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VI

Karsten Froms früheste Erinnerungen knüpften sich an ein viertes Stockwerk in einer der ärmlichsten Nebengassen Vesterbros. Hier wohnte vor einer Reihe von Jahren eine Familie, mit der es abwärts gegangen war, so daß sie schließlich hier in dem Kopenhagener »Whitechapel« strandete.

Der Mann, der einst davon geträumt hatte, ein großer Opernsänger zu werden, verdiente sein Brot durch allerlei zufällige kleine Beschäftigungen ringsumher in der Stadt. Unter anderm saß er drei Abende in der Woche am Billettschalter eines der Tanzlokale Vesterbros, und hier hatte er seinerzeit seine Frau kennen gelernt. Ihre Mutter – eine alte Kupplerin – war in demselben Lokal bei der Garderobe angestellt, und sie selbst hatte damals schon zwei Kinder als Erinnerung an eine leichtsinnige Jugendzeit. Aber es geschah, daß das große, bleichfette, rosenrot geschminkte Mädchen, das an allen Fingern kostbare Ringe trug, sich in den muntern kleinen Billettverkäufer verliebte, der fast doppelt so alt war wie sie und nicht schöner als eine Scharbe. Und so groß war ihre Zuneigung zu ihm, daß sie sich trotz der Armut, in die sie auf Grund der Vermehrung der Kinderschar schnell gerieten, doch nie von den vielen Bestrebungen der Mutter, sie dem einträglichen Kaperleben wieder zuzuführen, versuchen ließ.

In dem Hause, wo die Eheleute wohnten, waren sie für die vielen andern ärmlichen Bewohner wegen ihres verliebten Wesens zu einer Fabel geworden. Jeden Morgen, wenn der Mann nach seinem Platz bei einem Porzellanhändler in der Istedgade ging, wo er Vormittagsbote war, begleitete ihn die Frau in ihrer Nachtjacke auf die Treppe hinaus, und hier blieb sie, über das Geländer gebeugt, stehen, um ihm während des Hinabsteigens zuzuwinken und die Kußhände zu erwidern, die er ihr von jedem Treppenabsatz zuwarf. Es lag hierin vielleicht ein wenig professionelle Gewohnheit aus ihren galanten Mädchentagen, aber sie dachte nicht darüber nach. Sie folgte nur der Eingebung ihres dankbaren Herzens dem Manne gegenüber, der sie aus dem Schmutz gezogen und ihren Kindern eine anständige Mutter gegeben hatte.

Die kostbaren Ringe, seidenen Unterröcke, Straußenfedern und die Pariser Schuhe mit den hohen Absätzen waren längst zum Trödler gewandert, und sie hatte allen Herrlichkeiten Lebewohl gesagt, ohne zu seufzen. Ihre Natur aber konnte die Liebe nicht umwandeln. Solange sie etwas zu verkaufen hatte, oder sich auch nur Kredit bei den Kaufleuten in ihrer Gegend verschaffen konnte, tischte sie einen Überfluß von Speisen auf, pfropfte die Kinder voll Essen oder steckte sie ins Bett und kaufte Wein und leckere Sacken, um sich daran gütlich zu tun, den Arm um den Hals des Mannes geschlungen.

Allmählich verschwand denn auch das meiste von der Einrichtung beim Pfandleiher, und schließlich wanderten die Sonntagskleider denselben Weg, um Brot und Fett ins Haus zu schaffen.

»Was sollen die Lappen!« sagte sie. »Wenn meine Angehörigen nichts von mir wissen wollen, dann können sie es bleiben lassen. Wenn du mich bloß lieb hast, Augustinus!«

Nach einigen glücklichen Jahren wurde der Mann eines Tages krank vom Kirchhof nach Hause gebracht, wo er an gewissen Tagen im Monat einen der fest angestellten Leichenträger vertrat. Im Laufe der Nacht starb er. Vierzehn Stunden saß seine Frau auf dem Rand des Bettes und heulte vor Kummer. Naturmensch, der sie war, schrie sie ihren Schmerz in alle Winde hinaus, so daß man es über die ganze Straße hören konnte. Fremde Nachbarn mußten sich der Kinder annehmen und Anstalten machen, daß die Leiche aus dem Hause kam, und beim Anblick des Sarges sprang sie auf und stürzte sich aus dem Fenster. Sie hatte immer gesagt, sie wolle im selben Grabe liegen wie Augustinus. Und so geschah es nun.

