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III

Ein paar Stunden darauf, nach einem verspätetem Frühstück, saßen die beiden Freunde wieder im Wohnzimmer. Asmus Hagen hatte eine eingehende Untersuchung vorgenommen, und da er eine Probe des neuen Heilmittels aus Kopenhagen mitgenommen hatte, war die Kur insofern schon begonnen.

»Vergiß nun also nicht: zwei Pillen dreimal täglich. Im übrigen frische Luft, Sonne und eine vernünftige Diät. Du sollst sehen, ehe ein halbes Jahr vergangen ist, bist du wieder ganz der alte. Übers Jahr bist du Reichstagsabgeordneter, und dann ist es ja nur eine Frage der Zeit, wann du als Minister auftreten und die Damen in Entzücken versetzen wirst, den bekannten Dreispitz unterm Arm und Goldgallons an den Hosen herunter. Licht, Luft – und Liebe. Mit dem Segen dieser modernen Dreieinigkeit sollen meine Pillen schon Wunder verrichten!«

Torben saß mit der Hand unter der Wange da. Er war wie betäubt und wußte nicht, was er glauben sollte.

Und nun begann Asmus Hagen wieder von seiner Cousine, der schönen Jytte Abildgaard, zu reden.

»Du weißt ja, wie sie ist, und nun sollst du etwas ganz Sonderbares hören. Während wir anderen alle – offen gestanden, lieber Freund – gerade keine große Hoffnung mehr hegten, dich wieder gesund zu sehen, so hat sie die ganze Zeit hindurch mit einer wunderlichen Hartnäckigkeit daran festgehalten, daß du dich schon erholen würdest. Es war gleichsam eine fixe Idee, die sie bekommen hatte, und jetzt hinterher nimmt sie sich ja ganz verblüffend aus. – Jytte ist überhaupt ein wunderliches Menschenkind. Da geht sie in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit umher und ist noch immer gleich unverlobt. Und wahrlich nicht aus Mangel an Liebhabern. Ich begreife sie nicht. Aber vielleicht wartet sie auf einen Bestimmten.«

Torben erhob sich, um nicht mehr zu hören. Er ging an den Ofen und stöckerte im Feuer herum. Er konnte jetzt nicht noch mehr Gemütsbewegungen ertragen.

Im selben Augenblick trat die alte Barbara ein und meldete, daß Pastor Vestrup gekommen sei.

Asmus Hagen machte große Augen.

»Ein Pfarrer?« fragte er.

»Sagen Sie ihm, daß hier Besuch ist,« entgegnete Torben, ein wenig verlegen. »Übrigens ... das ist ja wahr! – Du kennst ihn doch, Asmus! Es ist Mads Vestrup!«

»Vestrup?«

»Ja, erinnerst du dich seiner nicht aus dem Aprilverein? Ein armer bäuerischer Student hier aus der Gegend.«

»Warte mal! Ist es Dreckmads?«

»Ja, ja. Er hat sich übrigens sehr zu seinem Vorteil verändert. Ich glaube, es wird dich interessieren, ihn wiederzusehen. – Bitten Sie Pastor Vestrup, näher zu treten, Barbara!«

Asmus Hagen zog die Augenbrauen wieder in die Höhe vor Überraschung, als der Pastor hereinkam. Er war ein Mann von mittlerer Größe, mit breitem Rücken und schwer von Fett. Er trug eine Brille, hatte aber sonst nichts Geistliches an sich. Seine Haut war dunkel wie die eines Bauern, und er war auch im Grunde gekleidet wie ein Bauer, trug einen rundschößigen Rock aus Düffel und ein baumwollenes Tuch – statt des Kragens – um den Hals geknüpft. Um den Mund und über das Kinn hinab breiteten sich schwarze Bartstoppeln aus.

