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VIII

Der Festplatz war eine große Lichtung im Walde. Hier, wo fast täglich Krähenscharen ihren Spektakel machten, standen jetzt vier- bis fünftausend Menschen Kopf an Kopf vor einer graubekleideten flaggengeschmückten Tribüne mit einem ausgebauten Rednerpult. Auch die Tribüne war gedrängt voll von Menschen. Auf der einen Seite des Mittelganges saßen die Zeitungsberichterstalter, über ihre Papiere gebeugt, auf der andern Seite hatten die Vertreter der politischen Vereine der Umgegend ihren Platz zugleich mit den andern besonders Eingeladenen, darunter der Jägermeister in seiner Eigenschaft als Besitzer des Waldes, und Frau Wilhelmine. Auch für Frau Berta hatte man hier Platz geschafft.

Gleich unterhalb des Rednerpultes waren ein paar Reihen fester Bänke für alte Leute bestimmt, aber in der Hauptsache von jungen Kopenhagenern eingenommen, die aus den an der Küste gelegenen Sommerfrischen hierher geradelt waren. Überall aus dem ganzen Lande Fünen war die Bevölkerung wie zu einer Volksbelustigung herbeigeströmt. Ein mächtiger Wagenpark bildete den Rahmen um den Platz und erstreckte sich bis tief in den Wald hinein. Da waren Kleinstädter und Bauern und weißgekleidete Damen mit langen Tüllschals. Da waren Handlungsgehilfen und Soldaten, und da waren scheu blickende Landstreicher, die sich Enslevs dankbar erinnerten als des Ministers, der seine Hand über den Schnaps des armen Mannes gehalten, die Gefängnisverhältnisse verbessert und die Landarbeitshäuser zu geselligen Aufenthaltsorten mit allerlei Unterhaltung gemacht hatte.

Die Versammlung begann damit, daß Balduin Hansen vortrat und als Vorsitzender des Jugendvereins alle willkommen hieß. Er war ein kleiner Mann in mittleren Jahren mit der Suada des geborenen Volksredners. Während er sprach, stand er vornübergebeugt mit gespreizten Ellbogen und stemmte die Hände gegen den Rand des Rednerpultes, und in dieser Stellung stieß er den Zuhörern die Worte wie mit Hörnern in den Kopf hinein. Aber plötzlich riß er den Hut ab, brachte schreiend ein Hoch auf die Verfassung aus, dirigierte die Hurrarufe mit der andern Hand, verbeugte sich wie zum Dank und teilte darauf geschäftsmäßig mit, daß das Mitglied des Amtsrates, Hofbesitzer Jörgen Mosegaard, das Amt eines Wortführers übernehme wolle.

Ein dickbäuchiger und bartloser Mann erschien auf der Rednertribüne, einen Kneifer in der Hand. Jörgen Mosegaard war einer der politischen Veteranen der Gegend und trat sein Ehrenamt mir vieljähriger Übung an. Er sah vertraut um sich und lüftete den Hut erst, als er zu sprechen begann.

Es herrschte ziemlich viel Unruhe. Fast niemand konnte hören, was er sagte. Es wurde »Still!« gerufen, aber ehe Ruhe eintrat, war er bereits mit seiner Rede fertig. Man sah ihn seinen Hut in der Luft schwenken, und ein paar Menschen riefen Hurra. Das war ein Hoch auf das Vaterland.

Nun trat Pastor Gaardbo vor als einleitender Redner der Versammlung. Das erregte Enttäuschung bei allen den vielen Fremden, die ausschließlich um Enslevs willen gekommen waren. Sie kannten den Namen des Mannes nicht aus den Zeitungen und machten sich daher nichts daraus, ihn zu hören. In ihrer Ungeduld versuchten sie, ihn durch Zurufe und Unterbrechungen zu entfernen, woran Balduins Hansens politische Freunde sich allmählich beteiligten.

»Danke, Herr Pastor! Jetzt ists genug! ... Fassen Sie sich ein bißchen kürzer! Kommen Sie am Freitag wieder!« Der Wortführer mußte sich zeigen und die Versammlung zur Ruhe ermahnen, was er tat, indem er auf väterliche Weise den Kneifer in die Höhe hob.

Oben auf der Tribüne saß Enslev, einen breitrandigen Künstlerhut auf seinem weißen Kopf. Er hatte sich nach dem Redner umgewandt, und es schien den Leuten, daß auch er dieses Pfarrers überdrüssig war, der fortfuhr zu schwatzen. Der eine Arm lag auf dem Geländer, und die Finger bewegten sich ungeduldig. Zuweilen schien er vor Langeweile tief zu seufzen, oder er sah mit einem gleichsam hoffnungslosen Blick über die Versammlung hinaus, was die Spektakelmacher sofort zu neuen Zurufen anfeuerte.

