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IV

Mads Vestrup saß am Abend daheim in seiner kalten Dachkammer in der »Herberge zur Heimat« und wartete auf Kandidat Carlsen – A. B. D. Der Verabredung gemäß sollte Herr Carlsen um sieben Uhr kommen, aber die Rathausuhr schlug gerade acht, und noch war er nicht erschienen.

Mads Vestrup hatte seine Einsamkeit in dem Menschengewimmel der großen fremden Stadt so bedrückend empfunden, daß er sich fast nach dem Kommen des Journalisten sehnte, um wieder ein Gesicht zu sehen, das er kannte. Früh am Morgen, ehe es noch hell war, hatte er angefangen, den Bericht über seine Stellung zu der modernen Kirche und dem christlichen Gemeindeleben niederzuschreiben, den er, wie er beschlossen, im »Fünften Juni« veröffentlichen wollte. Die Arbeit war am Nachmittag fortgesetzt und beendet worden. In der Zwischenzeit war er in der Stadt umher gewesen, um eine billige Privatwohnung zu finden, und hatte sich nun bei einem Schuhmacher in der Knabrosträde eingemietet, wo er ein Zimmer und Mittagessen für vierzig Kronen monatlich erhielt. Außerdem hatte er einen langen Brief nach Hause an Stine geschrieben mit einem Bericht über alles, was er erlebt, seit sie sich getrennt hatten, und nun saß er da und summte einen kleinen Trostvers vor sich hin, der sich einmal auf seiner einsamen Wanderung, weit entfernt von Haus und Heim, in einer schweren Stunde bei ihm im Herzen emporgesungen hatte:

Schick Hunger – Herr – und Not!
Gib Tränen mir für Brot.
Zum Grabe ist der Weg nicht weit.
Bald geh ich frommen Herzens hin.
Wo ich bei meinem Heiland bin.
In Himmelslust und Seligkeit!

Endlich ertönten schwere Schritte auf der Treppe, und gleich darauf stand Herr Carlsen in der Tür, genau so wie am vergangenen Tage, den Hut tief in die Stirn gedrückt, den Rockkragen aufgeschlagen.

Obwohl ihm Mads Vestrup freundlich entgegenkam, war der Empfang eine große Enttäuschung für die alte Zeitungsratte, die so bestimmt erwartet hatte, irgendeine Erfrischung aufgetischt zu finden. Er hatte während der letzten beiden Stunden keinerlei Spirituosen genossen, und sein Gesicht mit den rotblauen Trinkerflecken war blutlos infolge von Spiritushunger.

Ärgerlich warf er sich auf einen Stuhl und begann mit der gewohnten Durchsuchung seiner Taschen, um das Notizbuch zu finden.

»Also die Beichte, die wir haben sollten, Verehrtester! Und nicht zu kurz. Wir wollen Sie ja zu einem großen Mann machen. Zu einem Märtyrer und Geistesriesen – offen gestanden. So lautet die Losung.«

Mads Vestrup reichte ihm ein Dutzend beschriebener Blätter und erklärte, er habe es vorgezogen, selbst seine Betrachtungen niederzuschreiben, obwohl es ihm etwas Ungewohntes sei, die Feder zu gebrauchen.

Herr Carlsen durchblätterte gleichgültig die Papiere und sagte: »Fünfhundert Zeilen schätze ich es. Ich habe mit dem Chefredakteur gesprochen. Er meint, daß er Ihnen sechs Öre für die Zeile geben kann, sagt er. Aber damit sollen Sie sich, weiß Gott, nicht abspeisen lassen. Er muß bloß gepreßt werden. Sie können auf meine Verantwortung hin ohne weiteres das Doppelte verlangen. Das fehlte auch noch! Sollten zwölf Öre zu viel sein für einen Geistesriesen? Einen dänischen Paulus?«

Aber Mads Vestrup erklärte sich zufrieden mit der Bezahlung. Er rechnete aus, daß es nicht weniger als dreißig Kronen würden, die er an einem einzigen Tage verdient hatte! Das war viel mehr, als et gedacht hatte. Er wollte Stine dann gleich zwanzig davon schicken.

»Nun ja, mein Herr! Das ist ja Ihre Sache!« sagte A. B. D. Carlsen und steckte die Papiere ein. »Und um nun ein ernstes Wort zu reden – Sie haben doch wohl nicht die Absicht, hier den ganzen Abend zu sitzen und Grillen zu fangen? Sie wollen doch wohl ein bißchen mit auf den Bummel? Ich werde die Ehre haben, Sie unserer gottgesegneten Hauptstadt vorzustellen, Herr Pastor!«

Er erzählte, er selbst habe die Absicht, einen Gratulationsbesuch bei einem seiner jungen Freunde unter den Künstlern zu machen, der ein Legat ausbezahlt erhalten habe, und er machte ihm den Vorschlag, mitzukommen. »Sie werden sicher zur Feier des Tages zu einem Gläschen eingeladen werden!«

»Es ist der Komponist Jörgen Berg. Sie kennen seine Kompositionen wohl? Nicht? Haben Sie nie seinen Namen gehört? Ja, da haben wir wieder den Skandal! Und Jörgen ist doch unser größtes lebendes Genie! Darum sitzt er auch mit Frau und Kind da und hungert. Er hat sich diesen Sommer die Finger auf einem alten Hackbrett da draußen im ›Mittelgarten‹ abgehämmert, um das nötige Brot zu schaffen. Die fünfhundert Kronen sind ausnahmsweise mal an die rechte Stelle gekommen. Und, wie gesagt, – da gibts was Nasses!«

Mads Vestrup hatte aus andern Gründen wohl Lust, sich ihm anzuschließen. Er dachte, das sei wohl gerade die Art Menschen, denen er Gottes Botschaft überbringen solle. Aber auch um seiner selbst willen lockte die Aufforderung. Er war den lieben langen Tag allein gewesen, und die Aussicht, wieder in einem Familienzimmer zu sitzen und vielleicht das Geplauder eines Kindes zu hören, überwand die Verlegenheit seines Bauerngemütes.

