Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das zwanzigste Kapitel.

Die Pflicht rief uns schon seit geraumer Zeit, wir hörten nur nicht darauf; jetzt aber folgen wir ihrem Rufe und – verfügen uns in das Lamm zurück. Es ist aber auch die allerhöchste Zeit, denn von neuem gewinnt die Hochzeitsgesellschaft aus dem Ochsen den Neidern aus dem Lamm Schritt für Schritt die Dorfgasse ab und dringt mächtig vor gegen das Lamm.

Während in geschilderter Weise Freund Pechle seinem Vergnügen nachgegangen war, hatte sein Freund, der Baron Ferdinand von Rippgen, das Seinige getan und ausgehalten, und das war gerade kein Vergnügen gewesen. Wenn Herr Christoph Pechlin nur den Kopf in die Tür des Damenzimmers im Lamm gesteckt hatte, so hatte der Baron der dringenden und grausigen Notwendigkeit um ein Bedeutendes weiter nachgeben müssen und war eingetreten. Eingetreten? Es ließe sich wahrlich über den Ausdruck rechten! Hatte er sich in das Gemach hineingeschoben? Auch dieses nicht; – er war ganz einfach hineingeschoben worden, und zwar von einer Macht, der noch nie irgend jemand in seinem Leben einen zu einem rühmlichen Resultat führenden Widerstand entgegengesetzt hat.

Und alle drei Damen hatten ihn bei seinem Erscheinen sofort ins Auge gefaßt, und eine jegliche hatte einen anderen Ton von sich gegeben! Einen Schrei der Befriedigung hatte Miß Virginy hören lassen; Miß Christabel Eddish hatte mit einem glucksenden Laut sich zu einem neuen Krampfanfall in den Armen ihrer treuen Dienerin zurecht gelegt; aber die gnädige Frau allein hatte auf der Stelle den rechten Ton getroffen und zwar in jeder Hinsicht.

Trotz Not, Angst und Schwächeanwandlungen hatte sie, die gnädige Frau, die Äußerungen tiefster seelischer Empörung in der künstlerischsten Weise getroffen. Ein Blick – ein einziger Blick auf den Gatten, und sie stand ebenso auf dem richtigen und erhöhten Standpunkte wie drunten in der Dorfgasse Pechle, der Exstiftler, zwischen dem Lamm und dem Ochsen. Der Baron hatte die Tür noch nicht hinter sich zugezogen, als sein Weib bereits den festesten Fuß ihm gegenüber gefaßt hatte und ihn von der Höhe ihrer Lebensanschauung und vor allen Dingen von ihrer Anschauung der gegenwärtigen Stunde aus für alles – alles – alles verantwortlich machte, was ihr und ihrer blassen Freundin – Miß Virginy gar nicht einmal mit in die Rechnung gezogen – bis jetzt in Hohenstaufen begegnet war, und alles – alles, was ihr fernerhin noch daselbst passieren konnte!

Es war fabelhaft, aber um so wahrer: der Baron Ferdinand von Rippgen fühlte sich bei dem ersten Blick seiner Gattin und dem ersten Blick auf sie durch und durch als Sünder, und beugte sein Haupt unter die Schale des Zornes, die über ihn ausgegossen wurde. Schaudernd fühlte er sich hinein in die widerwärtige, die gräßliche Lage der Damen und faßte natürlich seine Schuld in ihrer ganzen entsetzlichen, unverzeihlichen Größe. Schon ohne daß man ihn darauf aufmerksam machte, wußte er sich sofort in seiner ganzen Scheußlichkeit zu erkennen, und daß man ihn doch noch auf dieselbe aufmerksam machte, konnte nur als eine unverdiente Güte von seiten der Damen gelten.

Was konnte man von einem solchen Manne erwarten? Wo waren die Seiten an ihm, an die sich ein edles Weib und eine bebende, hülfsbedürftige Jungfrau lehnen konnten, ohne befürchten zu müssen, mit ihm umzufallen?

Es war gräßlich und um so gräßlicher, je wilder das Geschrei und der Schlachtlärm draußen vor den Fenstern anschwollen, je mehr sich das Getümmel dem Lamm näherte, je dunkler die Nacht und je lebendiger die Phantasie wurde.

»So hilf doch! Tue etwas! Rette uns oder verschaff uns doch wenigstens ein Gemach, wo wir nichts von diesen Wil-den, diesen Bar-ba-ren sehen!« schrie die Baronin. »Wir verlangen gar nicht, daß du dich weiter um uns kümmerst; aber dieses Brüllen und Toben halte ich nicht länger aus und Christabel auch nicht. Nennst du dich wirklich einen Mann, so zeige dich ein einziges Mal als ein solcher und laß anspannen.«

»Yes! Yes! Anspannen! Abfahren!« wimmerte Miß Christabel.