Es war alles Komödienspiel. Niemand war so scharfhörig wie er, niemand folgte der ruhigen Rede des Pfarrers mit tieferer Unruhe. Dieser Neffe hatte den alten, kinderlosen Mann von dem erstenmal an beschäftigt, als er seinen Namen gedruckt sah. In den letzten zehn Jahren hatten seine Gedanken ihn umkreist. Mit seines verwitterten Herzens letztem Rest an weichen Gefühlen hatte er aus der Ferne sein Treiben verfolgt. Auf Umwegen hat er sich beständig nach ihm erkundigt. Selbst nachdem der Neffe Pfarrer geworden war, hatte er die Hoffnung auf eine Verständigung nicht aufgegeben, und als er nun erfuhr, daß Tyrstrup unter der Hand Balduin Hansens Wahl zu seinen Gunsten entgegenarbeitete, hatte er sich überwunden, selbst zu kommen und eine Annäherung zu versuchen. Am äußersten Rande der Versammlung stand ein Mann, den die Leute seiner Kleidung und seines ganzen sonderbaren Aussehens wegen ein wenig ängstlich ansahen. Es war eine schwerfällige Gestalt mit einem wettergebräunten Gesicht und einer Brille. Eine Mütze saß ihm tief hinab über dem wildwachsenden Haar, das ebenso wie sein Rock von Sonne und Wind fast entfärbt war. Die Kleider hingen ihm um seinen Körper wie ein Sack. An den Füßen hatte er ein Paar elende Knöchelschuhe, die auf den Landstraßen der ganzen Welt plattgetreten zu sein schienen. Aber ein gewöhnlicher Landstreicher konnte er doch nicht sein. Er sah mehr aus wie ein Verrückter oder ein entsprungener Zuchthauskandidat in gestohlenen Kleidern, der sich leichtsinniger Weise aus seinen Verstecken in Kornfeldern und Wäldern hatte hervorlocken lassen.

Pastor Gaardbo, der jetzt unter ironischen Hurrarufen endete, hatte zugunsten einer »Barmherzigkeits-Politik« gesprochen. Seine armen Freunde brachten ihm ein schüchternes Hoch aus. Man hörte einzelne zerstreute Hurras und sah eine Menge alter Hüte in der Luft schwenken.

Aber nun wurde es still. Aller Augen waren auf Enslev gerichtet, der durch einen an den Wortführer gerichteten Wink zu erkennen gegeben hatte, daß er zu reden wünsche.

Er erhob sich jedoch nicht sogleich, sondern blieb noch ein wenig sitzen, um den Empfang vorzubereiten und der Erwartung Zeit zu lassen, sich auszubreiten und zu wachsen, und wirklich gelang es ihm, im Laufe dieser Augenblicke die große ungleichartige Versammlung zu einem Organismus zusammenzuschmelzen, der unter einer gemeinsamen nervösen Erregung zitterte. Jedesmal, wenn er sich bewegte, ging ein Ruck durch die Menge wie durch ein Tier, das sich zum Sprunge anschickt.

Jetzt sah man, daß er die Hand ausstreckte, um seinen Stock zu ergreifen. Das Zeichen war gegeben. Lange, bevor er bis an das Rednerpult gelangt war, begannen die Hurrarufe. Und auf einmal schwoll der Ruf an und steigerte sich zum Jubel, als er dort vor aller Augen stand – lächelnd, entblößten Hauptes, mir vorgestreckten Armen für den Empfang dankend, als wünsche er, jedem einzelnen von den Tausenden die Hand drücken zu können. Die jungen Damen wehten mit ihren Tüllschals, und die Landstreicher brüllten ihm ihre Anerkennung durch rostige Kehlen zu. Und es war keine Rede davon, daß er versuchte, den Sturm zu stillen. Seit einem Menschenalter hatte er das Volk daran gewöhnt, der Freiheit in seiner Person zu huldigen, und er empfand namentlich in diesem Augenblick kein Bedürfnis, es aus der Gewohnheit zu bringen.

Viele von Pastor Gaardbos Anhängern nahmen an den Hochrufen teil. Es war ja Enslev. Der Pfarrer selber war, gleich nachdem er seine Rede beendet hatte, von der Tribüne heruntergestiegen. Jetzt stand er unterhalb des Rednerpultes neben den Bänken, lüftete den Hut ein wenig, um nicht zu demonstrieren, war aber stumm.

