allein der Klang der Glocke war dessenungeachtet wohl vernehmlich. Die Schwabenmaid stürzte erschreckt herbei, die feuchten Hände auf dem Wege an der Schürze abtrocknend. Die schöne Herrin trat ein, blieb aber auf der Stelle stehen und fragte, einem erhöhten, einem verschärften Erstaunen anheimfallend:

Mein Gott, welch ein Geruch?«

Ei freilich, wie roch es da? – Ein wenig seltsam ohne Zweifel! Ein wenig nach Kamillentee, ein wenig säuerlich, ein wenig süßlich, ein wenig salzig, ein wenig nach Spirituosen und gar nicht wenig nach Tabaksdampf!

»Was ist das? Was ist geschehen? Was geschieht hier? Katharina, was geht hier vor?« rief die Baronin von Rippgen, nicht einem einzigen ihrer Sinne, und sonderbarerweise ihrem Geruchssinne am wenigsten trauend. Und ohne die Antwort der suevischen Jungfrau abzuwarten, rauschte sie an ihr vorbei gegen die Tür des Salons, riß diese auf, fand auch hier denselben Geruch, nur noch ein wenig verstärkter – ging, mit jedem Schritte Augusta-hafter werdend vor und hindurch, riß die Tür des dem Gemahl angewiesenen Gemaches auf, und sah – auf der Schwelle stehend und zu Eis erstarrend – auf das, was hier vorgegangen war und was – ihr unter den Augen und der Nase – noch vorging, freilich ohne es im ersten Augenblick in seiner ganzen Scheußlichkeit zu begreifen! . . .

Auf dem Sofa, den Kopf durch ein einem Federbett entnommenes Kissen unterstützt, lag der Baron Ferdinand von Rippgen, wie es schien, dem Tode oder etwas noch viel Schlimmerem nahe. Langausgestreckt lag er, mit hängenden Armen, ein Bild des Jammers, des unsäglichsten Elends, und bei ihm, bequem in dem bequemsten Lehnsessel, saß ein breitschulteriger, dickköpfiger, vergnügt aussehender Herr, der eine Zigarre im Munde und eine Weinflasche neben seinem Ellenbogen auf dem Tische vor sich hatte. Der elegant mit kostbarem Teppich behängte Tisch aber wies außerdem ein Sammelsurium von allen möglichen Flaschen, Gläsern, Tassen und sonstigen Gefäßen vor. Den Kamillentee hatte sich der Freiherr bereits in den Morgenstunden selber verordnet. Kamillentee mit Kirschengeist jedoch hatte ihm dann Herr Christoph Pechlin angeraten, zubereitet und – eingezwungen. Ob er die Mischung auf seine eigene Natur oder die des dem Versinken nahen Jugendgenossen berechnet hatte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Der Baron befand sich in einem Zustand, der des Trostes und der Hülfe durch eine Freundeshand dringend bedürftig war, und Pechlin war der Mann, eine solche Hülfe darzubringen und sie sogar durch etwas gewalttätige Überredung aufzudrängen.

Je aufgelöster Ferdinand dalag, desto aufrechter saß Christoph da. Je erbarmungswürdiger Ferdinand aussah, desto frischer, munterer und gewissermaßen hübscher blickte Christoph in die Welt hinein. Ganz stattlich sah der alte Tübinger aus und imponierte drolligerweise durch den gewähltesten schwarzen Anzug an diesem Krankenlager. Heimtückischer-, ungemein absichtsvollerweise hatte er sich äußerlich auf das möglichste bestrebt, den würdigen, ernsten hippokratischen Helfer im Leid darzustellen, und für die ersten Augenblicke erreichte er vollständig den beabsichtigten Zweck. Die Baronin Lucie von Rippgen hielt den Menschen für den im Moment der dringendsten Not von der Gasse heraufgerufenen vielbeschäftigten Arzt und rief, aus ihrer Versteinerung erwachend:

»O mein Gott, was ist – was ist mit ihm vorgefallen? Herr Doktor, was ist geschehen? Ist es denn so sehr gefährlich? Um Gotteswillen, Fer–dinand«



 << zurück weiter >>