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V

Im Schloß waren die Lichter schon ein paar Stunden nach Sonnenuntergang ausgelöscht, als das rote Mondgesicht mit der einen verdunkelten Wange über dem Wald aufstieg. Asmus Hagen, der die ganze vorige Nacht auf der Reise verbracht hatte, war mit den Hühnern zu Bett gegangen. Um Torben nach den vielen Gemütserregungen des Tages Ruhe zu schaffen, hatte er ihm ein Schlafpulver bereitet, das seinem Zustand genau angepaßt war, und das Ergebnis war denn auch, daß Torben zum ersten Male seit langer Zeit fast augenblicklich einschlief.

Barbara, die in einem Zimmer nebenan lag und ein paarmal während der Nacht geweckt zu werden pflegte, um sein Lager zu ordnen oder ihm etwas Warmes zu trinken zu geben, wurde ängstlich. Jeden Augenblick stand sie aus ihrem Bett auf und lauschte an der Tür. Aber sie hörte ihn immer ruhig schlafen und nur hin und wieder ein klein wenig im Schlaf sprechen.

Erst die Morgenglocke drüben im Wirtschaftshof weckte ihn. Mit einem wunderbaren Gefühl der Ausgeruhtheit schlug er die Augen auf. Als ihm klar ward, daß es Tageslicht war und nicht der Mond, der auf das Rouleau schien, daß die Nacht schon verronnen war, blieb er in stillem Staunen liegen. Und es war ihm jetzt, als erwache er langsam aus einem andern, einem noch tieferen Schlaf. Diese gesprungenen Glockenschläge da drüben, die ihm seit drei Jahren jeden Morgen nach einer endlosen Nacht das Kommen eines neuen Tages mit neuer Angst und neuer Qual verkündet hatten – sie drangen jetzt zu ihm wie aus einer schwindenden Schattenwelt, aus einem entfliehenden Schreckenstraum.

Am Frühstückstisch begann Asmus wieder, ihn mit den alten medizinischen Schriften zu necken, die er hier gefunden hatte. Torben wollte anfänglich nicht auf die Sache eingehen, als aber der Freund fortfuhr, ihm scharf zuzusetzen, erklärte er, wie er die Erfahrung gemacht zu haben glaube, daß gewisse regelmäßige Naturbegebenheiten, wie die wechselnden Zeichen der Sonne und des Mondes, die Wanderungen der Planeten und die eigene Stellung der Erde im Weltenraum, auf seinen Zustand einwirkten, und er habe deswegen versucht, sich mit dem bekannt zu machen, was es in der Literatur an ähnlichen Beobachtungen gab, zum Beweis für eine sympathisch-organische Harmonie zwischen dem einzelnen Menschen und dem Weltall.

Sein Geständnis ward Anlaß zu einer Diskussion, die von Asmus' Seite mit großer Heftigkeit geführt wurde, und bei dieser Gelegenheit ward es Torben erst eigentlich klar, wie sehr die lange Trennung sie einander entfremdet hatte.

Er machte denn auch nicht viele Überredungsversuche, als sich Asmus am Nachmittag entschloß, nach Kopenhagen zurückzukehren. Der Abschied war jedoch sehr herzlich. Als Torben, die Hand des Freundes in der seinen, dastand, konnte er sich kaum entschließen, sie loszulassen.

»Grüße zu Hause!« sagte er, ohne Namen zu nennen. Asmus aber dachte das Seine und nickte.

Den Rest des Nachmittags saß Torben in seinem Lehnstuhl. Mit einem Gefühl, als kehre er von einer langen, abenteuerlichen Reise zurück, nahm er seine kleine heimische Welt wieder in Besitz. Schon mit einem Anflug von der Schwermut des bevorstehenden Abschieds hörte er den Wind so hausgewohnt an der Mauer entlang streichen und – in weiter Ferne – das Brüllen der heimkehrenden Kuhherde.

Er dachte an seine Mutter, die hier so wie er gesessen und auf den Tod gewartet hatte. Er hatte nicht die leiseste Erinnerung an sie bewahrt, aber oft in diesen Jahren hatte er ihre lebende Nähe in den leeren Zimmern gefühlt und sich davon trösten lassen. Er hatte in der Stille ihren hohlen Husten gehört, von dem das Gesinde so viel geredet hatte, als er noch klein war. Er hatte sie dort am Fenster sitzen sehen, die Hand unter der Wange, in dieser stummen und sanften Ergebung in ihr Schicksal, von der sein Vater in aufbewahrten Briefen an Verwandte mit so großer Bewunderung geschrieben hatte.