Endlich hatte man sich ausgejubelt, und Enslev konnte zu Worte kommen. Er begann mit der Mitteilung, daß der alte Müller Jensen sich gezwungen gesehen habe, sein Folkethingsmandat zur Verfügung zu stellen. Die freisinnigen Wähler des Kreises stünden also der ernsten Aufgabe gegenüber, sich in bezug auf einen neuen Vertreter zu einigen. Nachdem er darauf eine Übersicht über die Geschichte des Verfassungskampfes gegeben hatte, sagte er: »Allem Anschein nach ist es uns ja gelungen. die Feinde der Freiheit auf allen Gebieten niederzuschlagen. In der Staatsleitung, in der Verwaltung, in der Schule und in der Kirche. Man muß jetzt in den dunkelsten Ecken mit einer Laterne nach ihnen suchen wie nach Ratten. Auf der andern Seite aber läßt sich nicht verhehlen, daß der Sieg uns allerlei Freunde auf den Hals geschafft hat, denen gegenüber auf der Hut zu sein aller Grund vorliegt. Es pflegt ja mit einer Bewegung so zu gehen, wenn sie ihre Sturm- und Drangperiode überstanden hat. Dann wird sie von Anhängern überwältigt und läuft Gefahr, in Umarmungen erstickt und in Freudentränen ersäuft zu werden. Ehemalige Gegner erscheinen, die Hand aufs Herz, und versichern, daß sie in ihrem Innern stets der heiligen Sache angehört haben und nur durch ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen bisher verhindert waren ihr Leben für sie zu opfern.

»Ich habe diesen Sommer in ein paar Reden vor der verborgenen und vermummten Reaktion gewarnt, tue zwischen uns herumschleicht und jetzt unsere größte Gefahr ist. Sie täuscht die Gutgläubigen in allerlei wohl ersonnener Verkleidung – auch im Predigertalar. Ja, am allermeisten darin! Es scheint ein historisches Gesetz zu sein, das an den Tag zu ziehen, zur Erwägung für das dänische Wählervolk, jetzt, wo es an der Zeit ist – nämlich, daß in dem zweifelhaften Haufen, der sich in elfter Stunde einer siegreichen Bewegung anschließt, sich eine auffallend große Anzahl von Dienern der Kirche befinden; und so ist es auch in unserm Fall gewesen. Unsere brave Geistlichkeit, die ringsumher in den Pfarrhäusern mit theologisch aufgeschwollenen Gehirnen unter dem Käppchen dasaß, ist jetzt im Begriff, unsere weitestgehenden und kampfeifrigsten sozialen Reformatoren zu werden. Beachten Sie den verspäteten Mut, mit dem sogar Pröpste und Bischöfe jetzt für die Gesellschaftslehre der Gleichheit und Brüderlichkeit in die Schranke treten! Derselbe Klerus, der diese als ärgerniserregend und unchristlich bekämpfte, solange eine Möglichkeit vorhanden war, sie im Keime zu ersticken, ist jetzt der wahre Freund des kleinen Mannes geworden, und eine Reihe von den jungen Pfarrern unserer Zeit hat ja wirklich mit lobenswerter Aufopferung persönlich teilgenommen an der Arbeit, die soziale Not zu lindern. Ich sage von dem allem: besser spät als nie, wenn es sich um das Wohl des Nächsten handelt. Aber unsere lieben Parteigenossen im Ornat dürfen es uns doch nicht verübeln, daß wir bei unsern historischen und persönlichen Erfahrungen ihnen mit ein klein wenig Mißtrauen begegnen und sie mit den klassischen Worten fragen: ›Welch Geschäft führt euch her. Ehrwürdige Herren? Kommt ihr nun – ein wenig spät eurer sozialen Dienstpflicht zu genügen, oder habt ihr verborgene Ziele mit diesem ein wenig überraschenden Anerbieten zwecks gemeinsamer Arbeit?‹«

Man spürte von neuem Unruhe in der Versammlung. Die Leute aus der Umgegend hatten allmählich begriffen, wessen Kopf fallen sollte, und viele Augen suchten Pastor Gaardbo. Unter den Freunden des Pfarrers regte sich eine hörbare Unzufriedenheit. Dahingegen fand der alte Meister Zustimmung bei der Mehrzahl von Balduin Hansens Wählern, die die Worte als Agitation für dessen Wahl auffaßten.