»Laß anspannen und laß uns abfahren; einerlei wohin! wohin in die Nacht! . . . Ferdinand, ich befehle dir, die Pferde kommen zu lassen. Es soll mir jetzt gleichgültig sein, wohin du uns führst; aber fort will ich – will ich! Fort, nur fort aus dieser Hölle, diesem Abgrunde von Brutalität!«

»Ja, ja, Liebste, Beste, Gute – gern, gern – sogleich auf der Stelle! Ganz wie du befiehlst, mein Kind; aber – aber –«

»Was aber? So steh doch nicht so dumm da! Mach fort; oder willst du auch in diesem Moment noch mit den übrigen unter einer Decke spielen? Hörst du, du sollst anspannen lassen; wir wollen auf der Stelle nach Stuttgart zurückfahren.«

»Gewiß, Liebste, wollen wir das; aber – Lucie, ihr habt ja selber euern Wagen nach Göppingen zurückgeschickt. Woher in aller Welt soll ich in jetziger Stunde und unter diesen Umständen ein Gefährt – ein Fuhrwerk nehmen?«

»Das ist deine Sache. Du trägst die Schuld, daß wir uns hier befinden, und du wirst augenblicklich dafür Sorge tragen, daß wir von hier wegkommen.«

»Aber Lucie?! liebste Lucie?!«

»Du stehst immer noch da? O Gott, Christabel siehst du – siehst du ihn? O Christabel, sieh ihn dir an!«

Miß Christabel Eddish war wirklich imstande, sich den Baron Ferdinand von Rippgen noch einmal anzusehen. Dann aber schloß sie sogleich von neuem die Augen, fiel ihrer Virginy womöglich noch schwerer auf und in die Arme und hauchte im Sinken:

»Shocking! shocking!«

»Das ist es! Schokking ist es!« schrie die empörte Gattin funkensprühend, »O, daß er eine Ahnung davon hätte, wie ich über ihn denke! Einen Wagen! Einen Wagen – hörst du? Auf der Stelle einen Wagen –«

Es wirbelten allerlei phantastische Fuhrgelegenheiten durch das zerrüttete Gehirn des ratlosen Freiherrn. Er dachte sogar an die Murmeltiere, die sich zur Erntezeit auf den Rücken legen, eine Ladung Wintervorrat zwischen die Pfoten nehmen und sich am Schwanze nach Hause ziehen lassen, und er hatte Lust, diese geistreichen Tiere zu beneiden. Er dachte an einen Schubkarren! Wenn Pechle schob, und er, des heiligen römischen Reiches voreinst unmittelbarer Freiherr sich vorspannte? Nein, nein, auch das war nur eine schöne Vorstellung! Er dachte an gar nichts mehr, das heißt, er suchte von neuem durch Vernunftgründe zu wirken.

»Mein teures Herz,« rief er, beide zitternde Hände erhebend, »ich bitte, ich beschwöre dich, zu überlegen! Glaubst du wirklich, daß ein Eingeborener dieses Ortes unter dem Eindruck der augenblicklich herrschenden Stimmung, sich herbeilassen werde, ein Fuhrwerk, und sei es selbst nur einen Leiterwagen zu bespannen und kühl und ruhig nach Göppingen zu fahren und währenddem es den – andern überlassen werde, die Sache – den Streit – die mir unbekannte Streitfrage auszufechten?«

»Du bist – du bist – Ferdinand, ich weiß nicht, ob ich diese Nacht überlebe, aber das weiß ich, daß sich sicherlich noch einmal eine Stunde, ein Augenblick finden wird, in welchem ich dir kühl und ruhig sagen kann, was du bist.«

Ferdinand schlug sich die eine Hand vor die Stirn und griff mit der andern in das gelockte Haupthaar; doch jetzt richtete Miß Christabel Eddish sich von neuem groß und geisterhaft aus den Armen ihrer Kammerjungfer auf, sah noch einmal um sich, schauderte noch einmal zusammen und – faßte sich. Ein leises Erröten überzog ihre wachsbleichen Mienen, sie griff nach der Hand der Freundin und dann – dann flüsterte sie:

»Lucy, wenden wir uns – an den – den – den andern – Gentleman!«

»An? . . . an wen?« fragte Lucie von Rippgen schrill und in nicht ganz unberechtigtem Erstarren.