Und er dachte an die vielen andern Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte hier auf Favsingholm gelebt und geliebt und gelitten hatten, an alle diese wunderlichen Schicksale, die er aus alten Rechnungen, Übertragungsurkunden, Verhörsunterschriften, Kontrakten und halbvergilbten Briefen aus dem Archiv des Schlosses kennen gelernt hatte. Jetzt würde er wohl schnell die Toten über die Lebenden vergessen. Die ganze vielfältige Welt der Vergangenheit würde wieder ihn Dunkel verschwinden ...

Barbara kam herein und fragte, ob sie nicht die Lampe anzünden solle. Statt zu antworten, winkte er sie zu sich heran. Die Hand auf ihrer Schulter, ging er ein paarmal im Zimmer auf und nieder, um zu versuchen, ob er nicht eine Besserung spüren könne. Und wirklich schien es ihm, als bewege er sich schon ein wenig leichter.

Ein paar Stunden später lag er in seinem Bett, und mit Hilfe des neuen Schlafpulvers glitt er auch diesen Abend schnell in die Bewußtlosigkeit hinüber. Aber um Mitternacht wurde er aus seinen Träumen geweckt. Und als es ihm klar wurde, daß er von Jytte Abildgaard geträumt hatte, wurde er auf einmal ganz wach.

Zum ersten Male hatte er die schöne Cousine seines Freundes in Storebolt, Asmus Hagens fühnenschem Kindheitsheim, gesehen, wo er in den Sommerferien zu Gast war. Sie war damals ein kleines Mädchen von ungefähr zehn Jahren; er selbst und Asmus waren fünfzehn. Sie kam dorthin von der Insel Samsö, wo ihr Vater zu jener Zeit Amtsrichter war; ihre Sprache war halb bäurisch, und sie hatte die beiden korrekten Herlufsholmer Akademiker in Verlegenheit gesetzt durch die ungenierte Art, in der sie kameradschaftlich mit ihnen verkehrte und sich in den Heuhaufen auf der Wiese wie ein Junge herumkobolzte. Er erinnerte sich noch eines sonnenheißen Sommertages, als Asmus und er draußen auf dem See, dem sogenannten »Grünen Wasser«, Hechte angelten. Plötzlich stand sie am Ufer und rief ihnen zu, daß sie mit wolle. Sie ließen sie rufen. Sie war ihnen lästig mit ihrer Zudringlichkeit. Da sahen sie, daß sie anfing, die Kleider abzustreifen, und eins, zwei, drei, plumpste sie ins Wasser und kam auf sie zugeschwommen, während das lange braune Haar hinter ihr drein floß. Als sie das Boot erreichte, hängte sie sich mit den Armen an die Reeling wie eine kleine Meerjungfrau und lachte laut.

In dem Sommer, als er Student geworden war, trafen sie wieder zusammen und auch diesmal auf Storeholt. Ihr Vater war in der Zwischenzeit Reichstagsabgeordneter geworden, die Familie war nach Kopenhagen gezogen, und das hatte ihr Wesen verändert. Sie war jetzt auch halberwachsen, und ihm war es eine Wonne, ihre braunen Augen und den roten Mund anzusehen, der mit seinen kleinen weißen Zähnen frisch war wie eine durchgeschnittene Hagebutte.

Dann vergingen fast sechs Jahre, ehe sie sich wiedersahen, und in der ganzen Zeit dachte er nur selten an sie, obwohl Asmus oft von ihr sprach und sie rühmte. Sie hatte ihr Abiturientenexamen mit Auszeichnung bestanden und studierte jetzt Englisch und Französisch, um das Staatsexamen zu machen. Aber sein Herz war damals verschiedentlich anderweitig verpflichtet.

Und dann eines Tages begegneten sie sich in einer Kopenhagener Mittagsgesellschaft. Schon ihr Aussehen setzte ihn in Verwunderung. Er hatte sie sich groß und schlank vorgestellt, und nun war sie eher unter Mittelgröße und schon recht rundlich. Er entsann sich noch, daß sie in feuergelbe Seide gekleidet war und daß sie aus diesem Grund und mit ihrer warmen Hautfarbe einen ganz südländischen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Er führte sie zu Tisch, und hier setzte sie ihn von neuem in Erstaunen, indem sie ihm gleich erzählte, sie habe gewußt, daß er kommen würde, und habe sich gefreut, ihn wieder zu treffen. Dann sprachen sie von Storeholt, und sie erzählte unterhaltend von einer Reise nach Italien, die sie kürzlich mit ihrer Mutter gemacht hatte. Ihr Vater war vor einem Jahre als Justizminister gestorben.

