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VI

Mads Vestrup kam ein paar Tage später in einer schmutzigen leinenen Jacke und auf Holzschuhen von seinem Rübenfeld gegangen, als er mitten auf der Dorfstraße dem benachbarten Pfarrer, seinem Vorgesetzten, Propst Broberg, begegnete, der mit seiner Frau in einer heruntergeschlagenen Kalesche gefahren kam. Der beliebte Kanzel- und Volksredner war ein kleiner Mann mit grauer Mähne, und die Pröpstin glich ihm wie eine Zwillingsschwester. Er saß in die eine Ecke des Wagens zurückgelehnt und paffte mächtig an einer Zigarre. Sie saß in die andere Ecke zurückgelehnt und steckte eine kleine rote Nase in die Luft.

Mads Pestrup grunzte ärgerlich, als er aus der Entfernung das Fuhrwerk erkannte. Er hatte keine Achtung vor seinem berühmten Amtsbruder, der zu den sogenannten liberalen Theologen gehörte, die ihm ein fast noch höherer Grad des Ärgernisses waren als die reinen Gottesleugner. Er wünschte nur unangetastet vorüberzukommen.

Das eheliche Zwillingslächeln in den Gesichtern des Propstes und der Pröpstin verschwand, sobald sie Mads Vestrup entdeckten, und machte strammen Mienen Platz.

Trotzdem ließ der Propst halten.

Das Unglück wollte, daß er sogleich von dem Gutsbesitzer auf Favsingholm und den Gerüchten zu reden begann, die über seine merkwürdige Heilung im Umlauf waren. Wußte man etwas Näheres davon? War es wahr, daß er auf dem Schloß gewesen? Hatte er Dihmer gesehen?

Um nicht in Heftigkeit etwas Unüberlegtes zu sagen, schwieg Mads Vestrup baumstill. Er stand mit niedergeschlagenen Augen da, weil er den Anblick dieses löwenmähnigen Affen, dieses ehrsüchtigen Judas, nicht ertragen konnte, der seinen Heiland für das Blutgeld der Popularität verraten und die strenge Lehre Christi mit Flitter und Staat in dem leichtfertigen Geist der Zeit aufgeputzt hatte.

Als der Propst noch immer keine Antwort erhielt, gab er dem Kutscher ein Zeichen, und der Wagen rollte weiter.

»Dieser Mensch wird bald reif für das Irrenhaus sein,« sagte er; »er sollte eigentlich nicht in seinem Amte sitzen bleiben ... Und wie er angezogen geht!«

»Ja, weißt du,« erwiderte die Pröpstin, »gleich als ich ihn sah, glaubte ich, es wäre unser eigener Krugwirt, der da kam.«

Eine mächtige Rauchwolke, von einem entzückten Lachen gefolgt, entfuhr dem Propst.

Du hast recht, Ville! Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber die Ähnlichkeit ist wirklich auffallend. Wirklich auffallend. Aber was sollen wir nur mit ihm machen?«

»Ihr habt so viele Verordnungen und Vorschriften. Steht da denn nicht irgendwo, daß sich ein Geistlicher mindestens zweimal wöchentlich rasieren muß?«

»Ach, du bist schlimm, Ville! Du bist schlimm! ... Aber ich will dir versprechen, die Sache bei meiner nächsten Visitation vorzubringen.«

Mads Vestrup war währenddessen nach dem Pfarrhause zurückgekehrt, wo ihn Stine mit dem Bescheid empfing, daß während seiner Abwesenheit ein reitender Bote aus Favsingholm dagewesen sei. Dihmer wolle gern mit ihm reden.

»Was kann das nur sein?« dachte er und ging in sein Zimmer. »Ich muß wohl an einem dieser Tage einmal hingehen, obwohl er sicher nicht nach dem Pfarrer geschickt hat.«

Der folgende Tag war ein Sonntag. Mads Vestrup hielt wie gewöhnlich Gottesdienst in einer fast menschenleeren Kirche. Auch Stine war unter dem Vorwand, daß sie nicht wohl sei, zu Hause geblieben.