Mehr jedoch noch als die Leibesfülle und die Kleidung des Pfarrers machte den Professor das kalekuttenhafte Selbstbewußtsein stutzen, das dem Manne das Gepräge verlieh. Aus der Studentenzeit erinnerte er sich seiner als einer armen Jammergestalt mit unzuverlässigem Blick.

Torben stellte vor, und die beiden Herren begrüßten einander mit gegenseitiger Zurückhaltung.

»An Ihrem Pfarrhaus bin ich also vor einigen Stunden vorübergekommen,« sagte Asmus Hagen. »Liegt es nicht gleich zur rechten Hand im Dorf, wenn man von Randers kommt? Ein gelbgetünchtes Wohnhaus mit Starenkasten am Giebel und mit einem Windmotor, soweit ich mich entsinne?«

»Ja, das ist mein Haus,« erwiderte der Pfarrer trocken und setzte sich unaufgefordert.

Während der Tag zur Rüste ging, hielten die drei ehemaligen Studienkameraden mit Mühe eine Art Unterhaltung aufrecht. Namentlich war der Pfarrer sehr wortkarg. Er für seine Person gab nicht viel mehr zum besten als hin und wieder ein leises Grunzen der Bekräftigung oder der Verneinung. Besonders Asmus Hagen gegenüber war er auf dem Posten. Die gestickte seidene Weste des Professors und seine ganze Kopenhagener Erscheinung hatten vom ersten Augenblick an auf ihn gewirkt wie ein roter Sonnenschinn auf einen Stier. Scheinbar ganz abwesend, aber mit einem aufmerksamen Blick hinter der Brille, saß er in den Stuhl zurückgelehnt und hörte seine Geschichten an, während er sich respektlos über sein unrasiertes Kinn strich, mit einem schrecklichen Laut, als reibe er sich mit Sandpapier.

Wenn er ausnahmsweise Asmus Hagen einmal anredete, geschah es schlecht und recht mit dem Namen. Überhaupt bemühte er sich, Gleichgültigkeit gegen dessen früh gewonnene Berühmtheit an den Tag zu legen, um die er ihn in Wirklichkeit auch keineswegs beneidete. Was bedeutete so etwas in der Ewigkeit? Wie sah so ein kleiner geschniegelter Professor in Gottes Augen aus?

Als ihm Torben schließlich von der Veranlassung zu dem Besuch des Freundes und von der wunderbaren Heilung erzählte, die ihm in Aussicht gestellt war, dachte er anfänglich, daß es ein Witz sein solle, vielleicht ein Versuch, ihn zum besten zu haben. Sein Blick schweifte von dem einen zu dem andern hinüber, und als es ihm klar wurde, daß es wirklich Ernst war, hütete er sich wohl, das geringste Erstaunen zu äußern. In der Weise, wie dieser neue Sieg der Wissenschaft über den Tod verkündet wurde, hatte etwas gelegen, das ihn kränkte und das ihn veranlaßte, sich in vollem Ornat zu zeigen.

Er entgegnete, vor Gott sei natürlich nichts unmöglich. Daher sei es uns Menschen immer gestattet, zu hoffen. Sein Erbarmen bewirke ja alles.

Asmus Hagen verstand sehr wohl, daß ihm ein Handschuh hingeworfen wurde, aber er hielt es nicht der Mühe wert, ihn aufzunehmen. Der schwerbäuchige Pfarrer, der da saß, die rotblauen Hände über der Brust gefaltet, die Füße in den plumpen Schuhen auf die Seite gedrückt, machte ausschließlich einen komischen Eindruck auf den zierlichen kleinen Professor.

Aber der Pfarrer fuhr fort. Er sagte, nur Dumme und vor Eitelkeit Aufgeblasene könnten glauben, daß ein chemisches Präparat irgendwelche lebenserhaltende Macht in sich selbst besitze. Das hieße ja, sich auf denselben geistigen Standpunkt zu stellen, wie die Neger und die Hottentotten, die »die Geister« in einem Granitblock oder einem Stück Holz anbeteten.