Aus dem Naturkind von Samsö war eine mustergültige junge Großstadtdame geworden, die in jeder Beziehung wußte, was sich schickte. Die kleine Meerjungfrau von dem »Grünen Wasser« spürte man höchstens noch in einem gewissen schattenartigen Spiel auf dem Grund ihrer goldbraunen Augen und in der vertraulichen Art, sich auszudrücken, die sie so anziehend in der Unterhaltung machte, aber auch sehr gefährlich für die Männer, die sie nicht kannten.

Schon bei dieser ersten Begegnung fragte sie ihn in bezug auf verschiedene Dinge um Rat, sprach auch viel von ihrem Vater und erklärte offenherzig, daß sie sich nicht für Politik interessiere und nicht begreifen könne, wie jemand Minister sein wolle. Sie habe ihren Vater oft verärgert aus den Reichstagssitzungen und Staatsratsverhandlungen nach Hause kommen sehen, und sie sei fest überzeugt, daß der viele Ärger, den er gehabt, ihn so früh ins Grab gebracht habe.

Auch nach Tische blieben sie in vertraulicher Unterhaltung eine Weile zusammen sitzen, bis Jyttes Mutter hinkam und sie daran erinnerte, daß noch andere Freunde anwesend seien, die sie gern begrüßen wollten.

Die Tage, die nun folgten, erschienen ihm später in seiner Erinnerung wie in einem goldenen Nebel verlebt. Er, der sich früher in jede schöne Dame, die er sah, ein wenig verliebt hatte, fühlte sich zum ersten Male als Opfer der mystischen Macht, die die Lebensfäden zweier Menschen ineinander wirrt und ihr Schicksal vollzieht. Obwohl er gerade im Begriff stand, seine große Studienreise anzutreten, und seine Freunde schon Abschiedsfeste für ihn veranstaltet hatten, schob er die Reise von Woche zu Woche hinaus, um mit Jytte Abildgaard zusammentreffen zu können, und eines Tages kam es denn auch zu einer Erklärung.

Es war draußen auf der Langenlinie. Ein Sonnentag im April mit großen, weißen, treibenden Wolken über dem Sund. Er war ihres Jawortes so strahlend sicher gewesen, daß er es anfänglich nicht glauben wollte, als sie mit einer undurchdringlichen Miene um Bedenkzeit bat.

Er hatte sehr wohl gewußt, daß da ein anderer Mann war, mit dem sie gern plauderte und dem sie auf ihre offene Weise Vertrauen erwies. Das war Professor Ole Knudsen, der bekannte Historiker, den sie kürzlich in Rom kennen gelernt hatte. Aber der Mann war sechzig Jahre alt und fast blind, da war es ihm nicht in den Sinn gekommen, ihn als Nebenbuhler zu betrachten. Am Tage darauf erhielt er indessen einen Brief von ihr, in dem sie ihn mit einem gekünstelten Versuch, humoristisch zu sein, bat, seine Reise ihretwegen nicht länger hinauszuschieben, da es wohl überhaupt nicht des lieben Gottes Absicht mit ihr sei, daß sie jemals heiraten solle.

An jenem Tage wurde es ihm plötzlich klar, daß er nicht der Glücksprinz war, wie er bisher anzunehmen allen Grund zu haben geglaubt hatte. Er war so verzweifelt und zugleich so rasend verbittert, so tödlich verletzt in seinem verhätschelten Selbstgefühl, daß er nicht weit davon entfernt war, sich ein Leid anzutun.

Am Tage darauf reiste er.

Ein halbes Jahr später hörte er dann in Paris, daß ein schwedischer Freiherr und Rennreiter ihr stürmisch den Hof mache und daß man auf eine Verlobung gefaßt sei. Und während der zwei folgenden Jahre, in denen er seiner Studien halber Europa durchreiste, drangen von Zeit zu Zeit Gerüchte über andere bevorstehende Verbindungen, aus denen jedoch nie etwas wurde, an sein Ohr. Da mußte er denn oft an die angestrengt scherzhaften Worte denken, die sie ihm über ihre vermutliche Bestimmung hier im Leben geschrieben hatte, und darüber nachsinnen, was wohl dahinterstecken möge.

Kurze Zeit nach seiner Heimkehr traf er sie eines Tages unvermutet im Reithaus beim Schloß. Sie war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt geworden und stand in ihrer holdesten Blüte. Seither trafen sie hier fast täglich zusammen – und nachdem sie sich erst durch ein stillschweigendes Übereinkommen dahin geeinigt hatten, die Vergangenheit ruhen zu lassen, fand sie schnell den alten vertraulichen Ton ihm gegenüber wieder. Sie ritten schließlich zusammen aus und machten recht lange Ausflüge in die Umgegend der Stadt.

