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XIV

Es war drei Uhr nachts, und Frau Berta lag in tiefem Schlaf, als sie durch Jyttes Stimme geweckt wurde. Noch ehe sie sich recht besonnen hatte, hörte sie an dem Ton, daß etwas Ernstes geschehen war. Jytte stand in ihrem Nachtgewand neben ihrem Bett und bat, ob sie nicht ein wenig bei ihr einkriechen dürfe. Sie könne gar nicht schlafen, sagte sie.

Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, und das Licht da drinnen brannte.

Jytte kroch zu der Mutter ins Bett und schmiegte sich zähneklappernd an sie, wie ein Kind, das im Dunkeln bange geworden ist. Frau Berta hatte im ersten Augenblick geglaubt, daß sie krank sei. Sie hatten am Abend wie gewöhnlich unten im Hotel gesessen, da sich Jytte aber unwohl fühlte, waren sie gleich nach dem Kaffee nach Hause gegangen. Jetzt begriff sie aus Jyttes Wesen, daß etwas anderes vorlag. Als sie sie gut zugedeckt hatte, fragte sie, was sie nur einmal habe.

»Ich kann es fast nicht sagen, Mutter!... Es ist zu schrecklich!«

»Versuche, dich ein wenig zusammenzunehmen. Hängt es mit Torben Dihmer zusammen?«

»Ja.«

»Hat er um dich angehalten?«

»Ja.«

»Aber was hast du ihm denn geantwortet?«

»Ach, ich weiß nicht. Aber du mußt es ihm sagen, Mutter, daß ich ihn nicht so liebhaben kann, wie ich gern möchte. Willst du das tun? Ich kann es nicht selber.«

»Was ist dies nur einmal, Jytte? Als ich dich neulich fragte, gabst du eine andere Antwort.«

»Damals wußte ich es nicht. Aber jetzt weiß ich es. Mit vollkommener Sicherheit weiß ich, daß ich ihn nicht genügend liebe und ihn nie lieben werde. – Du mußt ihn bewegen, daß er abreist, Mutter. Wenn du es ihm sagst, dann glaubt er es.«

Sie hatte den Kopf erhoben und die Arme um den Hals der Mutter geschlungen, wie eine Ertrinkende.

»Dann liebst du also doch ihn – den andern?«

Hierzu schwieg Jytte. Sie wünschte, daß die Mutter es glauben sollte. Und im übrigen war sie so verwirrt von den Gedanken der Nacht, daß sie selbst in diesem Augenblick nicht wußte, ob nicht die Bekanntschaft mit Herrn von Auen wirklich etwas schuld daran war.

»Was soll nur einmal aus dir werden, Jytte?«

»Glaubst du nicht, daß ich mir selbst oft die Frage gestellt habe? Aber so bin ich nun einmal, und anders werde ich nicht mehr.«

»Aber falls du dich nun doch in deinen Gefühlen für Dihmer irrst? Und falls es dann, wenn dir das klar wird, zu spät geworden ist? Was dann?«

Jytte lag eine Weile da, ohne zu antworten.

»Dann würde es doch am besten sein, so wie es jetzt ist,« sagte sie, »für mich wie auch für ihn. – Und wir ziehen dann nicht noch andere mit ins Unglück hinein.«

»Ach, Jytte, – wie du nur redest! Es ist ja kein Sinn und Verstand in dem, was du sagst. Ich glaube gar nicht daran, daß du Dihmer nicht liebst. Ich habe doch Augen im Kopf. Das ist nur etwas, was du dir selbst einbilden willst. Oder auch, du verstehst deine eigenen Gefühle nicht.«

»Verstehen! Verstehen, liebste Mutter! Wer kann alles das verstehen, was im Innern eines Menschen vor sich geht? Es führt nur zum Unglück, wenn man anfängt, über sich selbst nachzudenken.«

»Dann solltest du es nicht tun.«

»Ja – könnte ich es nur lassen! Ich muß so oft an etwas denken, was mir einmal als Kind geträumt hat. Ich entsinne mich noch so deutlich, daß ich in einem großen, dunklen Saal umhertastete und alle möglichen Türen zu öffnen versuchte, aber sie waren alle verschlossen, und ich konnte nirgends hinauskommen. So, finde ich oft, ist das Leben.«

Frau Berta schwieg. Sie war sich klar darüber geworden, daß es vorläufig darauf ankam, sie aus ihrem hilflosen Zustand herauszubringen, falls sie nicht den Verstand verlieren sollte.

