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VII

Ein paar Stunden zuvor war Enslev von dem gesamten Vorstand des Demokratischen Wahlvereins am Bahnhof feierlich empfangen worden. Auch Pastor Gaardbo war, um nicht Anstoß zu erregen, gezwungen gewesen zu erscheinen. Hofbesitzer Peter Hansen, der Vorsitzende des Vorstandes, stellte die Deputation vor, und Enslev begrüßte jeden einzelnen, als seien sie alte Bekannte. Auch seinem Neffen gegenüber ließ er sich nicht merken, daß er ihn hier zum erstenmal sah.

In zwei Wagen fuhren sie alle nach Peter Hansens Hof, wo ein gedeckter Kaffeetisch ihrer harrte. Als Enslev erfuhr, daß das Pfarrhaus ganz in der Nähe lag, äußerte er den Wunsch, es zu sehen, und nun wußte er es so einzurichten, daß er mit dem Neffen in dessen Stube allein blieb, während sich die andern Herren im Garten aufhielten.

»So also sehen Sie aus!« sagte er mit seinem verschlossenen Lächeln, nachdem er Platz genommen hatte. »Sie sind Ihrer Mutter wie aus den Augen geschnitten! Mein Bruder war sehr stolz auf seine beiden Söhne, und dazu hat er ja auch wirklich Grund. Ich habe mir erzählen lassen, daß Sie sich schon viele Freunde hier in der Gegend erworben haben. Und nun denkt man sogar daran, Sie zum Reichstagsabgeordneten zu machen, nickt wahr?«

Der junge Pfarrer wurde verwirrt. Auf einen so liebenswürdigen Ton war er nicht vorbereitet.

»Die Frage liegt ja einstweilen noch nicht vor,« erwiderte er ausweichend. »Niemand denkt daran, Müller Jensen zu verdrängen, falls er sich wieder aufstellen lassen sollte.«

»Setzen Sie sich und lassen Sie uns ein wenig vernünftig miteinander reden! Aber hier zieht es! – – – Tun Sie mir den Gefallen und schließen Sie die Verandatür,« sagte Enslev, um sich gegen Störungen zu sichern. »Sehen Sie, zuerst möchte ich Ihnen einen praktischen Rat geben. Sie müssen sich nicht in die Politik hineinlocken lassen, ehe Sie mit sich selbst einig darüber geworden sind, daß Sie Ernst aus der Sache machen wollen. Glauben Sie nur nicht, daß es ohne alle Gefahr ist, einen Versuch zu machen! Die Rednertribüne fängt! – Nein, unterbrechen Sie mich nicht! Wir haben bereits hinreichend viele von diesen wohlmeinenden Dilettanten, die irgendein Zufall zu Staatsmännern gemacht hat. Sie werden in der Regel zu jammervollen Figuren, die nur zur Last sind. Politik fordert ihre Vorbereitung, ihre Lehrjahre, so gut wie jede andere vernünftige Wirksamkeit. Sie fordert außerdem, daß man seine ganze Person als Einsatz und Garantie stellt. Im Gegensatz zu den Herren Gelegenheitspolitikern, die keine Gefahr laufen, weil sie sich stets auf der Privatbühne Genugtuung verschaffen können, falls sie mit einer Gastrolle auf dem großen Schauplatz Unglück gehabt haben, – setzt der professionelle Politiker sein augenblickliches Ansehen wie auch seinen Nachruhm beim Volke zum Pfand. – Aber lassen Sie mich einmal hören! Was wollten Sie sagen?«

Pastor Gaardbo erwiderte, er hege persönlich nicht den Wunsch, eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Wenn er der Aufforderung, sich zur Wahl aufstellen zu lassen, Folge gebe, so geschehe das nur notgedrungen.

»Ich tue es in dem Falle nur aus Rücksicht auf meine Gesinnungsgenossen im Kreise, die sich unsicher fühlen, bei dem Gedanken, daß ein Mann mit Balduin Hansens Anschauungen ihre Interessen im Reichstag wahrnehmen soll.«

Der Ausdruck in Enslevs bleifarbenem Gesicht veränderte sich ganz plötzlich, sein Ton ebenfalls.

»Ihre Gesinnungsgenossen? ... Wie ist das zu verstehen?«

»Meine religiösen Gesinnungsgenossen. Den alten Müller Jensen dahingegen wird – wie ich bereits sagte – niemand zu verdrängen gewillt sein.«

Enslev schwieg einen Augenblick. Der berühmte Stock – eine Gabe des Volkes – stand vor ihm, und seine beiden blauschilbrigen Greisenhände krümmten sich um den goldenen Griff wie ein Paar Adlerklauen.