Eine besonders gute Reiterin hatte der schwedische Rennreiterbaron nicht aus ihr zu machen vermocht. Aber das Reitkleid und die schwarze Jockeimütze kleideten sie vorzüglich.

Auf einem dieser Ausflüge überraschte ihn zum ersten Male eine warnende Ahnung von seiner Krankheit. Ihm wurde elend, und er mußte vom Pferd steigen, um an einem Grabenrand auszuruhen. Es war in der Gegend von Utterslev. Jytte erschrak sehr. Sie ritt auf ein Gehöft, um Wasser zu holen, und dann stieg sie selbst vom Pferd und nahm sich seiner auf die schwesterlichste Weise an.

So begann die Liebe wieder ihre goldenen Fäden zwischen ihnen zu spinnen. Er sah sie seit jenem Tage hauptsächlich in dem Heim ihrer Mutter – der »Geheimrätin« –, wie Frau Abildgaard in der Regel genannt wurde, weil ihr Mann in seiner hohen Amtsstellung gestorben war und weil sie selbst zu dem angesehenen und vermögenden Geschlecht der Hagens auf Storeholt gehörte.

Zu einer erneuten Erklärung kam es jedoch nie. Auf dem Grund von Jyttes freimütigem Wesen machte sich immer eine Scheu bemerkbar, die ihm im letzten Augenblick das Wort auf der Zunge zurückhielt. In dieser wunderlich bangen Zutraulichkeit lag etwas, das ihn oft an die halbgezähmten Rehkitzchen denken machte, die man in der Nähe von Försterwohnungen trifft – die fliehen, sobald man sich ihnen nähert, aber folgen, wenn man sich entfernt.

Er hatte sich oft selbst gefragt, ob ihr Leben irgendein Geheimnis enthalten könne, das sie nicht den Mut hatte ihm einzugestehen. Er erinnerte sich der angstvollen Augen, mit denen sie ihn an jenem Tage auf der Langenlinie angesehen hatte, als er um sie anhielt. Diese Augen hatten ihn auch hier in Favsingholm verfolgt.

Sie und ihre Mutter lebten in diesem Winter sehr still. Frau Abildgaard hatte kurz zuvor den letzten ihrer beiden Söhne verloren, einen begabten jungen Mann, der einer törichten Ursache wegen Selbstmord beging. Außerdem hatten die vielen Verlobungsgerüchte, die in den letzten Jahren aus Jyttes Fußspuren aufflatterten, sie wohl auch ein wenig isoliert.

»Finden Sie nicht, daß meine Tochter sich sehr verändert hat?« fragte ihn die Mutter einmal, als sie allein zusammen im Wohnzimmer saßen. Er hatte ihr in seinem Herzen recht geben müssen. Trotz Jyttes gleichgültigem und zuzeiten recht ausgelassenem Ton war sie offenbar oft ganz zermartert. Der Tod des Bruders hatte sie wohl sehr erschüttert. Aber trug sie nicht auch einen geheimen Kummer mit sich herum? Woher kam der Schleier der Müdigkeit, der sich so oft über die schönen, klugen Augen legen konnte? Woher die schwere Süße in dem gedankenvollen Lächeln?

Sie hatte in den letzten Jahren ihre Sprachstudien aufgegeben und sich auf die Musik geworfen. Selbst sprach sie nur davon, daß sie »ein wenig klimpere«. Aber von anderer Seite wußte er, daß einer der Professoren am Konservatorium sie in hohen Tönen gerühmt und nur bedauert haben sollte, daß ihr Ehrgeiz ihren musikalischen Fähigkeiten und ihrer Energie nicht entspreche. »Sie würde eine Künstlerin von europäischem Ruf werden können,« hatte er gesagt.

Am Abend, ehe er nach Nauheim reiste, um eine Kur durchzumachen – und sich sein Todesurteil zu holen –, standen sie zusammen im Laternenschein vor ihrer Haustür in der Dronningens Tvärgade und nahmen Abschied. Er hatte sie aus einem Konzert nach Hause begleitet, und sie waren beide gleich geistesabwesend. Ahnte sie, daß das Freierwort ihm wieder auf den Lippen brannte? War das der Grund, weswegen sie eine solche Eile hatte, die Hand aus dem Abendmantel herauszustrecken und gute Nacht zu sagen?

»Ja, dann viel Glück auf die Reise,« sagte sie in scherzendem Ton, »und vergessen Sie nicht, daß Sie Mutter versprochen haben, zu schreiben!«

Das waren die letzten Worte, die er von ihr gehört hatte.