Als er sich zum ersten Male vor dem Altar umwandte, sah er, daß Oleane Staun da war. Sie saß allein in einem der geschlossenen Stühle dicht unter der Kanzel. Ihr rundrückiger Mann saß drüben in dem entsprechenden Stuhl auf der Männerseite und hustete, das zusammengefaltete Taschentuch gegen den Mund gepreßt.

Nach dem Gottesdienst, als die Kirchgänger, wie es Sitte war, sich vor der Vorhalle versammelten, um ihm die Hand zu geben, ehe sie gingen, stand Oleane ein wenig abseits, den Rücken ihm zugekehrt, und band einen Schnürsenkel. Erst als sich die andern zurückgezogen hatten und auch ihr Mann gegangen war, um den Wagen zu holen, kam sie heran und gab ihm die Hand.

Sie war groß und von üppiger Gestalt, sonst aber gar nicht hübsch. Als junges Mädchen hatte sie das Nasenbein gebrochen, als sie im Übermut von einem Heuboden herabsprang. In den gelblich grauen Augen brannte eine unruhige Flamme. Sie und Mads Vestrup waren aus demselben Dorf und duzten sich daher. Im Heranwachsen hatte ein wenig Liebelei auf die freie Weise der ländlichen Jugend zwischen ihnen stattgefunden, und nun hatte das Leben sie wieder zusammengeführt. Vor ein paar Jahren war Oleane als Jörgen Stauns Frau hierher in die Gemeinde gekommen, und dieses Wiederbegegnen hatte sich als gefährlich für sie beide erwiesen.

Sie fragte ein wenig spöttisch, ob er den Weg mitgenommen habe, als er zuletzt bei ihnen gewesen, oder ob er vergessen habe, wo der Hügelhof liege.

»Großmutter klagt jeden Tag, daß du nie mehr kommst und Andacht mit ihr hältst. Sie kann ganz böse auf dich sein. Warum kommst du nicht? Jetzt ist es über einen Monat her.« Mads Vestrup sah an ihr vorbei, in die Luft hinaus, um nicht von ihren Augen eingefangen zu werden.

»Willst du der Alten sagen, daß ich morgen komme. Hat sie mich wirklich erwartet?«

»Ja, jeden Tag, den Gott werden läßt. Es geht ihr recht schlecht.«

»Nun ja. Also morgen.«

Der Küster kam aus der Kirche heraus und schloß zu. Er hatte drinnen gestanden und gelauscht. Trotzdem stellte er sich überrascht, sagte: »Um Entschuldigung« und ging in einem großen Bogen um sie herum.

Mads Vestrup rief ihn zurück, verabschiedete sich von Oleane und ging mit ihm durch das Dorf, damit kein Gerede aus dieser Begegnung entstehen solle.

Am nächsten Tage gleich nach Tische kleidete er sich um und machte sich auf den Weg nach Favsingholm.

Er erschien mit einer höchst ungeselligen Miene auf dem Schloß. Selbst nachdem ihm Torben eine unumwundene Entschuldigung wegen des fatalen Auftritts gelegentlich seines letzten Besuchs ausgesprochen hatte, blieb er gleich unzugänglich. Als dann Torben Barbara mit dem Auftrag an die Haushälterin, Tee zu bereiten, hinausschickte, erklärte er mit unwirscher Bestimmtheit, daß seinetwegen keine Anstalten gemacht zu werden brauchten. Er wünsche nichts zu genießen. – Da gab Torben es auf, ihn zufriedenzustellen, und ging ohne Umschweife auf die Sache los, um deretwillen er zu ihm geschickt hatte.

Er habe gedacht, sagte er, daß der Gegend ein zeitentsprechendes Altenheim fehle, und nun sei es seine Absicht, ein solches zu errichten und hier auf Favsingholm in der leeren Gutsverwalterwohnung Platz dafür zu schaffen. Die praktische Leitung des Heims solle in die Hände eines Inspektors im Verein mit einem Ökonomen gelegt werden. Aber er sei der Ansicht, daß die Öffentlichkeit ein Recht habe, eine solche Stiftung kontrollieren zu können, und zuverlässige Leute aus der Gemeinde müßten ja auch die Bestimmung darüber treffen, wer in das Heim aufgenommen werden solle.

