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II

Schmied Sören war in einer Winternacht des Jahres 1820 in Söndbjerg in Thyland geboren. Der Junge kam zur Welt als erster Ertrag der fruchtbaren Liebe eines jungen Häuslerpaares, und schon lange vor seinem Erscheinen in dem ärmlichen Stübchen hatte er sich als ungeduldiges Wesen mit einem Teufel im Leibe zu erkennen gegeben.

Beide Eltern gehörten zu den schwarzen Jüten. Namentlich der Vater war von dunkler Hautfarbe wie ein Zigeuner. Es wurde nie darüber geredet, aber man wußte sehr wohl, daß sich einstmals einige Tropfen Zigeunerblut in seine Familie verirrt hatten.

Während des Heranwachsens mußte der Junge beständig hören, wie zappelig er im Leibe der Mutter gewesen war, und daß er sich gleich nach der Geburt in einem großen Geschrei Luft gemacht hatte, das leibhaftig wie ein Hurra klang.

»Aus dem Jungen wird, weiß Gott, mal was Großes,« hatte die Wehmutter gesagt, und diese Prophezeiung beschäftigte ihn mehr, als gut für ihn war.

Nach seiner Konfirmation wurde er auf Grund seiner Körperkräfte an den Amboß gestellt. Er stand erst fünf Jahre in der Dorfschmiede und arbeitete dann als Geselle in einer Eisengießerei in Aalborg. Hier ward man sich bald klar darüber, daß noch anderes als nur die reine Muskelkraft in dem großen, schwerfälligen Thyländer wohnte. Er selbst schrieb nach Hause an die Eltern, alle Leute in Aalborg nennten ihn den Meisterschmied. In jedem Brief prahlte er mit vielen eingebildeten Heldentaten.

Dann aber begegnete er zum erstenmal seinem Schicksal in Gestalt eines Gürtlergesellen, mit dem er eines Tages in einem Wirtshaus bei einem Punsch zusammentraf. Sie gerieten in einen Wortstreit, und als Sören den andern ein Rindsvieh nannte, fuhr der in die Höhe und sicherte sich Zeugen für die Beschimpfung.

Sören wurde vor Gericht geladen und mußte zehn Reichstaler berappen.

Zuerst war er widerspenstig und wollte nicht bezahlen. Er hatte gehört, daß ein Pferdehändler, der einem Mann auf dem Hjalleruper Markt die Nase blutig gehauen hatte, mit fünf Reichstalern davongekommen war. Aber der Polizeidirektor erklärte ihm, daß die zwei Fälle vom rechtlichen Standpunkt aus sehr verschieden seien, indem die Hjalleruper beide im Augenblick der Tat sehr erregt und außerdem tüchtig betrunken gewesen waren.

Nachdem sich Sören eine Weile den Kopf über diese höhere Mathematik der Gerechtigkeit zerbrochen hatte, gab er das Verständnis auf und zählte das Geld auf den Tisch. Aber der Gedanke, daß er seinem Gegner für den halben Preis das Gesicht hätte blutig schlagen können, verfolgte ihn seither und ließ ihm keine Ruhe. Eines Sonntagnachmittags, als er ihm auf der Straße begegnete, fuhr er auf ihn los und schlug ihm vier Zähne aus dem Mund.

Zu seiner allermaligen Überraschung wurde indessen bei der Abmessung der Strafe nicht die geringste Rücksicht darauf genommen, daß er diesmal wirklich schäumend wütig gewesen war und auch tüchtig getrunken hatte. Er bekam eine ernste Vermahnung und mußte ins Gefängnis wandern.

Einige Zeit darauf brach der Krieg aus und machte ihn zum Soldaten – zum Infanteristen.

