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XI

Torben war jetzt in die Stadt hinuntergekommen. Er hielt noch immer den Hut in der Hand, weil seine Stirn pochte und brannte.

Finster und öde lag die krumme Verengerung der Straße vor ihm mit einer vereinzelten schläfrigen Petroleumlaterne. Das Mondlicht drang nicht da hinab, und an allen Häusern waren die Läden geschlossen. Hier und da saßen noch halb schlafende Bettler auf den Steintreppen und streckten mechanisch die Hand aus, wenn sie jemand vorüberkommen hörten; aber auf der ganzen Strecke bis zum Marktplatz, wo die Cafés lagen, begegnete er nur dem Widerhall seiner eigenen Schritte.

Es war, als wandere er in einer ausgestorbenen Stadt. Aber er ging dort mit fieberndem Kopf, so bewegt von dem, was geschehen war, und gleichzeitig so voll ausgelassener Gedanken, so besessen von dem Bedürfnis nach lustigen Streichen, wie er es seit seiner Studentenzeit nicht gewesen war. Indem er sich der Stimmung erinnerte, in der er hier vor drei, vier Stunden gegangen war, hatte er ein Gefühl, als sei er wie durch ein Wunder in einem andern Dasein erwacht. Das Leben lag wieder in schimmerndem Morgenglanz vor ihm. Alles war verwandelt. Selbst den Gestank von dem Eselsdünger hier auf der Straße, den er am Nachmittag so störend empfunden hatte, begrüßte er jetzt fast mit Munterkeit, weil auch diese häßlichen, strengen Ausdünstungen der bunten und mannigfaltigen Welt angehörten, die ihm von der Hand einer lieblichen Frau zurückgegeben war.

Unten am Marktplatz, an einer Ecke war ein Obstladen offen: ein tiefer Torweg, in dessen Grunde eine ganze Familie traulich um eine kleine Lampe beisammensaß. Der Anblick veranlaßte ihn, die Schritte zu hemmen, und sofort erhob sich ein halberwachsenes Mädchen in dem Glauben, daß er einen Handel abschließen wolle. Um sie nicht zu enttäuschen, kaufte er die größten und schönsten von einigen blühenden Mandel- und Pfirsichzweigen, die in einer Kruke mitten zwischen den Apfelsinenhaufen standen, schrieb Frau Abildgaards Adresse auf und bat, man möge die Blumen in der Frühe des Morgens dorthin bringen. Und als er sah, daß das Mädchen hübsch war und braune Augen hatte so wie Jytte, legte er übermütig zwei Goldstücke in ihre Hand und schloß ihre Finger darüber.

»Behalte es nur!« sagte er zu dem erschrockenen Mädchen. »Und hüte deine Augen!«

Er ging weiter, hatte aber gar keine Lust, nach seinem Hotel zurückzukehren, wo seiner nur die gewohnte Einsamkeit harrte. Da fiel ihm ein, daß es in einem solchen Wetter unten auf der Strandpromenade herrlich sein müsse; wahrscheinlich würde er dort auch Menschen treffen.

Das stimmte. Der Mondschein hatte viele aus den Hotels herausgelockt, und Damen wie Herren waren außerordentlich lebhaft nach dem Mittagessen.

Mitten zwischen allen diesen fröhlichen und laut redenden Menschen, die langsam, wie in einem Gesellschaftssaal lustwandelten, sah er Direktor Zaun im Sturmschritt, die Hände auf dem Rücken, in seine eigenen Gedanken vertieft, daherkommen. Zufällig sah er auf, als sie aneinander vorüberkamen, und Torben blieb stehen. »Der Himmel hat offenbar etwas mit uns vor, Herr Direktor! Es ist das dritte Mal, daß wir uns heute begegnen. Wollen wir uns nicht vor der Tatsache beugen und eine kleine Strecke selbander gehen?«

Herr Zaun sah überrascht zu ihm empor, setzte seinen goldenen Kneifer auf und betrachtete ihn von neuem – als wolle er sich vergewissern, daß er nicht irre. Dann verneigte er sich mit einer weitläufigen Armbewegung.

»Mit dem größten Vergnügen!«

Seine Mienen und diese Armbewegung vergegenwärtigten Torben von neuem die ganze Szenerie des selig verschiedenen Aprilvereins, wo Herr Zaun das große Grauen der Rednertribüne gewesen war, »der Steinklopfer«, wie man ihn wegen seiner häßlich klingenden Stimme nannte. Später war er einer der Leiter des Kopenhagener Liberalismus geworden, auf alle Fälle ein Mann, der zum Lohn für seine große Opferwilligkeit und seine Parteitreue eine gewisse politische Rolle hinter den Kulissen spielte.