»Aber geht denn das an?« fragte er. »Ich bin den Leuten ja völlig fremd!«

»Was macht das? Wir Menschenfresser nehmen es nicht so feierlich mit dem Zeremoniell. Und nun gehören Euer Hochwürden ja mit zu der Blase! Ein Mitarbeiter am ›Fünften Juni‹ ist übrigens allerorten willkommen. Das werden Sie bald merken.«

Nach einer Weile wanderten die beiden Männer zusammen nach Frederiksberg hinaus, wo der Komponist wohnte. Der Seenebel lag auch an diesem Abend wieder dicht über der Stadt und setzte auf den Straßen eine schmierige Schicht Ruß und Schmutz ab. Herr Carlsen, der sich vor Kälte schüttelte, blieb plötzlich vor einem altmodischen Kaffeehaus stehen, das in einem hohen Erdgeschoß auf Vesterbro lag. Er stieß den Pfarrer in die Seite und fragte, ob er nicht Bedürfnis nach etwas Zentralwärme im Körper habe.

Mads Vestrup hatte eine solche Frage erwartet und sich auch auf die Antwort vorbereitet. Er war sich ganz klar über seine Aufgabe diesem Mann gegenüber.

»Wenn Sie eine Tasse Kaffee meinen, so gehe ich gern mit hinein. Spiritus trinke ich aber nicht, und ich laß mich nicht gern in Gesellschaft eines Mannes sehen, der berauschende Getränke zu sich nimmt.«

A. B. D. Carlsen sah voller Entsetzen zu ihm auf. Sein Mund und die schweren Augen wurden förmlich starr.

»Sind Sie Temperenzler?«

»Ja.«

»Zum Teufel auch! Sie rauchen nicht und Sie trinken nicht ... Da sollt ich meinen, Sie hätten auch die kleinen Mädels in Frieden lassen können!«

Das Blut stieg Mads Vestrup vor Heftigkeit und Scham zu Kopf. Aber er bezwang demütig seinen Zorn und ging weiter, ohne zu antworten.

Carlsen, der selbst nicht einmal Geld zu einem Glas Bier, geschweige denn zu einem Grog hatte, nach dem sein Innerstes verlangend schrie, trabte kläglich dahin, den Rockkragen über die Ohren in die Höhe gezogen, an seiner trockenen Zunge saugend. Er war ganz hilflos in seiner unfreiwilligen Nüchternheit. Jeden Augenblick glitt er auf dem schmutzigen Straßenpflaster aus, und mehrmals war er kurz davor, zu fallen.

»Dann lassen Sie uns doch – zum Satan! – wenigstens einen Rummelkasten nehmen,« sagte er schließlich wütend. »Sie haben doch wohl Geld bei sich, Mensch!«

Mads Vestrup aber war unzugänglich.

»Ich ziehe vor zu gehen,« erwiderte er ruhig.

»Ha!!!«

Carlsen schleuderte diesen Ruf mit weit aufgerissenem Munde in die Luft hinaus und sank in einem Anfall von Verzweiflung in die Knie.

Der schiffbrüchige Theologe war überhaupt tief enttäuscht von seinem Kollegen und bereute bitterlich, daß er ihn mitgenommen hatte. Diesen auf Grund von Unzucht verabschiedeten Geistlichen hatte er sich als einen Mordskerl in Renaissancestil vorgestellt, als einen prachtvollen Bruder Liederlich, der sein Leben zwischen der Bierkneipe, dem Freudenhaus und dem Betschemel teilte. Und hier zog er dahin mit einem fetten Bauernlümmel, einem Hofmissionar und Enthaltsamkeitsapostel, mit dem er sich verdammt schlecht in ordentlicher Gesellschaft blicken lassen konnte. Und diesem Mann sollte der »Fünfte Juni« unter die Arme greifen! Das war ein Skandal!

 

Das junge Künstlerpaar, das kürzlich aus seiner Wohnung herausgesetzt war, weil es ein halbes Jahr lang keine Miete bezahlt, hatte sich in einem Maleratelier eingerichtet, das ihnen von einem Freund überlassen war, der zurzeit in Italien reiste. Einige hinterlassene Bilder und Skizzen hingen noch an den getünchten Wänden, darunter zwei große Kohlekartons mit nackten Männern und Frauen in gewagten Stellungen. Ein dunkler und enger Raum, der von dem Atelier durch einen Vorhang getrennt war, diente als Schlafzimmer für die Frau des Komponisten und das Kind, ein kleines Mädchen von sechs Jahren, während er selber sein Nachtlager auf einem Sofa im Atelier hatte. Hier wurde auch das Essen gekocht. Eine hölzerne Kiste mit einem Petroleumkocher stellte die Küche vor. Mitten im Zimmer standen ein runder Tisch und einige Korbstühle. Außerdem befanden sich dort ein Flügel, ein Notenpult und ein Kleiderständer. Das Atelier lag in der Mansarde, und die elektrischen Leitungen des Hauses waren nicht da hinaufgeführt. Auf dem Tische brannte eine altmodische Petroleumlampe mit hohem Fuß. Sie diente zugleich als Ofen.

Den ganzen Nachmittag war ein Kommen und Gehen von glückwünschenden Freunden gewesen, und die Luft war grau von Tabaksnebel. Ein paar halbleere Whiskyflaschen standen noch auf dem Tisch. In diesem Augenblick war nur der dicke Franz Möller da. Der zweihundertpfündige Schriftsteller, der seinen Namen durch ein paar Theaterfiaskos bekannt gemacht hatte, von denen noch heute geredet wurde, saß tief versunken in einem der Korbstühle und betrachtete mit schmalen Augen die Frau des Hauses, die an der andern Seite des Tisches Platz genommen hatte. Sie war eine blonde siebenundzwanzigjährige Dame von großer Schönheit, aber ein wenig schwerfällig und schläfrig im Wesen, gleichsam beschwert von ihren üppigen Körperformen. Die zahlreichen Gäste des Nachmittags und das viele Anstoßen und Lebenlassen hatten sie noch müder gemacht. Sie saß in einer nachlässigen Stellung da, die eine Hand unterm Kopf, und hielt jeden Augenblick die andere Hand vor den Mund, um recht nach Herzenslust gähnen zu können.