Auch im Felde verbreitete sich bald der Ruf seiner Erfindungsgabe und Fingerfertigkeit. Wenn eine Kanone auf dem Marsch in den Graben gefahren war und Schaden litt, wurde sofort nach »dem Schmied aus Thy« gerufen. Zusammen mit ein paar Soldaten aus dem Geniekorps folgte er schließlich seiner Abteilung als eine Art Ambulanz für das Material. Er war beim Blutbad zu Stolk mit dabei und sah Schleppegrell fallen. Sein Ehrentag aber wurde der vierte Oktober in dem belagerten Frederiksstad.

Es war am Abend des letzten Tages der Beschießung, als die Schanzen beim Schein der brennenden Stadt gestürmt wurden. Sechs Tage und Nächte halte ein Hagel von glühenden Kugeln und Brandgranaten in der Luft gezischt. Einer von den Kirchtürmen der Stadt stand in Flammen wie ein Licht, das an der einen Seite herunterbrennt. Wolliger Rauch und funkelrote Funken wälzten sich aus den vielen zusammengeschossenen Gebäuden über die Stadt.

Während aller dieser Tage waren die Soldaten nicht aus den Kleidern gewesen. Besudelt von Erde und Ruß und Pulverschlamm lagen sie hinter der zerschossenen Brustwehr, die Wange am Gewehrkolben, und sahen im Schein der Feuersbrunst aus wie Neger.

Sören saß zwischen seinen Bataillonskameraden in der gefährlichsten der drei Schanzen, die die Stadt verteidigten. Hier war die Böschung der äußersten Brustwehr herabgestürzt. Auch die Reihe der Sturmpfähle war an den meisten Stellen zerschossen, und die herabfallenden Erdmassen hatten die Gräben außerhalb derselben gefüllt, so daß bequeme Übergänge für die Sturmkolonnen gebildet waren. Seit sechs Uhr, als sich der Morgennebel lichtete, war die Schanze mit Eisen aus den schwersten Geschützen des Feindes überschüttet worden. Es war in Wirklichkeit keine andere Wehr mehr vorhanden als die Flinten und zwei kleine Feldkanonen.

Der Sturm begann um Sonnenuntergang, als eine Kompagnie holsteinischer Jäger in zerstreuter Ordnung eine Überrumpelung versuchte. Sie wurden von dreihundert pfeifenden Gewehrkugeln angehalten und liefen zurück – oder sanken stumm um wie die Ähren, die vor dem Hieb der Sense fallen. Andere, die schnell nachfolgten, warfen sich auf die Erde nieder und suchten Deckung.

Dann verlief eine Stunde in Ruhe. Aber als der letzte Tagesschein verschwand und der Himmel voller Sterne war, erschollen starke Trommelwirbel und Hornsignale draußen von den feindlichen Verschanzungen her. Durch das Brüllen der Mörser und das Donnern der Kanonen vernahm man auch ein Musikkorps, das »Schleswig-Holstein meerumschlungen« spielte. Und auf einmal wimmelten da drüben Gestalten aus der Erde empor, und Bajonette blitzten, eine Kolonne nach der andern brach aus der Dunkelheit hervor und stürzte unter Geschrei und Juchhei auf die Schanze los.

Der Feuerschein beleuchtete einen Augenblick lange Reihen von leichenblassen Gesichtern mit wildverzerrten Zügen. Aber gleich darauf war alles in Pulverrauch gehüllt. Man schoß blindlings drauflos, zielte in der Richtung des Feldgeschreis und des Geheuls der Verwundeten. Und plötzlich standen vier – fünf Gestalten auf der Krone des Walles und feuerten in die Schanze hinab. Andere waren im Begriff, hinter ihnen hinaufzukriechen.

Der Anblick dieser fremden Männer entzündete plötzlich eine unbändige Wut in Sören. Er stürzte sich ihnen mit erhobenem Kolben entgegen, zertrümmerte dem ersten den Kopf und schlug den beiden andern das Gewehr aus der Hand. Mehrere von seinen Kameraden sprangen auf und folgten ihm. Im Laufe von wenigen Augenblicken entstand ein blindes Handgemenge, währenddessen Blut und Gehirnmasse nach allen Seiten spritzte.