Enslev hielt sich noch aufrecht auf der Rednertribüne. Er stand dort wie ein Herrscher. Er hatte seiner Jugend trotziges Hintenüberwerfen des Kopfes beim Reden bewahrt, und seine Handbewegungen waren voll Leben. Seiner Stimme aber merkte man das Alter an. Draußen in den äußersten Kreisen der großen Menschenmasse konnte man ihn zeitweise schlecht hören. »Ich gestehe, daß ich für meine Person mit etwas gemischten Gefühlen Zeuge der jetzigen Massenentfaltung von Geistlichkeit in unserm öffentlichen Leben bin, die von anderer Seite in unserer Partei mit mehr oder weniger offener Befriedigung begrüßt worden ist.«

»Tyrstrup!« rief ein langer Student, der mitten aus dem Gewimmel aufragte. Die dreiste Unterbrechung erregte Zorn und Zischen ringsumher. Enslev aber griff sie auf und sagte: »Lassen Sie mich den Anlaß benutzen, der hier gegeben ist, um einer Zeitungsente, die auch vor meinen Ohren in diesen Tagen geschnattert hat, den Hals umzudrehen. Man hat sich in verschiedenen Zeitungen unserer Gegner mit dem Verhältnis zwischen dem jetzigen Ministerpräsidenten und mir beschäftigt. Ich wünsche daher, hier zu erklären, daß, so wie die Partei – und das Volk – selbstverständlich keinen andern Wunsch hegen kann, als diesem Ministerium zu einer guten Wahl zu verhelfen, so hege ich persönlich nur die Hoffnung, mein Teil dazu beizutragen, solange der Kurs der alte ist.«

Die Mitteilung wurde mit einem starken und anhaltenden Beifall von den vielen begrüßt, bei denen die Gerüchte von der Uneinigkeit in der Parteileitung Sorge erregt hatte. Die verborgene Drohung, die in den letzten Worten lag, wurde nur von wenigen verstanden. Aber dieser Ausbruch allgemeiner Zufriedenheit wirkte als unfreiwillige Demonstration zugunsten von Tyrstrup, was Enslev auch sehr wohl empfand. Er stand einen Augenblick stumm da, und als er fortfuhr, war sein Ton verändert.

»Lassen Sie mich meine Meinung ohne Vorbehalt sagen! Ich fürchte die Geistlichkeit, auch wenn sie Gaben bringt. Mitarbeiter km Ornat gehen nur zu oft ihre eigenen Botenwege und dienen einer andern Sache als der, die sie im Munde führen. Sie sprechen vielleicht schön von der Freiheit des Volkes, fügen aber für sich selbst hinzu: ›Unter Vormundschaft der Kirche‹. Sie verkünden vielleicht eine Politik der Barmherzigkeit und eifern für soziale Reformen, gleichzeitig aber ist ihr ganzes Trachten eine Wiedererrichtung eines mittelalterlichen Kirchenstaates mit dem Pfarrer als unverletzbare Autorität. Bisher geht man freilich noch ganz still umher mir seinen Hoffnungen. Aber wer ein scharfes Ohr hat, wird leicht den Seufzer vernehmen, der zur Zeit durch die dänische Geistlichkeit geht –, ein brünstiger Sehnsuchtsseufzer nach der verlorenen bürgerlichen Macht und Autorität. Da ist es denn an der Zeit, zu sagen, so daß es im ganzen Lande gehört wird, daß von aller Tyrannei die der Geistlichkeit stets die unleidlichste, die entwürdigendste, die grausamste war. Ja – so unglaublich es klingt! – selbst das religiöse Gefühl ist einmal über das andere hierzulande heimatlos gewesen, weil eine unversöhnliche Klerisei es von der Kirche ausschloß. Ich erinnere Sie an den jugendlichen Grundtvig, der auf einem Trockenboden predigen mußte! Denkt an eure eigenen fünenschen Laienapostel, den unerschrockenen Kristian Svane, und wie die andern hießen, die von herrschsüchtigen Geistlichen ins Gefängnis geworfen wurden, nur weil sie ohne ihre Erlaubnis Leute zum Bibellesen versammelten! ... Mein Wort an das dänische Wählervolk soll daher heute sein: Hütet euch vor dem Wolf im Schafpelz! Er ist das grimmigste Tier in der Geschichte! Das gierigste, das unbarmherzigste. Und laßt uns nun dreidoppelt Hurra rufen für eine gute Wahl! Ich meine damit eine Wahl, die die vermummten Feinde des Lichts in ihre dunklen Winkel zurückjagt, eine Wahl, die alle Hoffnungen auf Wiedererweckung eines neuen Adels oder einer neuen Kirchenmacht hier im Lande unzweideutig niederschlägt und das Reich, die Macht und die Ehre wieder in die Hände des arbeitenden Volkes legt!«

Er hatte den letzten Teil seiner Rede mit großer agitatorischer Kraft gesprochen, und die Schlußworte riefen erneuten Jubel wach, nicht zum mindesten bei denen, die nichts verstanden hatten. Er mußte mehrmals an das Rednerpult vortreten, um die Huldigung entgegenzunehmen.