»Namentlich in dieser Beziehung hoffe ich, auf Ihren Beistand rechnen zu können, Pastor Vestrup. Da sitzen ja ringsumher so viele arme Wesen, die recht hilflos sind, und die kennen Sie sicher besser als die meisten. Ich denke an Leute wie der Knüttel-Jörgen und die lahme Sidsel Oevre, deren ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern kann. Ich selbst behalte mir nur einen Platz vor – einen Ehrenplatz freilich –, nämlich für Barbara, meine treue Pflegerin.«

Mads Vestrup hatte im Anfang mit seinem erstauntesten Gaffen gelauscht. Er faßte sich jedoch schnell und saß jetzt mit verschlossener Miene da und strich sich mit diesem unleidlichen Geräusch wie von Sandpapier über das Kinn.

»Sie wollen mit andern Worten Favsingholm für immer verlassen?« fragte er, als Torben geendet hatte.

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber die Ärzte wollen mich in ein südlicheres Klima haben ... nach Italien wahrscheinlich. Schon in einigen Monaten, meint Professor Hagen, kann ich reisen. Es klingt für mich ja wie ein Märchen, daß ich dieses wunderbare Land noch einmal wiedersehen ... am Mittelländischen Meer sitzen und mich sonnen soll; und die Heimreise wird vielleicht über Paris gehen. Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen ...«

»Sie müssen also ganz sicher sein, daß Professor Hagen Ihnen nicht mehr versprochen hat, als er halten kann,« sagte Mads Vestrup und schielte nach der Seite, wobei ihm das Weiße a«s den Augen heraussprang, wie bei einem gefesselten Stier.

Sein Ton empörte Torben, aber um ihr Verhältnis zueinander nicht zu stören, antwortete er mit einem gutmütigen Scherz: »Finden Sie nicht, Pastor Vestrup, daß ich schon eine bessere Farbe bekommen habe? Als ich mich heute morgen im Spiegel betrachtete, wurde ich ganz verliebt in mich.«

»Offen gestanden, ich sehe keine Veränderung.«

»Ja, ja; ich kann nun doch jeden Tag einen kleinen Fortschritt spüren. Ich habe daher vorläufig keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die Wirkung der Kur den Erwartungen entspricht. Und nun habe ich also das Verlangen empfunden, meiner Dankbarkeit einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen.«

Mads Vestrup sah mit einem großen Blick auf:

»Dankbarkeit?« sagte er. »Das verstehe ich nicht? Gegen wen?«

»Hören Sie einmal, Pastor Vestrup, wir wollen uns nicht weites auf heikle Fragen einlassen; es hat sich ja gezeigt, daß es doch zu nichts führt.«

»Ach nein, das tut es wohl nicht. Aber dann möchte ich Sie doch lieber gleich wissen lassen, daß ich mit der Sache weder etwas zu tun haben will noch kann.«

Es folgte eine Pause.

»Sie müssen mich nicht richtig verstanden haben, Pastor Vestrup. Es handelt sich ja hier um ein ganz neutrales Anliegen. Ich erbiete mich, ein der Gemeinde notwendiges Altenheim zu verschaffen – eine Herberge, oder wie man es nun nennen will –.«

»Ja, mir ist es einerlei, wie es genannt wird. Darüber haben Sie ja selbst zu bestimmen. Aber was nicht im Namen Gottes, des Allmächtigen, und zu seiner Ehre erbaut wird, daraus kann – meinem Glauben nach – kein Segen entstehen, und damit will ich mich nicht befassen. Nun habe ich es gesagt.«

»Das tut mir leid – dann muß ich mich ja an einen andern wenden,« sagte er, »zum Beispiel an den Schullehrer ... heißt er nicht Hansen? Er ist ja Vertreter der liberalen Ansichten. Oder meinen Sie, daß auch er Bedenken haben könnte?«

»Darüber will ich mich nicht weiter äußern. Meinetwegen können die Leute ganz nach eigenem Geschmack und Belieben zwischen Himmelreich und Hölle wählen. Ich will nur sagen, daß, falls er mich um Rat fragen sollte, ich ihm natürlich auf das bestimmteste davon abraten würde, sich zum Botengänger des Antichrist hier in der Gemeinde zu machen.«

Nun wollte Torben den Mann los sein.

