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X

Jytte hatte sich längst erhoben und war hinausgegangen. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, sich zu verziehen, sobald man anfing, zu politisieren. Das rief so viele traurige Erinnerungen in ihr wach, und zwar nicht allein an der Mutter und Dihmers lange Gespräche in der Dronningens–Tvärgade. Sie umfaßten ihr ganzes Leben bis zurück zu dem Heim ihrer Kindheit auf Samsö, wo sie sich so oft überflüssig und vergessen gefühlt hatte, wenn der Kreisarzt und der Pfarrer oder andre zu Besuch gekommen waren und die Unterhaltung so kampfwarm wurde, daß sogar ihre Mutter sich hinreißen lassen konnte, vor Eifer auf den Tisch zu klopfen.

Sie war auf ihr Zimmer gegangen, um auszupacken.

Zu oberst im Koffer lag ihre Schreibmappe zwischen einigen Noten, und als sie sie öffnete, fiel ein Blatt Papier heraus. Es zeigte sich, daß es ein verworfener Anfang zu einem Brief war, den sie nach ihrer Rückkehr nach Kopenhagen an Torben Dihmer geschrieben hatte, um zu versuchen, sich ihm gegenüber zu rechtfertigen. Sie hatte gefühlt, daß er doch von allen Menschen der einzige war, der sie vielleicht würde verstehen können.

»Ich will versuchen, Ihnen zu schreiben, und Sie sollen jetzt alles wissen, was ich selbst weiß. – Es verhielt sich ja so, daß ich Sie gern hatte und gern mit Ihnen plauderte, noch ehe ich eigentlich erwachsen war. Nicht so sehr, wie später vielleicht, aber doch – –«

Mehr stand da nicht. Sie hatte auf diesem Wege nicht weiterkommen können. Aber hinten auf dem Blatt befanden sich ganz oben ein paar Zeilen, die zu dem Schluß des Briefes gehörten und offenbar aus Versehen dort standen, indem sie nicht gleich bemerkt hatte, daß das Papier schon beschrieben war. Da stand:

»Es ist unheimlich, dazusitzen und einen ganzen Brief über sich selbst zu schreiben, namentlich wenn gerade dieses Selbst einen Tag und Nacht quält.«

Ihre Offenherzigkeit erschreckte sie jetzt. Aber glücklicherweise war der Brief nie abgesandt worden. Erstens war es ihr so unendlich schwer geworden, ihn zu schreiben. Mit diesem Versuch einer Selbsterklärung war es ihr ergangen wie mit vielen früheren: je ernster sie bemüht war, ihr eigenes Inneres zu erforschen, um so dunkler und unwegsamer wurde es. Und dann außerdem traf es sich, daß sie eines Tages einer Freundin begegnete, die eben mit ihrem Mann von einer Reise ins Ausland heimgekehrt war. Die Freundin erzählte, sie habe in Wien Dihmer in Gesellschaft einer großen und sehr schönen Dame getroffen, die Deutsch gesprochen habe. Aus der Beschreibung erkannte sie, daß es die Münchner Künstlerin sein mußte, die er als eine Bekanntschaft aus Wiesbaden erwähnt hatte, und als sie nach Hause kam, veranstaltete sie mit einem Gefühl der Erleichterung eine feierliche Verbrennung ihres zwölf Seiten langen Bekenntnisses.

Und nun sollte sie ihm doch noch einmal wieder begegnen auf diesem vergessenen Brieffetzen! ... Und daß es gerade heute geschehen mußte, wo sie so qualvoll von der Erinnerung an ihn verfolgt gewesen war! Hier auf Storeholt hatten sie sich ja zum erstenmal gesehen, und vielleicht hatten sie auch gerade hier die besten Stunden miteinander verlebt. Schon auf dem Wege vom Bahnhof, als sie vom Wagen aus den ersten Schimmer des weißen Hauses und sein Spiegelbild im »Grünen Wasser« sah, wurde sie von den Erinnerungen überwältigt.

Aber trotzdem! Mochte sie in diesem blinden Spiel um das eigene Glück und das des andern fehlgegriffen haben oder nicht – und die Frage würde sie in alle Ewigkeit nicht ergründen –, so waren nun die Würfel gefallen, es ließ sich nicht ändern. Sie mußte jetzt nur hoffen – auch um ihrer selbst willen –, daß Dihmer recht bald heiraten und eine lebensfrohe Frau nach seinem lieben Favsingholm heimführen würde.

