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VIII

Der Sommer war wieder ins Land gekommen. Er hatte diesmal lange gebraucht, um hier hinauf zu finden. Die Geburt des Frühlings ging im geheimen vor sich. Unter tröpfelndem Regen und grauem Nebel war der Wald grün geworden. Niemand hatte Freude von dem lichtgrünen Wunder gehabt. Während die Obstbäume blühten, jagten harte Hagelschauer über das Land. Sonnenblicke kamen und schwanden unter dem blauschwarzen Himmel mit einer Plötzlichkeit wie Blitze.

Endlich am fünften Juni, gerade am Konstitutionstage, bahnte ein frischer Nordwest dem Sommer den Weg und fegte die Wolken über die Ostsee hinaus. Man stand gerade vor dem großen Wahlkampf, und da waren nicht viele von den Verfassungsrednern der Volkspartei, die der Versuchung widerstanden, den Zufall als eine glückliche Vorbedeutung, ein göttliches Vertrauensvotum zu betrachten.

»Der Himmel hat heute unsere Waffen gesegnet!« verkündete Enslev lächelnd von der Rednertribüne im Lyngeboer Wald herab, wo sich fünftausend Köpfe um den alten Führer drängten. Aufrecht und sicher stand er mit seinem weißen Haar unter dem sommerlich grünen Laub – der letzte Lebende von den großen Männern, die die Sache des Volkes und der Freiheit zum Siege geführt hatten. Trotz seiner Gicht und seiner Steinschmerzen hatte er nach ein paar Jahren notgezwungener Zurückgezogenheit sich seinem Volk von neuem gezeigt.

Die verspätete Sommerwärme verwandelte das Land, als sei es mit einem Zauberstab berührt worden. Flieder und Goldregen, Rotdorn und wilde Rosen machten das ärmste Bauernhaus zu einem märchenhaften Blumenreich. In den Städten waren die Ladenfenster mit Grün aufgeputzt. Die Leute kamen vom Markt, die Arme voll Flieder. Der Frachtwagenkutscher schmückte seine Kracken mit einer Goldregentraube am Ohr, und der Schlachtergesell trug einen Riesenstrauß auf seiner Mulde nach Haus.

Ja, jetzt war der Sommer gekommen. Auf allen Landstraßen blitzten blanke Fahrräder. Auf den Höfen lagen Betten zum Sonnen, und die ersten nackten Menschenleiber ließen sich am Strande blicken.

Auf einer der dreistöckigen Fähren über den großen Belt saßen eines Tages Frau Berta und Jytte oben auf dem obersten Deck. Sie waren Ende April aus Italien heimgekehrt und befanden sich nun auf dem Wege nach Fünen, wo sie einige Zeit auf Storeholt zuzubringen gedachten.

In einem hellgrauen Reisekleid mit Gamaschenstiefeln und schleierumwundenem Hut stand Jytte über das Gitterwerk der Reling gebeugt und sah interessiert dem halbzahmen Möwenschwarm zu, der das Schiff begleitete und von den Passagieren gefüttert wurde. Die Mutter saß auf einer Bank in einiger Entfernung und war in Gedanken versunken.

Weiterhin auf dem Deck wanderte einer ihrer Bekannten, der lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sich ihnen zu nähern. Es war ein schmächtiger, blonder Herr, sehr hübsch, aber auch sehr geckenhaft. Das Haar war im Nacken lang, und vorn war es nach der neuesten Mode in zwei Locken vor den Ohren geordnet. Unter der Nase saß ein kleiner lyrenförmiger Schnurrbart. Er sah aus wie alles mögliche, konnte ein Graf sein oder ein feinerer Friseurgehilfe oder auch ein Künstler. Er war das letztere.

Es war der Porträtmaler Karsten From, eine der Gestalten, die alle von der Straße her kennen, auch als Künstler ein Mann mit einem großen Publikum. Seine einschmeichelnden Pastelle bildeten die Leute genau so ab, wie sie in ihren eigenen Augen aussahen. Auf allen Frühjahrsausstellungen in der Charlottenburg hatte er eine sehr bewunderte Wand voll von sonderbaren Amphibien: geschnürte Modedamen mit edlen und geistvollen Zügen, brutale Gutsbesitzergestalten mit klaren unschuldsblauen Kinderaugen verewigt, Börsenspekulanten mit einem Stempel von Rechtschaffenheit und Seelenadel, junge vergötterte Schauspieler, flott hingegossen, in tiefster Finsternis des Weltschmerzes.

Durch einen Zufall hatte er erfahren, wohin Frau Berta und Jytte reisen wollten. Er hatte auf dem Kopenhagener Bahnhof in ihrer Nähe gestanden, als sie die Fahrkarten lösten. Wenn er so erpicht darauf war, eine Gelegenheit zu finden, sie zu begrüßen, so geschah das hauptsächlich, weil er selber in seinem Beruf einige Zeit auf einem fünenschen Gute zubringen sollte, das nicht weit von dem Hagenschen Familiengut entfernt lag.