»O ja! an den anderen Gentleman! Er wird dieses verstehen. Er wird größer von uns denken, als wir von ihm. Er wird uns von hier wegschaffen.«

»Christabel?«

»Ja, ja! Er ist roh – raw, nein, nicht raw, er ist rude; aber er wird uns einen Wagen anschaffen, er wird uns retten.«

»Der Unhold?!«

»Yes, der Doktor Pech – Pitch – Pitschlin! Wir werden sterben ohne den anderen Gentleman, Lucy. Laß deinen Mann ihn rufen, laß ihn herkommen.«

»Wo ist dieser – dein Herr Doktor Pechlin?« wandte sich die Baronin, ihre Schultern mit einem Ruck znsammenziehend, kurz und schroff an den Gatten.

»Beste, im Ochsen. Er hat seit längerer Zeit dieses Haus verlassen.«

»Im Ochsen? Und du bist ihm nicht, an seinen Rockschößen hängend, dorthin gefolgt?«

»Wir haben zusammen zu Abend gespeist, und dann ist er fortgegangen, um, wie er sagte, ein wenig an dem ländlichen Vergnügen teilzunehmen. O er wird daran teilnehmen! Ich bin fest überzeugt, daß man ihn bereits totgeschlagen hat.«

Die gnädige Frau wandte sich mit einem neuen Achselzucken von dem Gatten ab und mit einem sehr fragenden Blicke an die Freundin:

»Selbst die bloße Aussicht – die geringste Hoffnung, daß es sich so verhalte, könnte mich diese schrecklichen Stunden ertragen lassen. Christabel, wenn man ihn tot geprügelt hätte?!«

Auf die britische Jungfrau übte diese Vorstellung eine ebenso belebende Wirkung wie auf ihre Freundin, und die Romantik derselben hob sie ebenfalls einen Augenblick über den Wunsch hinweg, den Exstiftler als kräftigen Schützer in der Not neben sich zu haben. Doch in dem nämlichen Moment traf der erste Stein das erste Fenster im Lamm; zersplitternd sprangen die Scherben im Zimmer umher, während das Wurfgeschoß dicht zu den Füßen Miß Christabels niederrollte.

Das änderte die Sache. Mit einem Zetergeschrei stürzten sich alle drei Damen, Miß Virginy nicht ausgeschlossen, einander in die Arme und bildeten die berühmte Thorwaldsensche Gruppe der drei Grazien nach, jedoch mit Gesichtern, die nicht lächelten. Um die Vortreppe des Hauses wogte der Kampf; nur der Kampf auf der Palas-Treppe des Königs Etzel konnte damit verglichen werden. Burgunden und Hunnen in Angriff und Verteidigung wälzten sich auf und ab die steinernen Stufen, und der Baron Ferdinand rang die Hände, bis ihn sein Weib am linken Oberarm packte und gellend ihm zuschrie:

»So hole ihn! Schaffe ihn her diesen – Herrn – Pechlin! Laß ihn kommen – deinen – Freund!«

»Ja, ja, for heaven's sake, laß Sie kommen her die Mr. Pitchlin um des Himmels willen!« rief Miß Christabel Eddish, und der Baron, mit dem Mute der Verzweiflung sich losreißend, stürzte gegen die Tür, aus vollem Halse, doch ungemein schrill, aufs Geratewohl ins Weite und in die wogenden Haufen hineinschreiend:

»Pechle! . . . Pechle! . . . Pechle!«

»Hier!« brüllte aus des Tumultes Mitten ein kräftiger Baß zurück und der Baron atmete tief auf.

»Gott sei gedankt; er lebt noch!« Und ohne natürlich im mindesten sich der Schlußworte Tassos zu erinnern, rief er ihn, den Doktor Christoph Pechlin, von neuem an und zwar noch durchdringender:

»Pechle! Pechle! Pechle!«

»Ich komme im Augenblick,« schallte es zurück. »Nur einen Moment! Jetzt scheint es mir Zeit zu werden, dem Lärm ein Ende zu machen. Holla! Herr! . . . meine Herren –«

Der Hausflur des Wirtshauses zum Lamm war vollgedrängt von Menschen und zwar von sehr erbosten Menschen. Ein dunkles Gewühl aufgeregten Volkes bedeckte den freien Platz vor dem Hause; das Getöse innerhalb und außerhalb des Hauses war sinnverwirrend, und zwar nicht allein für die halbohnmächtigen Damen in der Honoratiorenstube: die Zeit und die Gelegenheit, eine Rede zu halten, waren da, und Pechle – Herr Christoph Pechlin aus Waldenbuch im Schönbuch war ebenfalls da.