Der Komponist war auf dem Sessel vor dem Flügel in Gedanken versunken. Er war ein starkknochiger Mann mit einer mächtigen Künstlermähne, die ein bleiches, verbissenes Gesicht umwallte.

Die Unterhaltung war ins Stocken geraten. Aber jetzt schellte es, und gleichzeitig wurde gewaltig an die Tür getrommelt, die vom Atelier unmittelbar auf den Treppengang hinausführte.

Es war Carlsens wohlbekannte Art, sein Kommen zu melden.

»Das ist A. B. D.,« sagten alle drei, und Frau Maja sah mit Besorgnis zu den Whiskyflaschen hinüber, während ihr Mann hinging und öffnete.

Daß ein wildfremder Mensch hinter Carlsens Rücken auftauchte, erregte keine Verwunderung. Man war daran gewöhnt, daß A. B. D. alle möglichen wunderlichen Burschen von der Straße mit heraufschleppte, und wenn sie in bezug auf ihre Kleidung nicht gar zu arg aussahen, wurden sie im allgemeinen ohne Widerspruch empfangen und erhielten ihren Anteil an dem Schutz, der dem alten Berichterstatter überall in den jungen Künstlerkreisen zuteil wurde. Jetzt wurde Mads Vestrup obendrein als der neue theologische Mitarbeiter des »Fünften Juni« vorgestellt, und da das Blatt schon am Morgen einen kleinen Artikel über ihn gebracht hatte, kannten sowohl Jörgen Berg als auch Franz Möller seinen Namen und hießen ihn willkommen in Kopenhagen.

»Nehmen Sie sich ein Glas, Herr Pastor!« sagte der Komponist.

»Und du, A.B.D.! laß keinen Kummer in die Bude kommen!«

Aber Carlsen, den der bloße Anblick der Flaschen neu belebt hatte, erhob warnend den Zeigefinger und rief aus: »Still, Jörgen! ... Still! Du ahnst ja nicht, daß es ein Apostel ist, den ich euch hier bringe. Pastor Vestrup ist Antispiritusiast! Wir sollen dem Alkoholteufel und allen seinen Werken entsagen und uns an die mehr fleischlichen Genüsse halten.«

Mads Vestrup verhielt sich stumm. Er hatte die großen Kartons an der Wand erblickt, und die Schamlosigkeit der Bilder trieb ihm das Blut in die Wangen. »Was für eine Räuberhöhle mag das nur sein, in die ich hier hineingeraten bin?« dachte er bei sich. Auch Frau Majas Person erschien ihm zweideutig und veranlaßte ihn, auf seinem Posten zu sein.

Er hatte kaum Platz genommen, als die Glocke, die über der Tür angebracht war, von neuem klingelte, und diesmal mit ausdauernder Gewaltsamkeit.

»Da wird Susse sein,« sagte Franz Möller aus der Tiefe seines Korbstuhls. »Wir haben verabredet, uns hier zu treffen.«

Jörgen Berg öffnete.

Eine jüngere, weißgeschminkte Dame mit einer ziegelroten Perücke schlüpfte atemlos herein, als sei sie verfolgt worden. Nachdem sie die Tür hastig ins Schloß geworfen hatte, blieb sie stehen und lauschte, während sie stumm allen mit der Hand zuwinkte.

»Sagt mir doch, Kinderchen ... habt ihr die Polizei hier im Hause?« fragte sie schließlich.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich hörte jemand die Treppe hinter mir dreinschleichen. Könnt ihr wohl raten, wer es war? Cajus Vang! Ich weiß, daß er eine Anstellung in einem Privat-Detektivbureau hat, seit er aus dem Zuchthaus gekommen ist.«

»Dann schnüffelt er dir gewiß nach, Susse,« sagte Jörgen Berg und lachte. »Seid ihr nicht mal gute Freunde gewesen?«

»Ach Gott – das war damals, als der liebe Herrgott noch ein unkonfirmierter Junge war,« erwiderte sie und trat jetzt in die Stube hinein. »Das fehlte auch noch, daß er die Frechheit haben sollte! ... Guten Abend, Maja! ... Ich gratulier auch zu den Fünfhundert! Das gefällt euch wohl, wie? ... 'n Abend, A. B. D.! – Und du, Schnuckelchen! Du prächtiger Junge! 'n Abend!«

Die letzte Anrede galt dem dicken Möller, der, ohne sich aus seiner Ruhestellung zu erheben, kaltblütig seine berühmte Person ihrer stürmischen Umarmung überließ. Die Dame gehörte übrigens auch zu den bekannten Erscheinungen der Stadt. Sie war die sehr beliebte Tingeltangelsängerin Susse Frederiksen, unter Freunden die »Freude des Volkes« genannt.

Erst jetzt entdeckte sie Mads Vestrup, der ganz für sich auf einem Sofa an der Wand saß. Sie starrte ihn eine Weile überrascht an, dann wandte sie sich mit einem ungenierten Lachen nach den andern um.

»Gott, wer ist denn das? ... So ein drolliger Anders Tiköb!«

Jörgen Berg packte sie unsanft beim Arm und flüsterte: »Bist du verrückt, Mädel! Das ist ein Pastor!«

»Ein Pastor? Wie kommt der hierher?«

Im selben Augenblick hörte man ein leises Pochen an der Tür. Es klang, als wenn ein Bettler da draußen stehe und die Herzen mit seiner Bescheidenheit rühren wollte.

»St! Das ist Cajus!« sagte Fräulein Frederiksen, und ihr Mund nahm einen strengen Ausdruck an. »Daß du ihn nicht hereinläßt, Jörgen!«

Der Komponist war unschlüssig. Er sah sich fragend nach den andern um, die alle verstummt waren. Frau Maja saß gleichgültig da, beide Ellenbogen auf dem Tisch, im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden. Franz Möllers fette Hand hatte innegehalten mitten in der Ausbesserung seiner sorgfältig arrangirten Napoleonslocke, die der zärtliche Erdrosselungsversuch der Freundin in Unordnung gebracht hatte. A.B.D. Carlsens Gesichtsausdruck aber war sonderbar. Er saß, schwer vornübergebeugt, die Arme auf dem Tisch, und paffte mächtig aus einer Zigarre. Vor ihm stand schon ein halbgeleertes Whiskyglas. Die Zigarre ragte aus dem rechten Mundwinkel in die Höhe. Das entsprechende Auge hielt er infolge des Rauchs geschlossen. Mit dem andern, das weit aufgesperrt war, starrte er unverwandt zu der Sängerin hinüber, und der Blick glühte.