Der größte Teil der einbrechenden Feinde taumelte als Leichen in den Wallgraben zurück. Der Rest wurde entwaffnet und als Gefangene in die Schanze hinabgetrieben. Sören hatte einen Fahnenträger bei der Kehle gepackt, der die schleswig-holsteinsche Flagge auf die Wallkrone gepflanzt und sie mit seinem Säbel verteidigt hatte. Sören hatte seine Hiebe mit dem Gewehre abgewiesen und sich auf ihn gestürzt. Nun kam er mit dem halberstickten Mann angeschleppt, wie ein Bär, der seine Beute wegträgt; und als man die eroberte Fahne gewahrte, die er unter dem einen Arm mitbrachte, wurde er mit Hurrarufen begrüßt.

Währenddessen hatten sich die nachfolgenden Sturmkolonnen glatt auf das Feld vor der Schanze niedergeworfen. Der unaufhörliche Platzregen von Gewehrkugeln und Kartätschen im Verein mit dem Anblick der Leichen der gefallenen Kameraden hatte ihnen den Mut genommen. Die Offiziere fluchten und gebrauchten die Klinge, die Trommeln wurden gerührt, und die Musik, die mit der Nachhut folgte, spielte anfeuernde Melodien. Aber die Mannschaft blieb liegen und ließ sich nicht weiter vortreiben.

Auch vor den andern Werken, die genommen werden sollten, hatte der Feind kein besseres Glück. Nach fünfstündigem Kampf wurde zum Rückzug geblasen, die Eroberung der Stadt mußte für diesmal aufgegeben werden.

Als Dank des Königs für den Sieg wurde nach einiger Zeit eine Reihe von Dekorationen ausgeteilt, darunter auch ein paar Danebrogskreuze für die Mannschaften. Sören wurde vom Bataillonschef für diese seltene Auszeichnung vorgeschlagen, und einige Tage vor der Verteilung hieß es, daß er einer der Auserwählten sei.

Sören nahm die Glückwünsche seiner Kameraden mit einem flotten »Schert euch zum Teufel!« entgegen. Aber in dieser Nacht lag er im Stroh und schwitzte und konnte nicht schlafen vor Gemütsbewegung und Spannung. Hauptsächlich dachte er an seine Eltern, am allermeisten an seine Mutter, der er so viel Enttäuschungen und Kummer bereitet hatte. Jetzt würde er ihre guten Augen wieder lächeln sehen, wenn er mit dem silbernen Kreuz auf seinem Rock heimkehrte.

Und dann eines Tages stand die Brigade in Linienformierung aufgestellt und wartete auf den General, der in des Königs Namen das Ehrenzeichen an die Brust der Helden heften sollte. Aber zum großen Erstaunen des jütischen Bataillons wurde nicht Sören vor die Front gerufen, um die Auszeichnung zu empfangen, sondern sein Nebenmann in der Kompagnie, ein Jurist, der sich ebenfalls während der Belagerung tapfer gezeigt hatte und außerdem mit einem der Generäle in der Armee verwandt war.

Bald darauf war der Krieg beendet, und die Mannschaft wurde in die Heimat entlassen.

Sören ging auf den Landstraßen herum und suchte Arbeit. Nach Hause zu den Eltern wollte er jetzt nicht zurück. Nach Aalborg, wo er im Gefängnis gesessen hatte, wollte er auch nicht. Es war seine Absicht, in die Fremde zu gehen und sich nicht wieder blicken zu lassen, bis er eine Heldentat ausgeführt hatte, von der man weit und breit redete. Er wollte versuchen, übers Meer nach einer der großen Fabrikstädte in England zu kommen. Aber zu der Reise gebrauchte er Geld, und das sollte erst verdient werden.