»Nun solltest du versuchen, ob du nicht ein wenig Ruhe finden könntest,« sagte sie, als sie merkte, daß Jytte anfing, warm zu werden. »Du kannst ja hier bleiben.«

»Ja, darf ich? Dann glaube ich beinahe, daß ich schlafen kann.«

Sie kuschelte sich an der Seite der Mutter zurecht. Eine kleine Weile lag sie noch da und sprach über die verheirateten Freundinnen, über ihre unglücklichen Ehen und über alles mögliche von dem, was sie in den letzten Tagen beschäftigt halte. Aber nach und nach ward ihre Stimme verschleiert, die Sätze wurden unzusammenhängend, und schließlich schlief sie ein, den Kopf auf der Schulter der Mutter.

Aber Frau Berta fand in dieser Nacht keinen Schlaf. In Gedanken suchte sie Zuflucht bei ihrem verstorbenen Mann, an den sie sich noch immer in der Stunde der Not wandte. »Ach, Hjalmar! Welche Schuld haben wir hier – du und ich?« Hier lag sie mit dem letzten ihrer Kinder im Arm und fühlte, wie auch das im Begriff war, ihr rettungslos zu entgleiten – fortgeführt zu werden von demselben wilden, dunklen Strom, der die andern in den Tod hinabgewirbelt hatte.

Da war immer so viel bei Jytte gewesen, was sie in beängstigender Weise an ihre beiden Söhne erinnerte, so verschieden sie im übrigen alle drei gewesen waren. Als Kind hatte sie am meisten Ähnlichkeit mit Arvid gehabt. Sie hatte sein offenes und drauflosgehendes Wesen, seine stürmende Launenhaftigkeit gehabt. Aber mit den Jahren hatte das Wetterwendische in ihrem Sinn einen mehr verborgenen und schleichenden Charakter angenommen, so wie bei Ebbe. Sie mußte oft daran denken, ob Jytte das nicht selbst empfunden, und ob sie nicht zuzeiten beängstigt gewesen war durch diese Ähnlichkeit mit ihrem unglücklichen Bruder. Es war ihr aufgefallen, daß sie ihn nur selten erwähnte und niemals nach der Veranlassung zu seinem Selbstmord gefragt hatte. Als sie selbst ihr einmal etwas darüber erzählen wollte, hatte sie gleich beide Hände vor die Ohren gehalten und gesagt, daß sie nichts hören wolle, absolut nichts wissen wolle. Nie würde sie das Entsetzen vergessen, das in diesem Augenblick aus ihren Zügen sprach!...

Eine Kirchenglocke unten in der Stadt begann zu läuten. Sie wußte, daß die Uhr dann fünf war, – die Stunde der Morgenandacht für jeden rechtgläubigen Katholiken. Da unten erhoben sich jetzt andere Schlaflose aus ihren Betten und suchten mit ihrer Angst Zuflucht im Gebet – sie beschworen die bösen Geister der Nacht durch Zauber vor einer kleinen Ölflamme und einem Marienbilde. Eine solche Zuflucht hatte sie nie gekannt und daher auch ihre Kinder nicht. Sie hatte so sicher darauf gebaut, daß ihre Liebe sie beschützen würde, daß ihre Aufopferung sie vor Gefahren würde bewahren können – tausendmal besser als jede zauberhafte Beschwörung.

Im selben Augenblicke vernahm sie eine tiefe Stimme, die aus der Finsternis zu ihr redete:

»Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.«

Und nach einer Weile: »Es stehet geschrieben: Deine Sünden sollen heimgesucht werden an deinen Kindern!«

Sie sah die Gestalt vor sich hinter ihren geschlossenen Augen: eine große, grobknochige Frau, ganz in Schwarz – eine Erinnerung aus ihrer Kindheit auf Storeholt, eine alte Großtante, die das Gnadenbrot dort auf dem Gute aß und die der Schrecken aller gewesen war. Wenn sie selbst oder ihr Bruder ihr zufällig während ihrer Spiele im Park begegneten, ja, wenn sie sie nur an ihrem Fenster stehen sahen, verkrochen sie sich wie vor einem Gespenst aus dem Grabe. Sie gehörte einer pietistischen Sekte an und saß bei den Mahlzeiten mit einem Gebetbuch neben sich, in dem sie hin und wieder las. Während der Pausen in der Unterhaltung ließ sie oft ihre grobe Summe ertönen und sandte irgendein dunkles Bibelwort über den Tisch, als Einspruch gegen die sorglose Weiblichkeit rings um sie her. Noch lange, nachdem die alte Dame selbst gestorben war, spukten ihre vielen Bibelsprüche unheimlich in der Erinnerung der Familie. In den schweren Augenblicken des Lebens waren sie auch ihr regelmäßig als ein böser Zauber erklungen, der Unheil verkündete.