Das verzagte Klopfen wurde wiederholt, aber niemand brach das Schweigen. Jetzt ertönte auch die Glocke, und Susse Frederiksen griff krampfhaft Jörgen Berg in den Rockärmel, um zu verhindern, daß er an die Tür ging.

»Du unterstehst dich nicht und läßt ihn ein!« flüsterte sie. »Ich will nicht mit einem Schnüffler zusammen sein, und wenn er auch tausendmal mein Freund gewesen ist!«

Nach einer Weile hörten sie den Mann da draußen langsam die Treppe hinab verschwinden.

Aber nun bereute Jörgen Berg seine Hartherzigkeit und begann, sich selbst und die andern auszuschelten, obwohl er Cajus Vang gar nicht kannte und nichts weiter von ihm wußte, als daß er einmal Berichterstatter beim »Fünften Juni« gewesen war und mit einem falschen Wechsel Pech gehabt hatte.

»Wir hätten ihn doch so gut auffordern können, hereinzukommen. Was schert es uns eigentlich, daß er gesessen und Papiertüten gekleistert hat? Unser Geld hat er doch nicht verjuxt!«

»Jetzt wollen wir nicht mehr von ihm sprechen,« erklärte Fräulein Susse. Sie setzte sich auf den Schoß ihres Freundes, der sie ein wenig mißtrauisch über den Kneifer hinweg angesehen hatte.

Aber jetzt erhob sich A. B. D. Carlsen schwankend und schlug auf den Tisch, so daß die Gläser tanzten.

»Pfui Teufel! Daß du dich nicht schämst, Susse! Denn du weißt am allerbesten, wo die viertausend Kronen geblieben sind, um deretwillen Cajus gesessen hat. Wenn du was anderes sagst, so will ich – A. B. D. – mit zwei erhobenen Fingern schwören, daß es ausgestunkene Lügen sind! Die beiden seidenen Kleider, die Cajus dir geschenkt hat, kannst du doch nicht vergessen haben. Oder die Diamantohrringe und das Armband – wie? Und du entsinnst dich auch wohl noch des Abends, wo du dich so schweinemäßig in Champagner betrankst, daß du die Teller und Gläser und den ganzen Mist mit den Beinen vom Tisch runter fegtest, so daß Cajus hinterher eine Rechnung von einhundertfünfundzwanzig Kronen für zerbrochenes Geschirr bekam.«

»Jetzt solltest du lieber deinen Mund halten, kleiner A. B. D.! ... Sonst kriegst du ja doch man bloß deinen Krampfanfall im Zwerchfell,« spottete die Sängerin, den Arm um den Hals des Freundes. Und kaum hatte sie das gesagt, als wirklich ein krampfhaftes Hicksen ihn unterbrach und er sich setzen mußte.

Aber schon im nächsten Augenblick fuhr er wieder auf, nahm sein Glas und verkündete, Cajus sei ein Gentleman vor Gott.

»Mag er ein Dieb und ein Zuchthäusler in den Augen der Menschen sein! Ich achte und ehre Cajus als guten Kameraden. Er war einmal mein Freund, und was später zwischen uns gekommen ist, kann einerlei sein. Aber die großen Schurken da draußen ... die Blutsauger des Volkes ... die ordengeschmückten Gauner und professionellen großen Diebe ...«

Er wollte trotz des Hicksens fortfahren, aber Frau Maja, die neben ihm saß, zog ihn an den Rockschößen auf den Stuhl nieder. Fräulein Susse hatte versucht, ihn mit einem schallenden Gelächter zu übertäuben, und ihr dicker Freund sekundierte, indem er wie eine Ziege meckerte. Auch Jörgen Berg fand es jetzt aus Rücksicht auf den fremden Gast an der Zeit, ihm den Mund zu stopfen. Sie hatten alle den braven A. B. D. gern, der den jungen Künstlern durch seine kleinen Notizen über sie im »Fünften Juni« manchen Dienst leistete. Aber wenn er seine sentimentalen Rückfälle in die Anarchistenlyrik vom Jahre neunzig bekam, so fanden sie ihn unausstehlich und geboten ihm regelmäßig durch Heulen Einhalt.

Während der Zänkerei, die jetzt entstand, setzte sich der Komponist auf das Sofa zu Mads Vestrup, dessen Anwesenheit die andern allmählich fast vergessen hatten. Er war die ganze Zeit hindurch völlig stumm gewesen, aber hinter der Brille bewegten sich die aufmerksamen Augen.

Jörgen Berg hatte die Angewohnheit, die Leute mit seinen eigenen Angelegenheiten zu unterhalten. Er erzählte Mads Vestrup, was dieser übrigens seiner Aussprache sofort angehört hatte, daß er Füne sei, aus der Nyborger Gegend. Seine künstlerische Laufbahn hatte er begonnen, indem er bei den Dauernfesten in seinem Heimatsort zum Tanz aufspielte, und er schilderte alle die Widerwärtigkeiten und Verfolgungen, gegen die er auf seiner Künstlerlaufbahn, die nach seiner Darstellung ein Martyrium ohnegleichen in der Musikgeschichte war, hatte kämpfen müssen.

Währenddessen hatte Fräulein Susse angefangen, mit ihrem Freund zu flüstern, um etwas über den sonderbaren Pastor, und wie er hierher gekommen war, zu erfahren.

»Herr du meines Lebens ... mit Bauernweibern!« hörte man sie sagen, als Franz Möller erzählt hatte, was er von Mads Vestrup und der Veranlassung zu seiner Verabschiedung zu wissen meinte.

Sie wandte sich interessiert um, in der Absicht, den Mann recht in Augenschein zu nehmen.

»Daß der Pastor gewesen ist!« flüsterte sie. »Er sieht ja auch wirklich aus wie so ein richtiger Bulle vom Lande!«

Lächelnd erhob der Freund einen warnenden Zeigefinger. Da aber schlang sie beide Arme um ihn und bedeckte sein dickes Gesicht mit Küssen.