»Müller Jensen wird sich nicht wieder aufstellen lassen. Aber im Parteivorstand ist noch keine Stellung zu der Frage bezüglich seines Nachfolgers genommen, also allein aus diesem Grunde ist dieser Wählerprotest ein übereilter Schritt, den Sie um Ihrer selbst willen hätten verhindern sollen. Als Ihr naher Verwandter und – ich kann wohl sagen – als Ihr Freund will ich Sie davor warnen, einen Leichtsinn zu begehen, der die ernstesten Folgen für Sie haben kann. Eine Meuterei am Tage vor der Schlacht wird nach den Kriegsregeln als Hochverrat angesehen, und was sich hier im Kreise vorbereitet, ist ja in Wirklichkeit nichts Geringeres als eine offene Auflehnung gegen die Parteileitung. Es ist uns – und speziell mir – eine peinliche Überraschung gewesen, Sie in Gemeinschaft mit den Demonstranten anzutreffen, da Sie doch von seiten der Partei große Vergünstigungen genossen haben.«

Pastor Gaardbo erhob den Kopf.

»Ich?« sagte er mit ein wenig unsicherem Staunen.

»Ja. Darüber können Sie doch nicht in Unwissenheit sein. Wenn Sie in so jungem Alter dieses verhältnismäßig bedeutende Amt bekleiden, so ist das eine Anerkennung, die Ihnen für Ihren vorurteilslosen politischen Standpunkt erwiesen wurde. Oder vielmehr – um es rein heraus zu sagen – es geschah, weil der Kultusminister wußte, daß er meinem Wunsch entgegenkam, wenn er Ihnen die Pfarre gab.«

Der Pfarrer wurde dunkelrot; er erhob sich heftig. Die Hand um die Stuhllehne gekrampft, sagte er: »Ich habe nicht darum gebeten.«

»Das weiß ich! Aber Sie haben doch wohl selbst kaum glauben können, daß Sie ohne besonderes ministerielles Wohlwollen so vielen älteren Bewerbern vorgezogen wurden. – Aber lassen wir das jetzt! Da ich nun einmal hierher gekommen bin – und es wird vielleicht das erste- und das letztemal sein, daß wir miteinander sprechen –, so will ich Ihnen gleich alles sagen. Ich nannte mich vorhin Ihren Freund. Das war nicht nur eine Redensart. Seit Sie zum erstenmal als junger Student auf einer politischen Versammlung auftraten, habe ich Sie aus der Ferne mit Interesse verfolgt, ja – ich kann wohl sagen – mit der Erwartung einer bedeutenden Zukunft als Politiker für Sie. Daß Sie dann Pfarrer wurden, war mir, ich kann es nicht leugnen, eine Enttäuschung. Die Politik ist ein kriegerisches Gewerbe, das – wie ich schon vorhin sagte – sich schwer mit einem bürgerlichen Beruf vereinen läßt, am allerwenigsten mit dem eines Pfarrers. Ich gestehe, ich habe seit Bischof Monrads Zeiten einen fast abergläubischen Abscheu vor Politikern im Ornat gehabt. Aber ich habe mir auch gedacht, daß der Tag kommen könnte, an dem Sie die geistliche Wirksamkeit aufgeben würden, um sich ganz der sozialen Fürsorge zu widmen, für die Sie ja ein besonderes Interesse haben. Und der natürliche Wirkungskreis für eine solche Arbeit ist doch der Reichstag – die Politik überhaupt. Auf dem Gebiet haben Sie ja überdies ein – sozusagen angeborenes – Anrecht, schnell in die erste Linie zu gelangen. Und nun werden Sie vielleicht den Grund verstehen, weswegen ich Sie ungern einen unüberlegten Schritt tun sehe!«

Pastor Gaardbo war sich nicht klar über die Absicht mit all dieser hinterlistigen Freundlichkeit. War das ein Versuch, ihn auf schwankenden Grund hinauszulocken? Oder glaubte der Oheim wirklich, ihn zum Abfall bringen zu können durch ein Anerbieten, ihn zum Erben seiner politischen Hinterlassenschaft zu machen? Er hatte Mitleid mit dem alten Mann, der so offenbar ohne jegliches Verständnis für seine Ohnmacht war, und da er es nicht übers Herz bringen konnte, ihm geradeheraus zu sagen, wie schlecht er unterrichtet war, gestaltete sich seine Antwort nur zu einer Wiederholung dessen, was er bereits gesagt hatte.

Aber was er verschwieg, das lasen Enslevs aufmerksame Augen in seinen Mienen, und plötzlich blitzte es unter den buschigen Brauen auf. Mit einem Blick, hastig wie das Blinken einer Axt, fällte er das Todesurteil über den Neffen.

»Wollen Sie dann gefälligst den Wagen vorfahren lassen,« sagte er. »Es ist Zeit, daß wir fortkommen.«


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