Um die Erscheinung zu verscheuchen, schlug sie die Augen auf. Der Tag war im Begriff, anzubrechen. Vorsichtig zog sie den Arm unter Jytte fort, die ein wenig im Schlaf seufzte, aber weiterschlummerte. Bald darauf stand sie auf.

Als sie angekleidet war und auf die Loggia hinaustrat, stieg die Sonne gerade über der Küstenlinie im Osten empor und färbte den Himmel landeinwärts mit dem lichtesten Blau. Die äußersten Bergspitzen schwammen schattenhaft auf dem Wasser wie Schlacken auf einem Feuerfluß. Weiter draußen lag das Meer noch vom Nachtnebel verhüllt.

»Wieder ein schöner Tag für diejenigen, die in der Stimmung sind, sich daran zu freuen,« dachte sie und erinnerte sich der vielen herrlichen Sommermorgen, die sie zusammen mit ihrem Mann verlebt hatte, namentlich auf Samsö, wo sie oft in der frühen Morgendämmerung an den Strand hinabgingen und die Fischerboote mit sonnengefüllten Segeln von den Anholter Sandbänken heimkehren sahen. Warum müssen wir Menschen doch die guten Gaben des Lebens mit so blutigen Zinsen zurückzahlen? Aber es war gut, daß es wenigstens Hjalmar erspart geblieben war, das Ende ihres Sommerglücks zu erleben. Ihm war es vergönnt gewesen, in dem Glauben zu sterben, daß, was in der reinsten Freude gesäet war, nicht in Kummer und Schande untergehen konnte. –

An diesem Morgen mußte sie ihren Tee allein trinken. Späterhin am Vormittag, als Jytte noch immer schlief, nahm sie Hut und Schal, um in die Stadt hinabzugehen.

Ihr Sinn war hoffnungsvoller geworden. Wenn Jytte nur erst richtig ausgeschlafen hatte, dachte sie, so würde sie sich schon besinnen. Es war unmöglich anders. Was in dieser schrecklichen Nacht geschehen war, konnte nur die letzte, schwere Krisis sein, die sie durchkämpfen mußte, um Glauben an sich selbst und an ihr Glück zu erlangen. Jytte war trotz all ihrer Unberechenbarkeit ein vernünftiges, ja, im Grunde ein merkwürdig nüchternes Mädchen. Und sie hatte ihren Verstand doch noch nicht verloren!

Nun wollte sie nach der Apotheke hinabgehen, um einige nervenstärkende Pillen zu kaufen. Jytte hatte Stahl und Lezithin nötig. Das hatte ihr Arzt in Kopenhagen auch immer gesagt. Als sie auf der Treppe stand, sah sie Torben durch den Garten hinaufkommen.

»Wollen Sie ausgehen?« fragte er, nachdem er sie gegrüßt hatte. »Ja – aber setzen Sie sich doch einen Augenblick! Dann können wir nachher zusammen gehen. Jytte muß leider heute im Bett bleiben. Sie war ein wenig überanstrengt von dem Ausflug gestern, und ich will ihr nun einen Tag vollständiger Ruhe verordnen.«

Torbens tiefe Enttäuschung wurde ein wenig gemildert, als es ihm klar ward, daß Jyttes sonderbares Benehmen gestern abend ja hierdurch eine ganz natürliche Erklärung fand. Sie war müde gewesen – hatte sich nicht wohlgefühlt – das war also das Ganze.

»Was haben Sie denn seit gestern abend erlebt?« fragte Frau Berta, als sie im Zimmer saßen.

»Seit gestern abend? ... Ja, mit einer Neuigkeit kann ich wirklich aufwarten. Als ich von hier fortging, begegnete ich Direktor Zaun. Er glaubt, aus zuverlässiger Quelle zu wissen, daß das Folkething aufgelöst werden wird und daß die neuen Wahlen im August stattfinden sollen!«

»Ja, die Wahl hat schon lange gespukt. Ich sprach übrigens gestern selbst mit ihm. Er hat den Auftrag, Ihnen einen Kreis anzubieten, nicht wahr?«

»Ja, aber ich habe mich entschlossen, das Anerbieten abzulehnen. Ich habe vorläufig alle Lust verloren, mich als öffentliche Persönlichkeit zu verpflichten.«

Frau Berta, die mit abgewandtem Gesicht dagesessen hatte, wurde erst jetzt wirklich aufmerksam.

»Warum?« fragte sie.