Aber nun waren sie an Sprogö vorübergekommen, und noch immer saß die Geheimrätin, in ihre eigenen Gedanken versunken, und Fräulein Jytte wandte ihm den Rücken zu und beobachtete die Möwen.

Er hatte seine Gründe, nicht allzu forsch draufloszugehen. Aber nun kam ihm der Zufall zu Hilfe. Ein Schaffner ging umher, um die Fahrkarten nachzusehen, und als er zu Frau Berta kam, stellte es sich heraus, daß sie ihre Handtasche unten in die Damenkajüte hingelegt hatte.

Im selben Augenblick stand Karsten From ehrerbietig vor ihr und erbat sich »die große Gnade«, ihr behilflich sein zu dürfen. »Ach, Sie sind es! Guten Tag!« sagte sie trocken. »Ja, danke, wenn Sie es durchaus wollen. Es ist eine braune Saffiantasche. Wenn Sie es nur der Stewardeß sagen wollen.«

Jytte hatte keine Ahnung von seiner Gegenwart gehabt. Sie war dunkelrot geworden bei dem Klange seiner Stimme und bemerkte zu ihrem Ärger, daß sie verwirrt war. Als Karsten From nach einer Weile zurückkam und »ehrerbietig kniend« wie er sagte – der Mutter die Tasche überreichte, hatte sie sich wieder der See zugewandt, um ihn nicht grüßen zu müssen. »Sind Sie auf dem Wege nach Skagen?« fragte Frau Berta ihn.

»Nein, leider nicht. Ich soll in Bäkkelund interniert werden. Frau Geheimrat kennen das Gut wohl – Graf Rönnows Besitz. Es ist mir beschieden, den Grafen in lachsroter Kammerherrnuniform abzukonterfeien. Ich liebe die Farbe; aber das ist auch wohl alles, worauf ich mich freuen kann. Es soll eine sehr einsam lebende Familie sein.«

Frau Berta erwiderte nichts hierauf. Und sie dankte ihm nun für seine Mühe auf eine solche Weise, daß er gezwungen war, sich zurückzuziehen.

Karsten From war nicht nur ein bekannter Maler, sondern auch einer der kühnsten Frauenjäger der Hauptstadt, was jedoch nicht viele wußten. Im Gegensatz zu den meisten andern Männern vom Fach, die nie von ihren Eroberungen schweigen können, ja, für die es im Grunde die Hauptsache war, damit prahlen zu können, schwieg er über seine Siege und scharrte sorgfältig die Spuren hinter sich zu. Man sah ihn viel in Konzertsälen, auf Wohltätigkeitsbasaren und an solchen Orten, wo Gelegenheit war, neue Damenbekanntschaften zu machen. Sein albernes Wesen bewirkte, daß nicht nur die Damen selbst, sondern auch die Männer ihn für ungefährlich hielten, denn nur wenige ahnten, daß es ein Deckmantel war, ein Pfauengewand, in dem dieser blonde Jupiter sich zu den Schönen schlich.

Als die Fähre bei Nyborg landete und die Reisenden nach der Landungsbrücke strömten, kam er wieder zu Jytte und ihrer Mutter. Unter dem Vorwand, daß keine Gepäckträger da seien, bemächtigte er sich ihres Handgepäcks, trotz Frau Bertas Einspruch, und begleitete sie über die Landungsbrücke.

Es hielten mehrere Züge dort, und er machte ausdrücklich darauf aufmerksam, daß sie denselben Weg hatten. Aber vor einem leeren Frauenabteil blieb Frau Berta stehen und bat sehr bestimmt um ihr Gepäck. Worauf er sich ärgerlich einen Platz an dem andern Ende des Zuges suchte.

»Ein merkwürdig verschrobener Mensch!« sagte Frau Berta, als er gegangen war. »Und so zudringlich. Man sollte fast glauben, er hätte vergessen, was sich zwischen euch zugetragen hat.«

»Nun, das hatte wohl nicht gerade viel zu sagen.«

»Du kamst an dem Abend doch ziemlich empört nach Hause. Ich entsinne mich noch, daß du es einen Vagabundenüberfall auf offener Straße nanntest.«

»Ich glaube, es ist eine Angewohnheit von ihm, allen jungen Damen, mit denen er in Berührung kommt, einen Antrag zu machen. Aber er hat eine schöne Singstimme und spielt vortrefflich Gitarre.«

»Ach, er ist gewiß ganz verrückt. Er sieht ja auch so aus.«

Eine fremde Dame kam in das Abteil und machte der Unterhaltung ein Ende. Nach einer Weile fuhr der Zug ab.


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