Trotzdem war da eine ganze Anzahl, namentlich unter Pastor Gaardbos Anhängern, die die Hüte auf dem Kopf behielten. Durchgehend hatte die Rede Erstaunen und außerdem ein wenig Bedenken erregt. Die bäurische Jugend, die mit so gespannten Erwartungen hierher gekommen war, fühlte sich tief enttäuscht. Das waren Leute, die entweder ganz in praktischen Interessen aufgingen oder auch gerade stark kirchlich interessiert waren. Die letzteren waren empört.

Jetzt sollte Balduin Hansen reden. Vorher aber mußte eine Pause gemacht werden, weil der größte Teil von denen, die ausschließlich gekommen waren, um Enslev zu hören, jetzt aufbrach und Störung hervorrief. Man stürmte die Schuppen, in denen die Fahrräder aufgestellt waren, und Scharen von fröhlichen Sommerfrischlern zogen mit Hallo durch den Wald. Als der Wortführer wieder vortrat, waren fast nur noch Leute aus dem Wahlkreis selbst zurückgeblieben, und Balduin Hansens Erscheinen auf der Rednertribüne ward daher jetzt das Signal zu einem lebhaften Wahlkampf. Die Hurrarufe seiner Freunde riefen die Gegner zu den Waffen, und nun zeigte es sich, daß Pastor Gaardbos Anhängerschaft weit stärker war, als es zu Anfang den Anschein gehabt hatte. Enslevs Rede hatte ihnen die Zunge gelöst. Es wurde gerufen und gezischt. Es währte ein paar Minuten, bis Balduin Hansen sich verständlich machen konnte.

Seine Rede war eine regelrechte Wahlrede. Er nahm sein ganzes Programm durch, das ein Entwurf zu einer neuen Gesellschaftsordnung war, aufgebaut auf Bodenzinsbesteuerung, seine Lebens- und Herzenssache, von deren Durchführung der begeisterte kleine Mann eine neue Weltengeburt mit Frieden und Freude für die ganze Menschheit erhoffte.

Als er endete, sollte die Versammlung der Bestimmung nach vorbei sein, und man wartete nur darauf, daß Jörgen Mosegaard vortreten und das letzte Lebehoch ausbringen würde. Da wurde man darauf aufmerksam, daß sich oben auf der Tribüne, wo sich alle der Treppe zugewandt hatten, die von der Rückseite dort hinaufführte, irgend etwas zutrug. Die Herren von der Presse hatten sich in ihrem Verschlage erhoben und machten einen langen Hals. Es mußte etwas Unerwartetes vorgefallen sein.

Jetzt sah man auch einen Fremden auf der obersten Stufe der Treppe stehen. Es war der sonderbare, bebrillte Mann, der sich bisher in dem äußersten Kreis der Zuhörerschaft aufgehalten und dort auf Grund seines Aussehens ein wenig Beängstigung hervorgerufen hatte. Jörgen Mosegaard und ein paar andere von den leitenden Männern der Versammlung standen da und sprachen mit ihm. Hinterher hatten sie eine längere Verhandlung mit Enslev.

Das Ergebnis war, daß der Wortführer vortrat und meldete, daß er nach Beratung mit den im Augenblick anwesenden Mitgliedern des Vorstandes das Wort einem Manne erteilen wolle, der gebeten hatte, ein Zeugnis vor der Versammlung ablegen zu dürfen.

»Es ist der ehemalige Pfarrer in der Volkskirche, Pastor Mads Vestrup.«

Da waren nicht viele, die den Namen kannten, und von diesen hatten die meisten nur eine undeutliche Erinnerung, in den Zeitungen von einem »Wanderprediger« gelesen zu haben, der verabschiedet worden war und nun im Lande umherging und auf offenem Felde und in Krugställen Erbauungsversammlungen abhielt.