»Ich gedenke mich zu verheiraten. Ich glaubte übrigens, Sie wüßten das. Und ich habe, offen gestanden, Ihre Freundlichkeit gegen mich als stillschweigende Zustimmung aufgefaßt.«

»Darin haben Sie auch nicht geirrt, Torben Dihmer! Haben Sie aber mit Jytte gesprochen?«

»Ja – und ich habe Grund, anzunehmen, daß auch Ihre Tochter mir meine kühnen Absichten nicht allzu übelnimmt.«

Frau Berta wandte sich wieder ab und nickte.

»Das tut sie sicher nicht! Davon bin ich fest überzeugt!« sagte sie – mehr als Versicherung an sich selber als an ihn.

»Unter diesen Verhältnissen werden Sie wohl begreifen, daß ich nicht sonderlich erpicht darauf bin, mich in einen Wahlkampf zu stürzen mit der Aussicht, meine Flitterwochen in Schenkstubenversammlungen zubringen zu müssen.«

»Das verstehe ich nicht, lieber Freund. Sie brauchen ja nicht gerade während der Wahlen zu heiraten. Diesmal sind die Chancen obendrein wohl ungewöhnlich gut für junge Männer, die die Fähigkeit zu führen besitzen. Ist das nicht wert, in Erwägung gezogen zu werden? Wenn es doch nicht Ihre Absicht ist, den Rest Ihres Lebens als Privatmann zu verbringen – und Sie denken doch nicht daran, in Zukunft nur Ihrem häuslichen Glück zu leben –«

»Das möchte ich freilich am liebsten. Es ist mir klar geworden, daß ich auf dies Konto noch eine ganze Menge bei dem Leben zugute habe. Schließlich ist das vielleicht auch die beste Weise, der Gesellschaft zu nützen.«

»Hören Sie, Torben Dihmer, was haben Sie nur einmal? Das, was Sie da sagen, kann doch wohl Ihre Meinung nicht sein?«

»Ich rede allerdings im vollsten Ernst.«

»Was ist denn nur geschehen?«

»Ach – nichts weiter, als was gewiß hin und wieder einmal einem Menschen bei einer Durchsicht seiner inneren Verfassung begegnet. Man macht die Entdeckung, daß man in vieler Beziehung ein ganz anderer geworden ist, als man sich bisher eingebildet hat. Alle die winzig kleinen täglichen Verschiebungen der Schichten, die wir nicht beachtet haben, rufen einen urplötzlichen Zusammensturz unserer gewohnten Vorstellungen hervor – oft ja infolge einer lächerlich geringfügigen Veranlassung. Es geht damit, wie mit so einem Bergrutsch, von dem man liest, wo sich eine ganze Felswand plötzlich loslöst, nur weil ein Mann unten im Tal einen Schuß nach einer Krähe hinaufgeschickt hat.«

»Und der Krähenjäger ist in diesem Fall also Direktor Zaun gewesen?«

»Das können Sie wohl sagen. Diese kleine unermüdliche Nervenmaschine ist auch sozusagen ein Erlebnis für mich gewesen. Er machte mich übrigens mit dem neuen Parteiprogramm bekannt, das ich ja unterschreiben müßte, falls ich mich aufstellen ließe. Und das würde mir nicht ganz leicht werden.«

»Weswegen?«

»Ja, das ist nicht so einfach zu erklären. Und das ist auch einer von den Gründen, weswegen ich Angst vor der Wahltribüne und vor den Schenkstubenversammlungen bekommen habe, wo man sich mit einem geschmierten Mundwerk durchkämpfen muß. Sie wissen wohl, daß ich daheim auf meinem Gut ein Asyl für alte und kranke Menschen errichtet habe – ›ein Musterheim‹ ist es genannt worden, weil da wirklich an nichts gespart ist, was die Einrichtung und die äußere Ausstattung betrifft. Es ist indessen nur Unfriede und Spektakel aus der ganzen Geschichte entstanden, und ich erkenne jetzt ganz klar die Ursache. Ich habe es angefangen wie ein Mann, der zu einem Fest eingeladen, aber vergessen hat, für Musik zu sorgen. Darum ist das Ganze mißglückt.«

»Was meinen Sie mit Musik?«

»Ach – nur ein einziger beschwörender Trommelwirbel, während man dem großen Wauwau in den Wäldern opfert. Ohne ein wenig Zauberkünste macht man Wilde nun einmal nicht glücklich. Und – offen gestanden – ich erwarte aus demselben Grunde eine ähnliche große Enttäuschung von dem Musterland, mit dessen Aufbau wohlmeinende Politiker und Soziologen zusammen mit unsern Technikern überall auf dem Erdball so viel zu schaffen haben. Es ist ja möglich, daß ich die Verhältnisse zu schwarz sehe, aber es will mir scheinen, als wenn sich das Leben mehr und mehr als wilder Kehraus für ein stummes Orchester entwickelt. Und kennen Sie einen unheimlicheren Anblick? Es ist, als sähe man die Toten auf ihren eigenen Gräbern tanzen – verdammt, beim ersten Hahnenschrei mit einem Purzelbaum in die Erde hinab zu verschwinden.«

Frau Berta hatte ein paarmal mit bekümmertem Blick zu ihm aufgesehen. Als Torben ihr Schweigen bemerkte, wurde er besorgt, daß er sie durch seine Worte gekränkt haben könne, und er beeilte sich, zu schließen.