Asmus Hagen trommelte mit den Fingern auf der Weste und erwiderte: »Ich will Ihnen vorschlagen, einen Versuch zu machen, Pastor Vestrup. Zum Beispiel mit einem Eßlöffel Rizinusöl. Auf die Gefahr hin, eines negerhaften Aberglaubens beschuldigt zu werden, versichere ich Sie, daß die Wirkung ganz unabhängig von irgendwelchem Glaubensbekenntnis sein wird. Bei einem Christen, einem Mohammedaner oder einem Heiden garantiere ich das gleiche Ergebnis.«

Als Mads Vestrup eine scharfe Antwort gab, ließ Asmus Hagen sich reizen, und die beiden Kampfhähne gerieten aneinander in einem Streit über die Anmaßung der Wissenschaft und die Verantwortung des Arztes.

Währenddessen sank Torben in seine eigenen Gedanken zurück, froh, eine kleine Weile ungestört sein zu können. Aber die Gedanken waren schwindelig geworden wie losgelassene Tauben, die auf dem Dach sitzen und sich um den geöffneten Schlag drücken – lichtgeblendet, unentschlossen und eingeschüchtert. Halb wie im Traume hörte er die Stimmen der andern. –

»Ich will Ihnen eine Frage stellen,« sagte Mads Vestrup zu dem Professor. »Was hilft es, den Körper gesund zu machen, wenn die Seele hinsiecht und das Herz sich verhärtet? Woher nimmt ein Arzt überhaupt den Mut, seine Kunst anzuwenden, wenn er sich nicht als Gottes demütiges Werkzeug fühlt? Dann handelt er ja völlig blindlings. Wenn die Herren Ärzte den Lebenslauf ihrer Patienten bis an das Ende, ja über den Tod hinaus, bis an das Jüngste Gericht verfolgen könnten, so würden sie gewiß in mehreren Fällen Grund haben, ›das Wunder‹ zu bereuen, das sie an ihnen getan haben.«

»Ich halte es für zwecklos, die Diskussion fortzusetzen,« sagte Asmus Hagen. »Darf ich Sie nur daran erinnern, daß Christus nach der Bibel selbst als Arzt auftrat. Er hat sogar Tote auferweckt, womit wir andern uns doch nicht abgeben. In Anbetracht seiner Auffassung vom Dasein finde ich das übrigens sehr inkonsequent von ihm. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Jairi Töchterlein. Wenn man diese Welt als Jammertal ansieht, scheint es mir ein eigentümliches Werk der Barmherzigkeit, ein glücklich heimexpediertes Menschenkind zu diesem Elend wieder aufleben zu lassen.«

Mads Vestrup hörte dies mit bebendem Munde an. Das Blut sang ihm in den Ohren. Er mußte die Augen niederschlagen, um sich beherrschen zu können.

Seine Antwort kam mit leiser Stimme, in abgerissenen Sätzen. Fast wie zu sich selbst sprach er von dem aufrührerischen Eigenwillen der Jetztzeit.

»Aber wenn die Stunde des Todes für einen armseligen Menschen kommt, wird sich alle selbstgeschaffene Herrlichkeit wie Dunst auflösen. Wenn sich die Finsternis auf unsere Augenlider legt und der ausgezehrte Körper sich in Angst und Qual krümmt – was helfen da alle Pulver und Tropfen der Wissenschaft? Für das Grauen des Todes und die Qual des Gewissens gibt es keine Medizin.«

»Da haben wir doch jetzt zum Beispiel das Morphium,« entgegnete Asmus Hagen.

Das kam wie hingeworfen, aber der Pfeil fuhr Mads Vestrup gerade ins Herz und traf mit einer Kraft, daß man es fast hören konnte. Er erhob den schweren Kopf und starrte seinen Gegner mit offenen Munde an.

»Ja – Gift!« sagte er.