Seither hatte er jedes Jahr an seinem Geburtstag eine Sendung Rosen von ihr und der Mutter erhalten, mit einem Gruß aus Storeholt, wo sie sich um diese Zeit aufzuhalten pflegten: Das erste Mal hatte er mit einem Brief, später mit einigen Höflichkeitsphrasen geantwortet, und eine andere Verbindung hatte in diesen Jahren nicht zwischen ihnen bestanden. Wenn es sich so verhielt, wie Asmus vermutete, daß sie auf jemand wartete, so konnte er es sicher nicht sein ...

Das Geräusch einer Maus, die unter dem Fenstergesims zu nagen anfing, machte ihn einen Augenblick aufmerksam. Dann war die Uhr also eins. Das kleine Wesen der Finsternis, das offenbar ein streng reguliertes Dasein führte, begann jede Nacht um diese Zeit die Zähne zu wetzen. Draußen hatte sich der Wind erhoben. Wunderlich schleichend kam er von der südlichen Giebelecke und fingerte an den Türen und Fenstern herum wie ein Dieb.

Bald kehrten jedoch seine Gedanken zu Jytte zurück. Er richtete sich im Bett auf und drückte verwirrt sein Gesicht in die Hände. In einem halben Jahre würde er vielleicht Bescheid wissen. Noch sechs lange Monate sollte er hier in der Ungewißheit umhergehen! ... Er fühlte wieder die Fesseln der Krankheit an Hand und Fuß einschneiden und zerrte daran wie ein Gefangener, der aus einem Traum von Freiheit erwacht ist.

»Was habe ich im Grunde gewonnen? Kaum hat das Gespenst des Todes den Griff um meine Kehle gelöst, als auch schon der Alpdruck des Lebens sich mit noch ärgerer Qual über mich stürzt!«

Die Tür zu Barbaras Kammer tat sich leise auf. Die Alte hatte ihn seufzen gehört. Sie kam mit einem Licht in der Hand herein und blieb in ihrem weißen Nachthemd an der Tür stehen. Mit der andern Hand beschattete sie das Licht, so daß nur ihr eigenes kleines, weiches Altweibergesicht beleuchtet wurde. Die ganze Stube wurde von dem Schatten der Hand ausgefüllt.

»Geben Sie mir bitte etwas zu trinken,« sagte er.

»Haben der Herr nicht geschlafen?«

»Ja freilich! Aber mir ist so wirr im Kopf. Sehen Sie doch einmal nach, was für Wind wir haben.«

Barbara stellte das Licht auf einen Tisch unter dem Fenster, wischte den Tau von einer Fensterscheibe und sah in die blaue Nacht hinaus.

»Der Wind ist nach Süden herumgegangen,« sagte sie.

»Ja, das deuchte mir auch. Haben Sie nicht den Vogelzug gestern abend gehört? Wir bekommen wohl noch mehr Regen.«

Die Alte bestätigte das. Die Fliegen hätten sich seit heute mittag im Hause gehalten, sagte sie.

Während sie am Tisch stand und einen Trunk aus frischen Holunderbeeren durch ein kleines Sieb goß, lag Torben auf den Ellbogen gestützt und beobachtete sie. Es war so sonderbar zu denken, daß auch sie bald nur eine Erinnerung für ihn sein würde. In Tausenden von Nächten war sie aus der Dunkelheit da hinten aufgetaucht und hatte um ihn herumgepusselt wie ein freundliches altes Hausgespenst. Sie hatte auch zuweilen hier an seinem Bett sitzen und ihn in den langen, schlaflosen Stunden unterhalten müssen; und es erschien ihm dann oft, als wenn sie in ihrem einförmigen Dasein mehr erlebt hatte als irgendein anderer Mensch, den er gekannt, auch daß sie in ihrer Einfältigkeit klüger in bezug auf das Leben war als die meisten. Aber das kam wohl, weil sie zu diesen jetzt fast ausgestorbenen Menschen gehörte, die immer ihre ganze Welt da haben, wo der Zufall sie anbrachte.

Sie stammte aus Christiansfeld, wo sie vor achtzig Jahren in der Brüdergemeinde geboren war. Während des Krieges war sie an einem Feldlazarett als Wachfrau angestellt gewesen und hatte das Heer durch Jütland hinaufbegleitet. Auf die Weise war sie hier in die Gegend von Randers gekommen. Aber was sollte jetzt aus ihr werden? ...

Er war zu müde, um mehr nachzudenken. Als er ein wenig getrunken hatte, nahm er wieder ein Pulver und bat sie, sich zur Ruhe zu begeben.


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