»Dann habe ich Sie also ganz umsonst bemüht,« sagte er. »Ich bedauere das natürlich, aber es hat ja keinen Zweck, weiter über die Sache zu reden. Es würde nur Zeitvergeudung sein.«

»Der Ansicht bin ich auch.«

Nachdem der Pfarrer gegangen war, ohne ihm die Hand zu reichen, saß Torben lange vornüber gebeugt da, gleichsam unter der Last seiner eigenen Gedanken. Eine alte, häßliche Erinnerung aus der Schulzeit in Randers war ihm während des letzten Teils ihrer Unterredung durch die Seele gegangen.

Es hatte damals eine Zeitlang eine Art Bündnis zwischen ihm und Mads Vestrup bestanden. Er hatte Mitleid gehabt mit dem unbeholfenen, scheuen Bauernjungen, der seit dem ersten Tage, als er in der Schule erschien, die Zielscheibe des Spottes der ganzen Klasse gewesen war. Mads Vestrup war beträchtlich älter als die Kameraden und außerdem ein starkknochiger Bursche, der sich seine Plagegeister sehr wohl hätte vom Leibe halten können; aber er war ein feiger Junge, der erst um sich schlug, wenn er in Wut geriet. An einem Wintertag auf dem Spielplatz geschah es, daß sie miteinander rangen. Es begann im Scherz, als aber die Kameraden einen Kreis um sie bildeten und sie mit Zurufen anfeuerten, wurde allmählich Ernst daraus. Obwohl Mads Vestrup ihm sowohl in bezug auf Fleischmasse als auch an Kraft überlegen war, gelang es ihm schließlich doch, ihn zu werfen, und nun geschah etwas Unheimliches. Als Mads das Freudengeheul hörte, mit dem die Zuschauerschar Goliaths Fall begrüßte, wurde er plötzlich so weiß wie der Schnee, auf dem sie lagen, und spie ihm ins Gesicht.

Was er über Ekel und Beschämung hinaus empfunden hatte, als er hinterher an der Mauer stand und sich mit seinem Taschentuch abtrocknete, während der Schulinspektor, der Zeuge des Auftritts gewesen war, dem Sünder eine Bestrafung zuteil werden ließ, begriff er erst viele Jahre später. Jedesmal, wenn der Rohrstock des Lehrers auf den dicken Beiderwandrücken klatschte, schrie Mads Vestrup in wilder Verzweiflung, so ein Schloßjunge in Samthosen sei nichts weiter als der reine Dreck in den Augen Gottes, und diesen Notruf zum Himmel hatte er seither nie wieder vergessen. Er klang ihm noch in den Ohren, als sie einander nach sechsjähriger Trennung als frischgebackene Studenten in Kopenhagen wieder begegneten. Mads Vestrups bejammernswerte Armut, seine völlige Hilflosigkeit in der großen fremden Stadt und der üble Ruf, in den er bei einigen lustigen Brüdern geraten war, weil er eines Abends im Aprilverein, als er sich einen Augenblick allein im Restaurationslokal glaubte, sich von einigen abgeschnittenen Brotkrusten hatte verlocken lassen, die auf einem Teller liegen geblieben waren, – dies alles hatte wieder eine Art Verhältnis zwischen ihnen angebahnt. Dann war Mads Vestrup plötzlich eines Tages aus Kopenhagen verschwunden, um nicht wieder innerhalb seines Gesichtskreises aufzutauchen, bis er selber vor drei Jahren nach Favsingholm zurückkehrte und ihn hier als Pfarrer vorfand.

Nun hatte er wieder etwas von demselben Abgrundgrauen empfunden, wie an jenem Tage auf dem Schulhof in Randers. Er hatte denselben wilden Haß sich aus der Tiefe der Volksseele entgegenblitzen sehen und diesen unheimlichen Notschrei gehört, der Rache der Gerechtigkeit und Genugtuung forderte – entweder hienieden oder doch mindestens im Jenseits.


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