»Allerdings. Aber dieses Gift hat sich in der Hand der modernen Wissenschaft in einen Segen für die Menschheit verwandelt. In einigen wenigen Augenblicken bringt es einem armen Leidenden Frieden, so daß er so süß in den Tod hinüberschlummern kann wie ein Kind an der Mutter Brust. Die kleine silberne Spritze geht ihren Siegesgang durch die Welt und jagt sicher viel ungesunde Furcht und Grauen aus den Gemütern. Sie werden zweifelsohne auch selbst erfahren haben, daß die Gnadenmittel der Kirche bei manchen Menschen einen Konkurrenten erhalten haben, der –«

Weiter kam er nicht. Erdfahl im Gesicht, taumelte Mads Vestrup mit einem Grunzen wie ein wilder Eber in die Höhe und umklammerte die Rücklehne seines Stuhles. Es war seine Absicht, dem Spötter den Stuhl an den Kopf zu schleudern, aber ein Ruf des erschreckten Torben brachte ihn zur Besinnung. Im selben Augenblick kam auch Barbara herein. Da schob er den Stuhl beiseite und stürzte aus dem Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

Asmus Hagen blickte ihm ganz verblüfft nach, dann sah er zu Torben hinüber.

»Du bist doch nicht böse auf mich, alter Freund!« sagte er, als Barbara wieder gegangen war, um den Pfarrer hinauszugeleiten.

»Er war mein Gast,« sagte Torben.

»Freilich, das war eine dumme Geschichte! Hauptsächlich deinetwegen. Ich bitte dich um Entschuldigung. Aber das Biest hätte mich ja auch nicht so zu reizen brauchen. Übrigens begreife ich nicht, daß du diesen unappetitlichen Kerl um dich herum haben magst. Das ist nicht gesund für dich. Was ist er im Grunde für ein Mensch? Stammt also hier aus der Gegend?«

»Seine Mutter war eine arme Weberwitwe aus der Nachbargemeinde. Ich entsinne mich ihrer noch ganz deutlich. Als Kind war ich ein wenig bange vor ihr, weil sie eine große Hornbrille trug. Vielleicht auch, weil ich gehört hatte, daß sie die ganze Bibel auswendig wisse.«

»Dann hat er also seine Verrücktheit nicht von Fremden. Hast du wohl seine Augen beachtet? Nimm dich vor dieser Art von Leuten in acht! Ich kenne sie!«

»Ob du sie wirklich kennst?«

»Ach du – hier bei uns steckt noch das Mittelalter ringsumher in allen Ecken und Winkeln. Mit dem Obskurantismus geht es wie mit den Wanzen und den Schwaben. Die vertreibt man auch nie ganz aus ihren Schlupflöchern. Und wenn die Kerle so viel Macht hätten, wie sie Willen haben, dann schwelten in allen Ländern wieder die Scheiterhaufen.«

»Ich entsinne mich noch, Asmus, deiner stehenden Redensart in alten Zeiten, daß du alle Pfaffen und Küster gehängt sehen möchtest! Da habt ihr einander nicht viel vorzuwerfen, sollt ich meinen.«

Asmus Hagen, der durch das Zimmer gegangen war, wandte sich auf dem Absatz um und betrachtete den Freund mit einem bekümmerten Ausdruck.

»Was machst du eigentlich für Geschichten, Torben? ... Du hast Verkehr mit Geistlichen, studierst Mystiker und verfällst den Hexenkünsten. Gott bewahre deinen Verstand, mein Junge! Es war offenbar die höchste Zeit, daß ich kam und dich aufrüttelte. Und was für ein Weiblein ist es eigentlich, das hier herumschleicht? Sie sieht leibhaftig aus, als sei sie auf dem Besenstiel hierhergeflogen. Aber du bist ja zeit deines Lebens immer ein Stück Träumer gewesen, Junker Torben! – Nun mußt du aber hineingehen und ruhen. Ich kann sehen, daß du müde bist.«


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