Er hatte den englischen Baronet sich nach die Vortreppe des Lammes hinaufgeschleift, und da stand er, umdrängt von den Anhängern des Lamms, und Sir Hugh Sliddery hielt sich an ihm, wie der deutsche Baron bereits einige Male sich an ihm gehalten hatte.

Im vollen Behagen, bei bester Laune, ganz und gar nicht totgeprügelt, sondern vollkommen lebendig und bei guten Kräften schlug er beide Hände schütternd auf die Brüstung der Treppe, lehnte sich breitbrüstig vornüber und donnerte abermals, sämtliche Register seiner Rednerbefähigung ziehend:

»Holla! Himmeldonnerwetter! Meine Herren, i hab's scho g'sagt, i bitt ums Wort.«

Und wie Zeus, der Vater der Götter und der Menschen, es, das heißt das Wort, jedes Mal in der Versammlung der Unsterblichen bekam, wenn er es ernstlich verlangte, so erhielt es jetzo auch unser Freund Christoph Pechlin. Der Kontrast zwischen der urplötzlich eintretenden Stille und dem vorhergehenden Lärm war so groß, daß es in der Tat schien, als ob nicht bloß die Bevölkerung von Hohenstaufen und der Umgegend, sondern als ob Himmel und Erde den Mund schlössen und den Atem anhielten, um zu hören und zu erfahren, was dieser Mann da auf der Treppe zu sagen habe.

Er hatte im Grunde wenig zu sagen; allein er sagte dieses Wenige mit dem gehörigen Nachdruck, wurde jedermann verständlich und sprach der Mehrheit aus der Seele. Letzteres war die Hauptsache, und ist die Hauptsache für jeden Volksredner, der nicht umsonst seinen Atem vergeuden will.

Von der Treppe des Lammes zu Hohenstaufen donnerte Pechle herab:

»Ihr Herre! Die mi kenne, die kenne i au, und die mi net kenne, die kenn i; also bitt i um a gefälliges G'hör, und nachher mag jedweder tun und lasse, was er will. Aber das sag i, was i denk, und hab's immer so g'halte: wann i gemeint hab, 's ischt g'nug, so ischt's gewöhnlich g'nug gewese. Also es ischt meine u'maßgebliche Meinung, daß es jetzt g'nug ischt. Sei Vergnüge hat jeder g'habt, und nachher wird's wischt; also denk i, wir mäßige uns! Wer z'erst anfange hat und wer recht hat, das kriegt man ja doch nimmer 'raus, des muß i wisse als Politiker und Schtaatsma'; und nu lasse mer's gut sei, und es geht a jeder zurück zu sei'm Schoppe, und morge früh geht ei' jeder zu G'richt, der heut no net z'friede ischt; nacher könne mer ja weiter sehe, und jetzt hab i g'sproche, – Pechle ischt mei' Name und mei' Motto ischt: Hie gut Württemberg alleweg!«

Ein allgemeines Bravo und Hurra folgte diesem etwas sonderbaren Schluß; dann wurde es wirklich still im Haufen des Volkes, und nachher wieder kam das dumpfe Gemurmel der in sich gehenden Menge, untermischt mit den selbstverständlichen Einzelschreien und Jodlern. Aber das Gemurmel siegte über die individuellen Kundgebungen; jenen Rufern im Streit, die sich noch nicht »mäßigen« konnten oder wollten, wurde von allen Seiten Ruhe geboten und – Ruhe ward in Hohenstaufen.

Die Vorstellung, daß man ja unbedingt morgen in der Frühe nach Göppingen zu Amte gehen könne, malte sich in jeglicher Einbildungskraft zu verlockend aus, daß schon ihretwegen jeder Verständige den Mund hielt und die Faust in die Tasche schob. Die Beste oben schied sich von der Beste unten, es kam eine gewisse Ordnung in das Chaos. Noch standen zwar heftig gestikulierende Gruppen längere Zeit einander gegenüber, doch plötzlich erklang vom Ochsen her die Tanzmusik von all den Instrumenten, die nicht in der Schlacht zugrunde gegangen waren, von neuem lustig los, und auf den Wirtshausstiegen rieb Pechle sich die Hände und klopfte erst den Wirt zum Lamm und sodann den britischen Kapitän Sir Hugh Sliddery auf die Schulter, und sprach mit nicht geringem Selbstgenügen:

»Sehn Sie, meine Herre?!«



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