Er begann auch sogleich wieder von den politischen Verhältnissen daheim zu reden und von der Wahrscheinlichkeit einer nahe bevorstehenden Wahl.

»Ich habe gesehen, daß man eine große Landesversammlung vorbereitet,« sagte Torben. »Soweit ich verstanden habe, hat man die Absicht, den Versuch zu machen, sich über ein neues Parteiprogramm zu einigen.«

»Auch das – ja. Wichtiger ist es jedoch, meiner Meinung nach, einen radikalen Personenwechsel zu erzwingen. Ich will keine Namen nennen, aber die Süße der Macht ist offenbar für mehr als eines der Mitglieder der Regierung ein wenig zu ambrosisch gewesen. Sie sind so schwerfällig im Sitzfleisch geworden. Es ist an der Zeit, daß für frische Kräfte im Thing Platz gemacht wird ... für Leute, die die Entwicklung weiterführen können und wollen. Wohl zu merken: in der rechten Richtung! Und nun erzähle ich Ihnen kaum etwas Neues, Herr Gutsbesitzer Dihmer, wenn ich Ihnen sage, daß wir in der Partei immer mit ganz besonderer Erwartung den Blick auf Sie gerichtet und uns daher auch aufrichtig darüber gefreut haben, daß Sie endlich Ihre Gesundheit ganz wiedergewonnen haben.«

Als Torben antwortete, daß er sich jetzt sehr wohl denken könne, an der aktiven Politik teilzunehmen, stürzte sich der Direktor in eine weitläufige Berechnung der Wahlaussichten der verschiedenen Parteien, und es zeigte sich, daß er die ganze Statistik der vorigen Wahl in seinem Gehirn aufgespeichert hatte. Er ließ Namen und Zahlen um sich springen mit der Geschicklichkeit eines wirklichen Steinklopfers.

Torben wurde sehr bald unaufmerksam. Während Herr Zaun mit den Tausenden des dänischen Wahlheeres umhertummelte und sie in Schlachtordnung aufstellte, spielten seine eigenen verliebten Gedanken mit ein paar ganz kleinen Zahlen des kleinen Einmaleins. Er rechnete aus, daß, falls alles nach Wunsch ginge, er in drei, höchstens in vier Monaten werde Hochzeit machen können. Zu der Zeit mußte Favsingholm so instand gesetzt werden, daß er, ohne sich zu schämen, seine Braut in das Heim seiner Väter führen und es ihr zumuten konnte, den Sommer über dort zu wohnen. Er mußte deswegen gleich an seinen Architekten schreiben. Auch der Gutsverwalter sollte angefeuert werden ...

Seine Gedanken wurden von Herrn Zaun zurückgerufen, der sich in Kampfstimmung hineinkalkuliert hatte. Das Volk müsse geweckt werden, sagte er, sonst riskiere man, nach Verlauf von einigen Jahren zu erleben, daß sich die Reaktion wieder auf den Ministersitzen breitmache, mit dem Absolutismus als Ministerpräsident, dem Chauvinismus als Kriegsminister und dem Obskurantismus als Kultusminister. Die Losung müsse jetzt lauten: die besten Männer vor!

»Denken Sie nicht selbst daran, sich um ein Mandat im Thing zu bemühen?« fragte Torben.

Herr Zaun schlug die Augen nieder und ging eine kleine Weile stumm weiter. Aber plötzlich warf er sich hintenüber und wieherte vor Lustigkeit.

»Soll ich Ihre Frage als Aufforderung betrachten? Ich glaube absolut nicht, daß sie Unterstützung bei der Partei finden wird; Leute mit einer solchen Nase« – er riß von neuem den Kneifer herunter und schob sein Gesicht vor – »sind zurzeit bei uns nicht gut angeschrieben. Sie sind nicht beliebt bei unsern Geistlichen ringsumher im Lande, und diese gestrengen Herren sind auf dem besten Wege, eine Macht in der Partei zu werden, was Sie vielleicht wissen.«

Sein Ton machte Torben verlegen.