»Aber Sie dürfen sich wirklich nicht darum kümmern, was ich sage. Ich bin ein wenig großmäulig in dieser Zeit – ich hoffe, Sie verzeihen mir. Und nun will ich Sie nicht länger quälen. Sie wollten ja gehen, und ich habe Sie bereits zu lange aufgehalten. Jetzt gestatten Sie, daß ich Sie in die Stadt hinab begleite.«

Er erhob sich, Frau Berta aber blieb sitzen und sah in Gedanken versunken vor sich nieder.

»Dihmer!« sagte sie dann und reichte ihm mit Tränen in den Augen die Hand. »Machen Sie Jytte glücklich, und ich will Ihnen verzeihen, daß Sie uns im Stich lassen, so sehr es mich auch betrübt. Wir hätten gerade jetzt einen Mann wie Sie so dringend nötig. Mir deucht, es fängt an, so armselig und verblaßt in unsern Reihen auszusehen. Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Sie können mir auch glauben, Dihmer, daß ich glücklich über Sie bin. Ich weiß ja, daß Sie gut und nachsichtig gegen Jytte sein werden. Und sie bedarf der Nachsicht. – Ich selbst bekomme jetzt einen Sohn wieder für die beiden, die ich verloren habe.«

Torben beugte sich bewegt über ihre Hand und küßte sie. – Jytte lag während alles dessen oben im Bett, die Hand über den Augen. Sie war bei dem Laut von Torbens Stimme erwacht, hatte auch eine Weile aufrecht im Bett gesessen und gelauscht; aber die Worte hatten sich verwirrt, und sie hatte es schnell aufgeben müssen, etwas davon zu erfahren, wie die Mutter das Versprechen einlöste, das sie ihr in der Nacht gegeben hatte.

Dafür suchte sie sich über das klar zu werden, was sich in ihr selbst zutrug; und sie war verwundert, fast entsetzt über ihre Ruhe. Sie empfand keine Gewissensbisse. Im Gegenteil, mit einer unendlichen Befreiung dachte sie daran, daß nun alles gesagt werden würde. Die vielen aufregenden Ereignisse der letzten Tage, die Seelennot, in der sie sich diese Nacht befunden hatte, erschienen ihr jetzt wie wilde Fieberphantasien. Ihr war zumute wie einer Nachtwandlerin, die durch einen glücklichen Zufall gerade in dem Augenblick erwacht ist, wo sie über die Dächer der Häuser wandern wollte, um auf die Erde hinabzustürzen und einen andern in den tötenden Fall mit sich zu nehmen.

Als sie hörte, daß sie da unten aufstanden, dachte sie: »Nun weiß er es also!« – Nach einer Weile ging er. – Sie hörte ja, daß die Mutter ihn durch den Garten begleitete, wunderte sich auch ein wenig darüber, war aber in diesem Augenblick zu sehr davon in Anspruch genommen, dem Laut seiner Schritte zu folgen. Als sie verschwanden – für immer verschwanden –, schwoll ihr das Herz, und sie sandte ihm in Gedanken ihr zärtlichstes Lebewohl nach. Aber nicht einen Augenblick wünschte sie, ihn zurückrufen zu können. Jetzt sollte er wieder in ihr als eine schöne Erinnerung leben, und so war es gerade am besten. Glücklicherweise war sie ja bald eine alte Jungfer, die nicht mehr in Versuchung geführt werden würde, einen Mord zu begehen, um ihres Herzens blutdürstiges Verlangen nach Liebe zu befriedigen. Dann fand sie vielleicht endlich Frieden für ihr Gemüt. Ja – Gott sei Dank! – jetzt war der Traum vorbei. Sie hatte ihre Ruhe wieder. Dihmer würde ihr wohl nicht so leicht verzeihen. Er wußte ja nichts von der Gefahr, in der er geschwebt hatte. Aber er vergaß sie wohl bald, wie sie sich auch bemühen wollte, ihn und ihr armes Liebesabenteuer zu vergessen.


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