Es erregte daher Erstaunen, als Pastor Gaardbo von seinem Platz unterhalb der Rednertribüne mit Heftigkeit ausrief: »Der Mann darf hier nicht reden.«

Die Leute sahen einander an, und als Pastor Gaardbo begriff, daß es notwendig war, eine nähere Erklärung zu geben, teilte er mit, daß Pastor Vestrup seit seiner Verabschiedung, die wegen seines unsittlichen Lebenswandels erfolgt sei, umherreiste und die Leute mit rohen und lästerlichen Reden gegen die Kirche aufreizte. Er wolle es der Versammlung anheimstellen, daß sie sich weigere, ihn zu hören.

Unwillkürlich sahen alle zu Enslev empor, von dem man eine Äußerung erwartete. Sie kam auch gleich darauf, indem er dem Neffen ironisch zurief: »Freiheit für Loke so gut wie für Thor!«

»Ich sollte meinen, diese Freiheit ist auf dieser Versammlung bereits hinreichend ausgenützt,« entgegnete der junge Pfarrer, und diese mutigen Worte riefen Schrecken hervor, an mehreren Stellen aber auch murmelnde Zustimmung. »Ich lege Protest dagegen ein, daß Pastor Vestrup hier das Wort erhält.« Er hatte mit Kraft und Autorität gesprochen. Man sah, daß Enslev empört war, und eine allgemeine Ratlosigkeit bemächtigte sich der Versammlung.

Indessen war Mads Vestrup in den Mittelgang der Tribüne gelangt. Alle konnten ihn jetzt sehen, und der Eindruck seiner verkommenen Erscheinung entschied für ihn. Nicht zum mindesten die eigenen armen Freunde Pastor Gaardbos wurden von dem Anblick beeinflußt, und es erhob sich kein Widerspruch, als Jörgen Mosegaard – und diesmal mit würdig erhobenem Kneifer – verkündete: »Ich erteile Pastor Vestrup das Wort!« Ehe der frühere Pastor zu Favsing zu reden begann, stand er eine Weile da und spähte gleichsam oder witterte über die Versammlung hin. Seine rechte Hand griff mehrmals nervös nach der Brille, und in dem Gesicht mit den plumpen Zügen wechselte der Ausdruck unaufhörlich in einer Weise, die an das Spiel des Schattens über einem Pflugacker unter einem unruhigen Aprilhimmel erinnerte.

»Es war eigentlich ziemlich stark, von mir zu sagen, daß ich die Leute gegen die Kirche Gottes aufreize,« sagte er mit seiner groben jütischen Stimme, die eine starke Erkältung noch rauher machte. »Ich weiß nicht anders, als daß ich gerade umhergehe und nach Gottes Gemeinde hier im Lande suche; aber die ist nicht leicht zu finden. Sie sitzt so verzagt da und verkriecht sich wie ein altes Mütterchen, das sich nicht zu zeigen wagt, weil die Straßenjungen hinter ihr dreinschreien. Das scheint vielen von euch, die ihr hier versammelt seid, vielleicht eine sonderbare Rede zu sein. Ihr wißt am Ende gar nicht, daß der Satan auch hier auf Erden seine Kirche hat. Über die sind ja die meisten Menschen in einem so schändlichen Irrtum begriffen. Es ist übrigens genau dieselbe, von der wir vorhin hörten, dir machtlüsterne Kirche, der alle Mittel gleich gut sind, wenn sie in dieser armen Welt nur Ansehen und Macht verleihen. Seht, darüber möchte ich euch nun gern eine Geschichte erzählen. Es war damals – ihr wißt ja als unser Herrgott noch in Gestalt eines Pilgrims hier auf Erden einherwanderte, um sein Volk zu besuchen. Und nun müßt ihr euch den gewaltigen Gott des Himmels und der Erde ja nicht wie einen gemütlichen Weihnachtsmann vorstellen, der alle Taschen voll Süßigkeiten hat, so wie wir ihn auf Glanzbildern und in den meisten Andachtsbüchern abgebildet sehen. Nein, nein! In seinen Fußtapfen erhoben sich die Angst und die Verzweiflung, und die frommen Herzen bebten. So ist die Wiederkunft des Herrn, und so wird sie bleiben, bis die Posaune des Gerichts uns am Jüngsten Tage ertönt. Amen!«

Er mußte sich einen Augenblick umwenden und sein rotes Taschentuch herausziehen, um die erkältete Nase zu putzen. Die Leute waren unruhig geworden und sahen unschlüssig zu dem Wortführer und zu Enslev auf. Und viele entdeckten nun, daß Pastor Gaardbo gegangen war. Was konnte hieraus entstehen?