Er ward in diesen Tagen ein einsamer Mensch. Während die meisten andern heimkehrenden Krieger die Feldmütze als ein Kennzeichen weitertrugen, das ihnen die Türen zu den besten Häusern erschloß, verschwieg er, woher er kam, und sprach nie von seinen Kriegsabenteuern. Deswegen währte es lange, bis er Arbeit fand, und zuletzt litt er Not.

Als zerlumpter Landstreicher kam er an einem regnerischen Abend nach Enslev gewandert. Der Dorfschmied hier, ein älterer Mann, hatte eine Schwäche im Rücken bekommen und bedurfte der Hilfe. Sören arbeitete dort ein paar Tage auf Probe und wurde dann gegen einen guten Lohn gedungen. Aber auch hier verfolgte ihn das Unglück. Er verliebte sich in die junge Tochter des Hauses, und zwar so gründlich, daß das Mädchen guter Hoffnung wurde. Es kam zu Weinszenen, und der kranke Vater, der von Schmerzen gequält war, bekam einen Wutanfall. Statt einer freien Fahrt in die Welt hinaus blühte ihm ein Erscheinen vor dem Pfarrer und eine schleunige Hochzeit, und hinterdrein die Übernahme der Schmiede gegen Hypothekenschuld, Advokatengelder, Altenteilerzahlungen und alle die Handeisen und Daumenschrauben, womit ein junger Mann gezwungen werden kann, lebenslänglich einen leichtsinnigen Augenblick abzubüßen.

Am Hochzeitsmorgen war Sören sternhagelvoll besoffen, nannte sich verächtlich einen Krackenbesohler und fiel über die Gäste her.

Anne-Mette, seine Frau, war zierlich von Gestalt und dazu eine gutherzige kleine Person, von der man glauben sollte, daß sie einen fahrenden Gesellen wohl begehrlich nach der Traulichkeit eines Heimes machen könne. Wohnstube und Schmiede lagen nebeneinander, es war nur eine dünne Wand dazwischen. Aber gar manches Mal ließ Sören den schweren Vorhammer niederdonnern, nur um das Geschrei des kleinen Menschenkindes zu übertäuben, das sich seinem großen Glück in den Weg gelegt hatte.

Anne-Mette begriff nicht die Ursache dieser Ausbrüche von Wildheit, die das Haus alle Augenblicke mit Unwetter erfüllten. In ihrer Einfalt dachte sie, daß sie von einer Krankheit im Kopf stammten, die mit gewissen Winden kommen müsse, so wie die fliegende Gicht. Denn Sören konnte zu andern Zeiten so schön mit dem kleinen Kresten auf seinem Knie dasitzen und ganz vernarrt sein in seine winzigen Hände und Füße.

Im nächsten Jahre lagen eines Tages ein Paar vollwichtige Zwillinge in der Wiege, und dieser Anblick machte Sören erbleichen. In dieser unbegrenzten himmlischen Freigebigkeit erblickte er ein Zeichen von oben, ein Gottesgericht, – des lieben Gottes eigenhändige Besiegelung seines Mißgeschicks. Er begriff jetzt, daß er ein Gefangener auf Lebenszeit war.

Sein Wesen veränderte sich von diesem Tage an. Er verschloß sich in sich selbst. Wurde still. Das Heim seiner Kindheit in Thy erwähnte er nie mehr. Er konnte es nicht ertragen, daran zu denken, daß seine Eltern und Geschwister vielleicht noch dasaßen und darauf warteten, daß er eines Tages, wie er versprochen hatte, als Märchenprinz zurückkehren würde.

Wenn Anne-Mette nach Feierabend in die Schmiede hinabkam, um ihn zum Abendbrot zu rufen, sah sie ihn zuweilen, die Hand unter der Wange, dasitzen und ins Feuer hineinstarren.

»Was fehlt dir nur einmal, lieber Sören?« konnte sie dann vorsichtig fragen.

Er pflegte zu sagen, daß er Zahnweh habe. Und gerade so sah er auch aus.


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