»Ach, du süßes, süßes Fettlamm! Ich hab dich ja so lieb, daß ich dich mit allen Kleidern auffressen könnt!«

Drüben auf dem Sofa war Jörgen Berg in seiner Erzählung jetzt bis zur Schilderung seines Besuchs im Legatbureau gediehen, wo man ihm am Vormittag das Geld ausbezahlt hatte.

»Hinter der Schranke saß so ein alter Kerl mit blauer Brille und roter Nase.›Was wollen Sie?‹ sagte er. ›Ich bin Jörgen Berg,‹ sag ich. – ›Ja, was wollen Sie?‹ – ›Ich bin der Komponist Jörgen Berg.‹ – ›Ja, zum Teufel auch, was wollen Sie?‹ – Dann übergeb ich ihm das Schreiben, das ich vom Vorstand bekommen hab. – ›Haben Sie Legitimationspapiere bei sich?‹ – Ich heraus mit meinem Taufschein und meinem Pockenschein und meinen Militärpapieren. ›Ist das genug?‹ sag ich. ›Denn sonst hab ich auch noch 'n Paar alte Hosen zu Haus und 'n Haufen Liebesbriefe.‹ Da hätten Sie mal das Gesicht sehen sollen, das er aufsetzte. Er schleuderte mir das Geld vor Wut man so auf den Tisch hin. Einen Fünfhundertkronenschein. Kleineres Geld hätten sie nicht, sagt er. Das sollt so recht großschnauzig klingen!«

Er holte den Schein aus einer alten Brieftasche heraus, um ihn Mads Vestrup zu zeigen. Dann wollten auch die andern ihn sehen. Der braune Lappen ging von Hand zu Hand, wurde auf der rechten Seite und auf der Kehrseite untersucht und gegen das Licht gehalten. Und einen Augenblick strich es über sie alle hin wie ein Hauch aus dem Schlaraffenland.

»Ja!« sagte Jörgen. »Es ist sonderbar, wenn man bedenkt, daß ich für einen solchen Fetzen halbschmutzigen Papiers eine Reise nach Rom machen und die Messe in der Peterskirche hören und über Paris und London zurückreisen kann. Das ist doch ein Erlebnis! Sonst freilich ... Verdammt dies lausige Geld! Das wichtigste ist, daß die Herren Professoren und Konferenzräte jetzt also gezwungen gewesen sind, mir das Legat zu geben. Ein musikalischer Idiot wie Professor Martens hat zu Kreuze kriechen und mein Talent anerkennen müssen. Das bedeutet doch etwas – nicht wahr? Das Geld kann einem schließlich schnuppe sein!«

»Stell dich nicht so an, Jörgen!« sagte seine Frau. »Wie unzählige Male hast du den Schein nicht schon herausgeholt, bloß um ihn zu besehen? Aber das fehlte auch noch, daß wir uns nicht über das Geld freuen sollten!«

»Hab ich das gesagt? Es ist herrlich, sich mal als Millionär zu fühlen,« sagte er und schlug sich auf die Brustlasche, wo die Banknote wieder verwahrt lag. »Das erste, was wir kaufen, Maja – weißt du, was das ist? Ein neuer Hut für dich! Ich will dich nicht länger mit dem alten Bonnie sehen! Aber gleichviel ... Die Hauptsache für mich ist, daß ich jetzt die alten Buckeldromedare gezwungen habe, mich anzuerkennen. Ich wollt bloß, meine Mittel erlaubten mir, ihnen die Fünfhundert wieder in das Gesicht zu werfen und zu sagen: Ich bedanke mich, meine Herren! Ich habe erreicht, was ich wollte. Das Geld schenk ich Ihnen! Leben Sie wohl!«

»Pah!« sagte Frau Maja höhnisch. »Ihr Künstler nehmt immer den Mund so voll. Und dabei ist doch keiner so hinterm Gelde her wie ihr. Ihr solltet lieber schweigen mit all dem Unsinn von Idealen und eurer Künstlerehre, und wie das alles heißt. Denn keine Menschenseele glaubt euch auch nur einen Deut davon!«

Jörgen Berg stand mit gesträubter Mähne mitten im Zimmer, die Hände in die Westentaschen gesteckt. Es währte eine Weile, bis er antwortete. Das Lächeln war von seinem Gesicht geglitten. Statt dessen saßen da zwei tiefe Falten zwischen den Brauen.

»Gelten deine schönen Bemerkungen auch mir? Denn in dem Fall möcht ich dich doch daran erinnern, wer vor einiger Zeit eine größere Szene machte, weil ich mich auf das bestimmteste weigerte, die Treppen des Professors von wegen des Legats blank zu treten. Oder wollte ich etwa durchaus, daß Sivertsen im ›Fünften Juni‹ heruntergemacht werden sollte, weil er mit zu den Bewerbern gehörte? Du kannst ja A. B. D. danach fragen, er sitzt ja neben dir!«

Frau Maja erwiderte nichts. Sie legte nur den Kopf in die Hand und zuckte die schönen Schultern.

»Es ist ja auch noch gar nicht lange her, daß du einen andern Beweis dafür erhieltest, daß ich nicht an Geldgier leide!«

»Meinst du das mit dem Lotterielos? Na, lieber Jörgen, das hab ich dir bereits gesagt, auf den Leim kriech ich nicht. Ganz meschugge bist du doch gottlob noch nicht geworden!«

Jetzt wurden die andern neugierig. Was war das mit dem Los? Spielten sie in der Lotterie? Hatten sie was gewonnen? – fragten sie durcheinander.

»Maja!« sagte Jörgen warnend. »Du sagst kein Wort! – Das ist ein Familiengeheimnis, Kinderchen!«

»Nein, du hast selbst angefangen, dann können die andern es auch ebensogut wissen,« sagte Maja und erzählte, daß Jörgen neulich in Wut geraten sei, weil sie ein halbes Los in der Klassenlotterie genommen habe.