»Ich will Sie nicht zu weit von Ihrem Wege abbringen,« sagte er, indem er stehen blieb. »Wir treffen uns hier schon ein viertes Mal. Nun möchte ich gern wissen, ehe wir uns trennen, ob ich das, was Sie mir vorhin sagten, als offizielles Anerbieten von der Leitung der Partei betrachten soll, oder –«

»Absolut! Ich habe den ausdrücklichen Auftrag erhalten, bei Ihnen anzufragen, und ich kann Ihnen auch gleich anvertrauen, Herr Dihmer, daß wir Ihnen einen unsrer allersichersten Kreise anzubieten gedenken. Großer Gott, – das fehlte auch noch, daß wir einen künftigen Ministerpräsidenten als Durchfallkandidaten debütieren lassen sollten!«

Er sagte das letztere mit einem breiten Lächeln, trat einen Schritt zurück und verneigte sich ausgelassen ganz bis zur Erde, den Hut in der Hand.

Torben lächelte aus Höflichkeit, hielt es nun aber an der Zeit, aufzubrechen. Mit seinen letzten Worten hatte der kleine sonderbare Mann eingeschlummerte Gefühle bei ihm berührt, die er in diesem Augenblick nicht zu wecken wünschte. Das konnte zuviel auf einmal werden!

»Wie gesagt: ich habe ein schlechtes Gewissen, weil Sie zu weit von Ihrem Hotel fortgekommen sind –«

»Das hat nichts zu sagen. Es ist mir wirklich ein Vergnügen gewesen. Außerdem soll ich mich nach ärztlicher Verordnung so viel wie möglich in der Luft bewegen. Deswegen mache ich regelmäßig vor dem Schlafengehen einen Spaziergang.«

»Sie sind Ihrer Gesundheit wegen hier, Herr Zaun?«

»Ja, ich leide bedauerlicherweise an hochgradiger Schlaflosigkeit.«

»Das kann freilich sehr schlimm sein. Ich habe es auch gekannt. Aber – verzeihen Sie –, lesen Sie wohl nicht zu viele Zeitungen, Herr Zaun?«

»Ach nein, man kann leider so schrecklich wenig bewältigen! Die Blätter nehmen von Jahr zu Jahr an Umfang zu – es geschieht heutzutage ja so ungeheuer viel und es hat doch alles Interesse, nicht wahr? Aber es wird beständig schwieriger, sich einen wirklichen Überblick über die Weltereignisse zu schaffen.«

»Ja, – das Faß der Danaiden!« sagte Torben halb zu sich selbst. Er sah hinab in Herrn Zauns schief verzerrtes Gesicht mit den melancholischen opalbleichen Augen und dachte wieder an die Unterwelt und ihre Schatten.

»Die Abendzeitungen berichten von einem großen Eisenbahnunglück in Japan. Fast hundert Menschen sollen umgekommen sein. In Österreich haben große Überschwemmungen stattgefunden, die ebenfalls Menschenleben gefordert haben. Und wie denken Sie eigentlich über Portugal, Herr Dihmer? Ich will Ihnen sagen, ich fürchte sehr, daß wir eines schönen Tages vor einer Katastrophe stehen. Ich weiß nicht, ob Sie die letzte Nummer der ›Times‹ gelesen haben? Sowohl die politischen als auch die ökonomischen Verhältnisse werden dort in einem Artikel geschildert, der die ernstesten Sorgen erwecken muß. Als wir uns begegneten, dachte ich gerade darüber nach, daß es jetzt sicher nur eine Rettung gibt, eine vollkommene Umgestaltung der inneren Leitung des Landes in Verbindung mit einer europäischen Staatsanleihe von mindestens fünfzig Millionen Milreis. Aber ich frage mich selbst: wer von ihren Staatsmännern da unten wird die Initiative ergreifen? Sa da Bandeira tut es nie und nimmer!«

Torben betrachtete den kleinen Mann mit aufrichtigem Mitgefühl. Er kannte aus seiner eigenen Vergangenheit ein wenig diese unheimliche Überallzugegensein-Manie, die den Leuten durch die Zeitungen eingeimpft wurde. Unwillkürlich sah er verstohlen zu der linken Hand des Herrn Zaun hinab, und als er bemerkte, daß sie keinen Trauring trug, dachte er: Der arme Mann muß seine Gefühle Wind und Wetter preisgeben, weil er niemand hat, den er liebhaben und gegen den er gut sein kann! Er war kurz davor, seinem ehemaligen Mitverdammten zu empfehlen, eine Frau zu nehmen, als Kur gegen Schlaflosigkeit und Nachtwanderungen. Aber er begnügte sich damit, ihm die Hand zu drücken und ihm eine friedliche Nacht ohne zu viele portugiesische Sorgen zu wünschen.

»Und auf Wiedersehen, Herr Zaun!«


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