Das war Karsten Froms Mutter. So war das Heim seiner Kindheit. Er war der jüngste der beiden blonden Jungen, die die Mutter Mit in die Ehe gebracht hatte – »die beiden kleinen Lehnsgrafen« pflegte der muntere Stiefvater sie zu nennen.

Eine wirkliche Erinnerung an seine Eltern oder an die Katastrophe, die über das Heim hereinbrach und sie ins Waisenhaus führte, hatte Karsten From nicht bewahrt. Aus seiner ersten Kindheit tauchten nur gleichgültige und alltägliche Begebenheiten blitzartig auf, die aus irgendeiner unerklärlichen Ursache von dem Gedächtnis gehegt worden waren. Es war ihm ergangen, wie es den meisten mit ihren frühesten Eindrücken aus dem Leben geht, wo die bedeutungsvollsten Erlebnisse in Vergessenheit verschwinden, während die Erinnerung an eine tote Fliege und ihr feierliches Leichenbegängnis auf dem Fensterbrett bis in ein hohes Alter treulich bewahrt wird.

Wenn Karsten From überhaupt etwas von seinen Eltern wußte, so war das nur, weil er sich durch ein privates Auskunftsbureau Nachrichten verschafft hatte. Im übrigen aber beschäftigte diese dunkle Vergangenheit ihn nicht so sehr, wie seine Freunde meinten, weil er zuweilen selbst davon sprach. Die Melancholie in seinen schönen Augen hatte auf alle Fälle auch eine andere Ursache, die er niemandem anvertraute.

Er wußte sehr wohl, daß er als Künstler Bankrott gemacht hatte, und da er gewohnt war, Zwanzigtausend im Jahre zu verbrauchen, konnte sich mitten während seines frohen und festlichen Genießens ein unheimlicher Stammgast bei ihm einstellen – die Angst vor dem Tage, an dem die ordensgeschmückten und tiefausgeschnittenen Rangpersonen sich einen andern Günstling unter der wolfsheulenden dänischen Künstlerschar wählten.

Es war gerade in diesen Tagen ein Warnungsruf an sein Ohr gedrungen. Gelegentlich einer Nachlaßauktion, wo eines seiner Porträts nur einen niedrigen Preis erzielte, hatte eines der kleinen Blätter boshaft bemerkt, daß »Herrn Kunstgroßhändler Karsten Froms Stern offenbar im Sinken begriffen sei«, und infolge dieses Witzes war er trotz Jytte Abildgaards Anwesenheit den ganzen Abend stumm gewesen. Jyttes andauernde Kälte hatte ihn noch niedergeschlagener gemacht.

Als er vor dem Restaurant gute Nacht gesagt hatte, war er durch die innere Stadt nach Hause gegangen.

Unterwegs kam er an dem populären Künstlercafé »Die Lichtputzschere« vorüber, das in einem niedrigen Mezzanin an einer Straßenecke lag. Es war einstmals auch seine Stammkneipe gewesen, er hatte sie aber seit vielen Jahren nicht mehr besucht, weil er überhaupt allen Verkehr mit seinen ehemaligen Freunden und Kunstgenossen aufgegeben hatte; sie grüßten ihn nicht einmal mehr, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Ihm kam jetzt der Einfall, da hinauf zu gehen. Was ihn dazu trieb, war ihm selbst nicht klar, aber er gab sich überhaupt selten die Mühe, seine Beweggründe zu untersuchen, folgte in der Regel einer Eingebung, nur aus Lust zusehen, was dabei herauskommen würde.

Das Lokal war schon halb dunkel und fast leer. Die Lampen über den meisten Sofas waren ausgelöscht. Seine Vermutung, daß er frühere Freunde treffen würde, bestätigte sich indessen. Um ein paar zusammengerückte Tische am Eckfenster saßen ein Dutzend Damen und Herren, die er alle kannte.

Die Wirkung seines Erscheinens entsprach auch ziemlich genau seinen Erwartungen. Die ganze Gesellschaft, die, als er hereinkam, recht laut gewesen war, verstummte plötzlich und starrte ihn so unbeweglich an wie eine Panoptikumgruppe.