»Und könnt ihr raten, warum? Er wär bange – sagte er –, daß wir das große Los gewinnen könnten!«

»Na – so ein Blödsinn!« sagte Fräulein Susse. »Daß das sein Ernst nich is, kannst du doch begreifen, Maja!«

»Aber ich sage dir, es sollte für Ernst gelten. Ihr könnt ihn ja selbst fragen. Er hat, weiß Gott, das Los in tausend Stücke zerrissen und in den Ofen gesteckt. Wenn das nich Anstellerei is, weiß ich wirklich nich, was es is.«

Jetzt sahen sie Jörgen alle mit großen Fragezeichen in den Augen an. Er war wieder an den Tisch getreten, um sich zu rechtfertigen.

»Seht ihr, ich setz den Fall, daß wir wirklich das große Los gewinnen ... – oder auch nur ein halbes Hunderttausend ... Ja, wenn ich durch meine Arbeit, durch meine Kunst reich würde, zum Beispiel durch eine Oper, die über alle Bühnen Europas ginge ... das wäre eine andere Sache. Aber auf Grund eines dummen Glückzufalles zu siegen ... mit Hilfe eines Lotteriegewinnes, der ebensogut dem ersten besten Idioten in den Schoß hätte fallen können ...«

Fräulein Susse und A. B. D. unterbrachen ihn mit einem Indianergeheul, und der dicke Karl Möller hob wieder an, wie eine Ziege zu meckern.

»Nein, hören Sie mal!« sagte der letztere, der ein Auge auf die Frau seines Freundes geworfen hatte, und bei dem außerdem der Anblick des Fünfhundertkronenscheins den Blutdurst des Neides und der Schadenfreude wach gerufen hatte. »Ich muß Frau Maja wirklich recht geben ... das ist denn doch zu arg! Daß du dich weigern solltest, ein halbes Hunderttausend einzustreichen, nur weil es ein Lotteriegewinst ist ...«

»Das hab ich ja nicht gesagt! Gerade weil ich weiß, daß ich nicht Charakterfestigkeit genug besitze, um so viel Geld von mir zu weisen, und mich lieber selbst um den Triumph bringe, will ich nicht spielen. Ich wünsche das Glück nicht als Geschenk zu erhalten. Ich will es mir schon selbst holen. Nur immer ruhig!«

Erneuter Lärm schlug von allen Seiten an seine Ohren, und Frau Maja sagte: »Da könnt ihr selber hören ... Ich begreife nicht, daß du dastehen und so was sagen magst. Du meinst ja nicht ein Wort davon.«

»So! Das habe ich doch bewiesen, sollt ich meinen! Du hast doch selbst erzählt, daß ich das Los zerrissen und verbrannt habe.«

»Na, das hatte nun freilich nicht so viel auf sich,« sagte Frau Maja – sie stützte wieder beide Ellenbogen auf den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. – »Ich hatte die Nummer ja aufgeschrieben. Und das wußtest du recht gut, lieber Jörgen! Du brauchst nicht zu glauben, daß du mir was vormachen kannst!«

Ihr Mann sah sie eine Weile schweigend an. Sein bleiches Gesicht mit den harten Zügen hatte einen müden und hoffnungslosen Ausdruck angenommen.

»Mit andern Worten, du beschuldigst mich, hier zu liehen und zu lügen und Komödie zu spielen. Bist du dir wohl ganz klar darüber, Maja? Ist dies wirklich drin Ernst?«

»Laß uns nicht mehr darüber reden,« sagte sie. »Es fängt allmählich an, mich zu langweilen, Jörgen!«

»Du sollst mir antworten!« schrie er plötzlich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was ihr andern von mir denkt, ist mir völlig schnuppe. Aber du, Maja, du glaubst also allen Ernstes, daß ich hier stehe und prahle. Glaubst du das? Ja oder nein? ... Du sollst mir antworten!«

Frau Maja sandte ihm einen wütenden Blick zu und sah sich verlegen im Kreise um.

»Daß du dich nicht schämst, Jörgen! Dazustehen und dich so anzustellen, während hier Besuch ist. Du solltest ein wenig in die Luft gehen. Das tut dir gewiß not!«

Allmählich begannen auch die Gäste die Situation reichlich drückend zu finden. Fräulein Susse warf Jörgen eine Kußhand zu, um ihn milder zu stimmen und ihn zum Schweigen zu veranlassen. Nur Franz Möller freute sich und bemühte sich, das Feuer zu schüren.

»Lieber Freund!« sagte er mit asthmatischer Miene. »Dein Rednertalent nützt dir nichts, Jörgen Berg. Wie kannst du nur an einem Freudentag, wie der heutige, so halsstarrig sein!«

»Halt du dein Maul,« fertigte Jörgen ihn ab, ohne die Augen von seiner Frau zu wenden. »Dich hat keiner nach deiner Meinung gefragt. – Aber jetzt ist mir das Ganze übrigens einerlei! Ihr könnt meinetwegen gern über mich lachen. Geniert euch, bitte, nicht!«

Er drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte davon, die Hände in den Hosentaschen. Gleich darauf aber kehrte er zurück, nahm den Fünfhundertkronenschein abermals aus der Brieftasche und hielt ihn seiner Frau über den Tisch hin.

»Du sollst ihn haben! Da! Du kannst damit machen, was zum Kuckuck – du willst. Ich will ihn nicht mehr sehen. Du kannst dir einen Hut und einen Muff und ein seidenes Kleid dafür kaufen oder hundert Nachttöpfe – ganz wie es dir beliebt! Da, nimm ihn doch!«

Ohne sich zu rühren, sah ihn Frau Maja starr mit einem verächtlichen Blick an.

»Du solltest ihn lieber nehmen! Er könnte sonst leicht in Rauch aufgehen, so wie das Los. Dann würdest du am Ende glauben, daß ich nicht geldgierig bin.«

»Nimm ihn ihm doch weg, Maja!« rief Fräulein Susse. »Der verrückte Mensch!«

Aber Frau Maja rührte sich nicht. Sie sah ihm unverwandt starr in die Augen, mit einem Blick voll Trotz und Haß.