Aber Mads Vestrup ließ ihnen keine Zeit zu Erwägungen. Dem ehedem so unbeholfenen Kanzelredner, der seine Gemeinde jeden Sonntag in Schlaf predigte, war auf der Apostelwanderung das Zungenband gelöst worden. Die entfesselte Leidenschaft hatte ihn verwandelt. Die Einsamkeit auf den Landstraßen, Not, Entbehrung und Reue hatten seinen Sinn gehärtet und dem sorgenvollen Manne eine Unerschrockenheit in der Rede verliehen, die den Leuten die Ohren aufschloß.

»Unten in der Hölle aber saß der Teufel und war so recht gründlich mutlos,« fuhr er fort. »Es waren schlechte Zeiten für den Vater der Lüge, und er begriff, daß etwas Besonderes geschehen müsse. Als er dann einige hundert Jahre darüber nachgesonnen hatte, nahm auch er eines Tages menschliche Gestalt an und begab sich auf die Marktplätze, um zu predigen. Denn trotz all seiner Klugheit kann der Teufel ja nie selber auf etwas verfallen. Er wird immer nur ein ›Beefsteak auf andre Weise‹, wie man zu sagen pflegt. Und die andre Weise... ja, das war sein alter Kniff, das war die Verleugnung! So begann er denn damit, seine eigene Existenz zu verleugnen. Der Teufel sei nur eine Sagenfigur, und über die Hölle könne man lachen, die sei nichts weiter als eine schlaue Mönchserfindung. Und was Gott anbetraf... ach, der war so ein liebenswerter alter Kerl, der nur verlangte, daß man ihn nicht ganz im Stich ließ. Erfreute sich von Herzen, wenn wir Menschen unsere Freudenlieder nach der seit der Erschaffung der Welt bekannten Melodie sangen:

Gott soll gelobet und gepriesen sein,
Meinem Nachbar starb sein Schwein!«

Wieder mußte er sein Taschentuch herausholen, aber es war jetzt ganz still ringsherum geworden. Eine unsichere und sorgenvolle Verlegenheit hatte sich aller bemächtigt.

Nur Enslev saß lächelnd da, die Arme über der Brust gekreuzt, Und schien auf seine Weise interessiert zu sein. Als Jörgen Mosegaard einmal Miene machte, einzuschreiten, hatte er das verhindert. Allen sichtlich, schützte er mit einer Handbewegung abermals die Freiheit der Rednertribüne.

»Niemanden, der die Menschen kennt, kann es wundern, daß Satan Glück mit seiner List hatte. Es entstand ein Andrang zu dieser Verkündigung! Ein Gemeindeleben, wie man nie zuvor etwas Ähnliches gesehen, erblühte! Und nun hatte der alte Lügner und Zauberer gewonnenes Spiel. Als der Pilgrim wiederkehrte, kannte ihn niemand mehr. Er stand an der Tür und fragte: ›Wo ist dein zerknirschtes Herz? Wo sind die Tränen, die du über dich selbst geweint hast? Wo ist deine Angst, wo sind die Seufzer deiner schlaflosen Nächte?‹ Die Leute aber verstanden ihn nicht und sagten: ›Was steht er da und schwatzt? Mach, daß du wegkommst, alter Mann! So etwas kennen wir hier nicht. Wir sind fröhliche, unbefangene Menschen, und jetzt wollen wir in ein Bethaus und Lichtbilder sehen und Schokolade trinken.‹