Da war sogar Karl May, schwarz und haarig wie ein Pudel, und neben ihm Lejf Knudsen mit seinem Giraffenhals. Außerdem der Bildhauer Oluf Bojesen mit seinen beiden Zwillingsgeliebten, und sein eigenes altes Modell Susse Frederiksen mit Franz Möller.

Beim Anblick des letzteren verzog sich sein Mund unwillkürlich zu einem Lächeln. Er wußte, daß der dicke Dichter, dessen Muse ihm beständig so treulos war, Mitarbeiter an derselben kleinen Mittagszeitung geworden war, die die Bemerkung von seinem sinkenden Stern gebracht hatte, und sich hier, wie so manch anderer Hahnrei der Literatur und Kunst, an seinem glücklicheren Nebenbuhler rächte, indem er den kritischen Buhmann spielte. Und nicht nur den Parnaß berannte er mit seinen Hörnern, auch die Pfleger der bildenden Künste wurden oft arg mitgenommen, wenn sie das Unglück gehabt hatten, seinen Neid zu erregen.

Mit Hut und Überrock setzte sich From gleichgültig auf eines der Sofas, bestellte ein Sodawasser und zündete sich eine Zigarette an. Als der Kellner ihm eingeschenkt hatte, leerte er sofort das Glas, zahlte und entfernte sich, als sei er nur gekommen, um seinen Durst zu löschen.

Noch ehe er ganz zur Tür hinaus war, hörte er Franz Möller meckern. Karl May sagte: »Adieu, Durchlaucht!« Und Susse Frederiksen stimmte ihr bekanntes schallendes Gelächter an.

Auf dem Höjbroplatz nahm er ein Auto, und eine Viertelstunde später lag er in seinem großen französischen Mahagonibett und zog die seidene Decke über die Ohren.

Aber gegen seine Gewohnheit schlief er nicht gleich ein. Das Zusammensein mit Jytte Abildgaard regte Gedanken in ihm an, die ihn fast ebenso lange wach hielten, wie Jytte im Dunkeln daliegen und fabeln mußte.

Die Verachtung seiner ehemaligen Freunde nahm er leicht. Er beneidete sie nicht um ihre Bodenkammerglückseligkeit, geschweige denn um den Ehrgeiz, der sie veranlaßte, das Leben hindurch in Armut und selbstverleugnender Arbeit Sklavendienste zu verrichten und sie mit der Hoffnung auf einen gnädigen Nachruf in dem Konversationslexikon der Zukunft vertröstete. Aber er dachte daran, daß seine Künstlerlaufbahn am Ende doch eine andere hätte werden können, wenn er eine Frau wie Jytte Abildgaard früher kennen gelernt und ihre Freundschaft gewonnen hätte.

»Herrn Karsten Froms Stern ist offenbar im Sinken begriffen.« – Es war ihm, als höre er aus der Ferne die Sterbeglocken zu seinem eigenen Begräbnis läuten. In zehn, vielleicht schon in fünf Jahren war der Stern erloschen. Und er war doch erst fünfunddreißig Jahre alt!

Vor ein paar Tagen hatte er, als er durch die Vesterbrogade fuhr, einen Schimmer von Cajus Vang erblickt. Der arme Bursche, der eben aus dem Zuchthaus entlassen war, hatte sich mir krummen Knien an der Häuserreihe entlang geschlichen in einem häßlich grünbraunen Anzug, der aussah, als sei er in einem Trödlerladen gestohlen.

So einen Menschen begriff er nicht. Wenn einmal die Katastrophe über ihn hereinbrach, wollte er schon wissen, den Schlag mit blitzschneller Hand zu parieren. Niemand sollte ihn gedemütigt sehen! Eine lustige Karnevalsnacht für den letzten Hundertkronenschein, und dann ... Adieu la compagnie! Leb wohl, du ausgelassenes und sentimentales Kopenhagen, du schnell aufgeschossene Provinzstadt! Du Weltstadt in den Flegeljahren! Leb wohl, du herrliches Federbuschgewimmel der Östergade, ihr üppigen Frauen und schlanken Mädchen, lebt wohl! Lebewohl, Jytte Abildgaard, du unbefleckte Jungfrau, meine einzige unglückliche Liebe!

Rideau!


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