»Ich gebe dir noch zehn Sekunden Bedenkzeit,« sagte Jörgen und zog seine Uhr heraus. »Eins – zwei – drei – vier.«

Bis zu diesem Augenblicke hatte niemand als Frau Maja geglaubt, daß er Ernst aus seiner Drohung machen würde. Aber jetzt fuhren sie alle mit einem Schrei auf. Jörgen hatte die Banknote an das Lampenlicht gehalten, und bei dem Worte »zehn« zündete er sie an. Selbst Franz Möller kam im Nu auf die Beine. Mads Vestrup hatte Jörgen beim Arm gepackt, und Carlsen, so betrunken er auch war, stand auf wackelnden Beinen und blies wie ein Rasender in die Luft hinauf, um zu löschen. Aber mit seinen Riesenkräften hielt der Komponist sie sich alle vom Leibe, während er triumphierend das flammende Papier hoch in die Höhe hob. Einen Augenblick später flatterte es als Asche zu Boden.

Es folgte eine dumpfe Stille. Dann warf sich Fräulein Susse mit einem hysterischen Lachen in den Stuhl, und Carlsen, der auf einmal nüchtern geworden war, bekam einen von seinen unheimlichen Anfällen, unter denen er vor Kälte zitterte. Er setzte sich hilflos mit klappernden Zähnen hin und mußte Wasser lassen.

Währenddessen stand das Ehepaar einander mit einem Ausdruck gegenüber, wie ihn Menschen bekommen, wenn sie in Leidenschaft alles um sich her vergessen und nur die wilde Stimme des Blutes hören. Zwei weiße Gesichter mit erstarrenden Mündern ... zwei Totenmasken mit Augen, die lauter schwarze Pupille waren.

»Genügte der Beweis?« fragte Jörgen schließlich und versuchte zu lachen.

»Du glaubst am Ende, daß es mich ärgert!« erwiderte sie. »Nein, da irrst du! Aber es sieht dir ähnlich ... Du Bauernlümmel!«

»Was sagst du! Nimm dich in acht!«

»Bauernlümmel! schrie sie. Und ehe jemand noch Zeit hatte, sich ins Mittel zu legen, fuhr ihr Jörgen in die Haare. Mads Vestrup hatte ihn abermals mit einem kräftigen Griff bei der Schulter gepackt, aber es war nicht möglich, Mann und Frau zu trennen. Frau Maja hatte eins von Jörgens Ohren gefaßt, und nun taumelten sie beide mit einer solchen Gewalt gegen den Tisch, daß die Lampe ums Haar umgestürzt wäre. Einige Gläser fielen um und rollten an die Erde, während der Inhalt sich über den Tisch ergoß.

Franz Möller stand phlegmatisch da, die Hände in den Taschen, und sah zu; Fräulein Susse aber rannte ganz verwirrt in der Stube herum und rief nach der Polizei.

Plötzlich vernahm man eine Kinderstimme. Das sechsjährige Töchterchen des Ehepaars, das nebenan im Schlafraum gelegen und geschlummert hatte, war durch den Spektakel geweckt und stand nun vor dem Vorhang in seinem halbschmutzigen Nachtkleidchen. Vom Licht geblendet, hielt sie die Hände vor die Augen und sagte schlaftrunken: »Was ist hier los, was macht ihr hier?«

Der Klang ihrer Stimme trennte endlich die Eltern. Frau Maja stürzte auf die Kleine zu, nahm sie in die Arme und führte sie mit sich in die Kammer, indem sie den Vorhang hinter sich zuzog.

Auch Jörgen kam wieder zu sich. Mit einem verlegenen Ausdruck sah er sich um, und als er Mads Vestrups fremde Gestalt entdeckte, wandte er sich beschämt ab.

»Geht!« sagte er. – »Geht alle miteinander!«

Während die Gäste sich ankleideten, blieb er am Tisch stehen, ohne aufzusehen und ohne zu sprechen. Er beantwortete auch ihr »Gute Nacht« nicht.

An der Tür hielt Mads Vestrup den dicken Möller zurück und fragte leise, ob es denn angängig sei, daß man die beiden erregten Menschen allein lasse. Aber Möller beruhigte ihn, und als sie hinausgekommen waren, sagte er: »In fünf Minuten sitzen sie eng umschlungen da und weinen ganze Eimer voll Reuetränen. Es ist ein ekelhafter Anblick. Machen wir, daß wir wegkommen.«

Unten auf der Straße nahm Fräulein Susse ihren Freund unter den Arm. Als Mads Vestrup auf ländliche Weise auf den Fahrdamm hinausgehen wollte, zog sie auch ihn zu sich heran, um sich mit dem andern Arm auf ihn stützen zu können, und so verdutzt Mads Vestrup auch im ersten Augenblick war, leistete er doch keinen Widerstand, denn er merkte, wie stark sie noch zitterte.

A. B. D. trollte hinterdrein und blieb immer mehr zurück infolge seiner Bemühungen, einen Zigarrenstummel zum Brennen zu bringen.

Fräulein Susse sprach besorgt darüber, wie Jörgen Bergs jetzt fertig werden sollten, denn sie hatten sicher Schulden beim Krämer und beim Bäcker. Aber Franz Möller tröstete sie; Jörgen habe es sicher ebenso gemacht wie damals mit dem Los, und die Nummer aufgeschrieben, dann könne er sich das Geld auf der Bank auszahlen lassen.

»Er muß sich ja immer anstellen!« sagte er, wütend darüber, daß seine Aussichten bei Frau Maja jetzt wahrscheinlich für längere Zeit zu Wasser geworden waren. Er gönnte dem Freund ebensowenig die schöne Frau wie das Legat. Nun wollte er sich aber dafür schadlos halten, indem er ein Satyrspiel über diese Leute vom Lande schrieb, die in die Hauptstadt kamen und sich als Kraftgenies aufspielten. Er wollte sie wie junge Katzen in einem Meer von Gelächter ersäufen. Schon mehrere Jahre hatte er den Plan zu einem solchen Stück fertig im Kopf gehabt, aber erst heute abend hatte er den richtigen Blutgeschmack im Munde bekommen.

Fräulein Susse meinte, Jörgen Berg sei zuweilen wirklich ein bißchen gestört, und sie erzählte eine Geschichte von ihm, die sie von Maja selbst gehört hatte. Er hatte einmal ein großes Chorwerk komponiert und war beinahe fertig damit, als Maja ihn eines Tages zufällig fragte, wieviel er nun mit der Arbeit verdienen zu können glaube. Da habe er in heller Wut die Noten in eine Schublade geworfen und sie seither nie wieder angerührt.