»Seht, das war nur eine Geschickte. Ich möchte nun gern ein kleines Erlebnis erzählen, das ich heute auf dem Wege hierher hatte. Da standen ein paar Menschen vor einem ärmlichen Haus, und ich erfuhr, daß da drinnen ein Mann läge und mit dem Tode ränge – ›Hühner-Lars‹ nannten sie ihn. Dann werdet ihr ihn wohl kennen! Ich ging hinein, und da lag ein alter Mann in einem feinen weißen Hemd auf schimmernd weißem Laken, überhaupt so gut gepflegt und aufgeputzt wie die alte Komödienfigur Jeppe, die in das Bett des Barons gelegt wurde und sich im Himmelreich glaubte. Der arme Mann hatte die Stimme verloren, seine Brust arbeitete schwer, aber die Seele war ganz gegenwärtig, und ich konnte es ihm ansehen, daß er sich ganz beruhigt vorbereitet fühlte zu dem großen Gericht. Noch in der Bewußtlosigkeit des Todes glänzte der alte Sünder vor Selbstgerechtigkeit. – Sehet, dieser niederschmetternde Anblick steht mir noch immer vor der Seele, weil er mich an etwas erinnert hat, was mir kürzlich selbst begegnet ist. Ihr hörtet ja, wer ich bin. Ihr erfuhrt, was mir geschehen ist und weswegen ich von meiner Pfarre fort mußte. Das war das Urteil der Welt. Aber Gott kennt die Menschen. Er schuf uns als Sünder, erfüllt von häßlichen Gedanken und bösen Lüsten, solange wir atmen, und ich weiß nun, daß ich Gott niemals mehr zuwider war, als da ich versuchte, ihm mit meinen Tugenden unter die Augen zu gehen. Deswegen hat er mich noch tiefer in den Schmutz hinabgeschlagen. Dann, eines Tages, verfiel ich in eine schwere Krankheit. Ich lag in Fieberphantasien, und das Merkwürdige dabei war, daß mir mein ganzes Unglück aus der Erinnerung entglitten war. Ich war noch der unbescholtene Pfarrer von Favsing und Lime und wußte, daß ich sterben sollte. Und dann eines Abends ging die Tür auf, und ein Fremder kam herein. Ich erkannte sofort Gott den Herrn. ›Mads Vestrup! Jetzt sollst du von hinnen!‹ sagte er. ›Aber wohin sollst du gebracht werden?‹ – Ich war ja zwar ein wenig ängstlich, hatte aber ein ganz gutes Gewissen, und ich rechnete meinem Richter vor, daß mein Leben rein, meine Gedanken fromm und mein Sinn gehorsam gewesen sei. Da aber sah mich der Herr betrübt an und sagte: ›Mads Vestrup! Wo ist dein bebendes Herz? Wo sind die Tränen, die du über dich selbst geweint hast? Wo ist deine Angst, wo deiner Nächte Kummer?‹ Und mit einer neuen Stimme, die mir durch das Mark drang wie ein tötender Blitz, sprach er die furchtbaren Worte, die unwiderruflichen Worte des Gerichts: ›Gehe von hinnen! Du gehörst der Hölle an!‹« – Er mußte ein wenig innehalten. Die Gemütsbewegung hatte ihn überwältigt. Die Tränen strömten ihm an den Wangen herab. Und plötzlich setzte er seine Mütze auf den Kopf, wandte sich um und ging davon.

Einige versuchten zu lachen; ein einzelner begann rasend zu klatschen, andere zischten und waren wütend. Es waren das alles nur verschiedenartige Ausdrücke für dieselbe unsichere Aufgescheuchtheit. Was für ein Mensch war das nur einmal! War es ein Verrückter oder ein Prophet? Oder war es nur ein Komödiant? Selbst Enslevs Lächeln war einen Augenblick ein wenig unsicher geworden.

Oben auf der Tribüne stellte Balduin Hansen den Berichterstattern der Tagespresse anheim, den unglücklichen Auftritt nicht zu erwähnen, und seine Worte fanden Zustimmung von allen Seiten.

Dann trat Jörgen Mosegaard vor, um die Versammlung zu beschließen. Er hatte den Hut schon gelüftet, um ein letztes Hoch auszubringen, als man Enslev sich erheben und um das Wort bitten sah.

Im selben Augenblick war der Eindruck des umherstreifenden Pfarrers und seiner Rede aus allen Gemütern wie weggeblasen. Alle erwarteten, daß Enslev jetzt Balduin Hansen feierlich als den Kandidaten des Kreises bezeichnen würde, und man war sich klar darüber, daß sich das ohne Widerspruch vollziehen werde. Es herrschte Totenstille.

Und dann kam etwas ganz Unerwartetes, was die Leute mit langen Gesichtern anhörten. Enslev, der von seinem Platz aus sprach, erinnerte daran, daß es eine alte Festsitte sei, ein Hurra auf den Wirt auszubringen, ehe man sich von Tische erhob. Der Jägermeister Hagen habe abermals bei dieser Gelegenheit mit dem Freisinn, der jetzt seit mehreren Generationen die Besitzer von Storeholt auszeichnete, seinen Wald und den schönen Festplatz zur Verfügung gestellt, und hierfür schulde man ihm Dank. »Die großen Grundbesitzer pflegen ja sonst unsere geschworenen Feinde zu sein. Mit besonderer Freude müssen wir da einen Gutsherrn begrüßen, der wie Jägermeister Hagen ein vorurteilsfreies Verständnis und volkstümliches Gemeinschaftsgefühl besitzt. Ein Hoch auf diesen guten und getreuen Demokraten!«

Nach der Versammlung sah man Enslev in dem Wagen des Jägermeisters von dannen fahren. Die Leute zerstreuten sich auf dem Platz, wo sie lange in diskutierenden Gruppen standen und die Köpfe zusammensteckten, wie Schafe bei einem heraufziehenden Gewitter.


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