»Ja, so ist er!«

Franz Möller, der immer ergrimmter wurde, entgegnete nur: »Bluff!«

Mads Vestrup ging stumm dahin und lauschte aufmerksam. Er war selbst tief erschüttert von dem unheimlichen Erlebnis; aber er hatte auf seinen Wanderungen dieselbe verzweifelte Seelennot bei vielen von den losen Vögeln der Landstraße angetroffen, denen er sich angeschlossen und die er liebgewonnen hatte. Er empfand das tiefste Mitleid mit allen diesen armen Blindgeborenen, die in der Finsternis umhergingen und übel dran waren, weil sie vielleicht keine Mutter gehabt hatten, die sie lehrte, die Hände zu falten, als sie noch klein waren. Aber er war nicht empört. Er war um seiner Selbstgerechtigkeit willen gestraft worden und erkannte seine Zusammengehörigkeit mir der ganzen sündigen und leidenden Menschheit. Auch dies zerknüllte Mädchen, das sich in seiner wahnsinnigen Angst an seinen Arm gehängt hatte, rief nur ein brüderliches Gefühl der Betrübnis in ihm wach. Er wollte sogar daran glauben, daß diese Sünderin mitten in ihrer Erniedrigung Gottes Herzen näher sein könne als manch eine zimperliche und frisch gebügelte Pfarrersfrau, die sich mit ihrer Tugend brüstete.

Sie waren nach Vesterbro gelangt, und das lebhafte Boulevardgewimmel unter den weißen Lichtballons übte sofort seinen Einfluß auf die Gemütsstimmung der Sängerin aus. Sie schüttelte den Schrecken ab und trat in Funktion. Gleich einem Schwan, der in sein Element hinausgleitet, schob sie den Busen vor und genoß den Anblick ihres Spiegelbildes in den weitgeöffneten Mienen der vorübergehenden Herren. Die meisten kannten sie von Ansehen. Einige grüßten sogar. Im übrigen legte die Größe ihres Hutes, die karmoisinrote Jacke und die gemalten Augenbrauen ein hinreichendes Zeugnis von der Art ihres Gewerbes ab.

Auf Mads Vestrup übten das Licht und die vielen Menschen eine ganz entgegengesetzte Wirkung aus. Er ging dahin, die Augen zu Boden geschlagen, und hielt diesem Fegefeuer nur stand, um ihr Vertrauen zu bewahren. Aber er konnte nicht umhin, zu denken, was Stine wohl gesagt haben würde, wenn sie ihn in diesem Aufzug erblickt hätte.

Ein paarmal machte er den Versuch, seinen Arm aus dem ihren zu ziehen, aber sie hielt ihn fest, ja, sie wurde allmählich bedenklich zudringlich in ihren Annäherungen und fing sogar an, ihn du zu nennen. Einmal, als sie im geheimen seinen Arm gedrückt und vergebens darauf gewartet hatte, daß er ihre Liebkosung erwidern sollte, beugte sie sich vor und guckte ihm ins Gesicht hinauf.

»Was für ein Frosch bist du eigentlich? Wie lange bist du schon hier in der Stadt?«

»Ich bin gestern gekommen.«

»Herr du meines Lebens, dann bist du ja so unschuldig wie ein neugeborenes Lamm! Weißt du, daß ich vom Ersten an ein Engagement bei Folle Pip in der ›Taverne‹ habe? Du kommst doch hin, um mich zu sehen? Er hat ein neues Kostüm aus Papageienseide spendiert. Einhundertzwanzig Kronen, du! Das hat sich gewaschen, sag ich dir! Dann kommst du doch, was?«

Mads Vestrup sagte: »Nun können Sie ja erst einen Abend kommen und mich hören. Denn ich soll nämlich auch in nächster Zeit in der Stadt hier auftreten.«

»Wo denn?«

»Wahrscheinlich im Elysium. Ich soll dort ein paar Vorträge halten.«

»Im Elysium! Gott, da hab ich selbst mal gesungen! Worüber wollen Sie sprechen? Es ist doch wohl keine Andacht mit Lichtbildern und dergleichen?«

»Nun können Sie ja selber sehen.«

Sie waren auf dem Rathausplatz angelangt. Mads Vestrup blieb stehen, um gute Nacht zu sagen. Im selben Augenblick puffte Franz Möller seine Freundin mit dem Ellbogen und sagte: »Hast du gesehen, wer da ging?«

»Wo?«

Zwei elegant gekleidete Herren gingen in einiger Entfernung mit einer Dame vorüber. Sie kamen aus dem Theater in der Jernbanegade und lenkten ihre Schritte nach dem Hotel Bristol hinüber.

»Wer war das?« fragte Fräulein Susse.

»Erkanntest du ihn nicht? Es war ja der Graf von Monte Christo.«

»Wirklich? War das Karsten From?«

»Er hat sich den Schnurrbart abschneiden lassen. Es steht ihm übrigens. Er sieht gar nicht so affektiert aus.«

»Kanntest du die Dame?«

»Ja, es war Fräulein Abildgaard. Eine Tochter des verstorbenen Ministers. Sie soll ein bißchen leicht sein.«

»Na, Gott mit ihm!« sagte sie, während sie mit langen Blicken den schlanken, blonden Maler verfolgte, bis er zusammen mit der Dame und deren anderm Begleiter – einem kleinen kurzhalsigen Herrn mit hohem Hut – durch die Drehtür des Bristol-Restaurants verschwunden war.

»Wollen Sie also kommen und mich einen Abend hören?« fragte Mads Vestrup, indem er sich verabschiedete.

»Ja – nicht wahr, Franz? Dazu können wir wohl ja sagen. – Ich hätte wohl Lust, zu hören, was der Herr zu erzählen haben kann. Auf Wiedersehn, Herr Pastor! Lassen Sie sichs gut gehen!«

Sie winkte ihm mit der Hand, als er ging, und trieb dann weiter an dem Arm ihres Freundes in die Stadt hinein.


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