Sie hatte den Brieffetzen in viele Stücke zerrissen, die sie in den Ofen warf. Der Sicherheit halber zündete sie sie auch an.

Im selben Augenblick wurde an ihre Tür gepocht. Eines der Mädchen brachte den Bescheid, es sei eine Dame gekommen, die sie gern begrüßen wolle.

»Eine Dame?«

Jytte begriff es nicht, sie kannte hier ja niemanden.

»Es ist die Doktorsfrau, glaub ich,« erklärte das Mädchen.

»Das muß ein Mißverständnis sein,« dachte Jytte, aber sie versprach, hinunterzukommen.

An einem der vier hohen Fenster im Gartensaal saß Frau Wilhelmine an der einen Seite eines Marmortisches, auf dem eine Blumenschale stand, und ihr gerade gegenüber eine stattliche, ländlich gekleidete Dame, einen roten Schlapphut auf dem Kopf. Ein hübsches kleines Mädchen von sechs bis sieben Jahren stand gegen ihr Kleid gedrückt und sah sich mit scheuer Verwunderung in der großen, vornehmen Stube mit den vergoldeten Möbeln und den gewebten Bildertapeten um.

Sobald Jytte hereinkam, erhob sich die Jägermeisterin. Mit einer Entschuldigung zu der fremden Dame gewandt, weil »häusliche Pflichten« sie riefen, verließ sie das Zimmer unter hörbarem Rascheln ihrer seidenen Unterkleider.

Die fremde Dame erhob sich nun auch und ging Jytte, mit einem breiten Lächeln auf ihrem frischen, sonnengeröteten Gesicht, entgegen. Sie war ungefähr in Jyttes Alter, war nicht schön, hatte aber ein Paar warme, treuherzige Augen.

»Kennst du mich nicht?« fragte sie.

Im selben Augenblick huschte ein Aufleuchten über Jyttes ratlose Züge.

»Meta!... Du bist es!«

Sie ergriff erst ihre beiden Hände; aber als sie die Freundin wirklich erkannt hatte, schlang sie die Arme in einem heftigen Freudenausbruch um sie.

»Du bist es! Du bist es wirklich!... Aber ich verstehe keinen Muck davon. Wie kommst du hierher in diese Gegend?«

»Ich wohne hier!«

»Du wohnst hier?«

»Ja, weißt du das denn nicht? Wir sind im Herbst hierhergezogen. Mein Mann ist Kreisarzt in Jerve geworden. Das ist eine Meile von hier. Ich habe meinen Mann bei dem guten Wetter auf Praxis begleitet. Er hat einen Patienten hier auf dem Hof. Als ich dann hörte, daß du gekommen seiest, mußte ich dich doch begrüßen.«

»Aber Liebste! Und ich, die ich dich für Zeit und Ewigkeit an die jütische Heide gebannt glaubte ... in dem drolligen, kleinen Haus, von dem du mir einmal ein Bild sandtest. Die Kleine da ist also dein Ältestes?«

Jytte kauerte vor dem kleinen Mädchen nieder, das der Mutter Kleid nicht losgelassen hatte.

»Und du hast vier von der Art?«

»Ja!«

Sie nahm das verdutzte Kind in die Arme und küßte es auf beide Wangen.

»Dann heißt du Olga, nicht wahr? ... Nein, warte mal, du bist Hedwig! ... Du brauchst nicht bange vor mir zu sein. Ich freue mich ja nur, daß ich dich endlich einmal zu sehen bekomme! ... Aber komm, Meta! Wir wollen uns setzen! Ich habe dich ja nach hundert Dingen zu fragen.«

Jytte beugte sich über den Marmortisch vor und betrachtete die Freundin mit beständig gleich frischem Erstaunen. War diese unbefangen lächelnde Matrone wirklich Meta Haagensen, die alte Schulgefährtin aus dem »Institut«, die Letzte in der Klasse, Meta-Schlafmütze, die sie alle wegen ihres häßlichen Mundes bemitleidet hatten? Wie war das nur einmal zugegangen? Ja, der Mund war freilich noch derselbe grobgeschnittene Spalt. Und doch sah sie ja fast hübsch aus!

»Sei nicht böse, Meta ... aber ich habe den Namen deines Mannes nie behalten können. Wie heißt du doch nur?«

»Gaardbo.«

»Gaardbo? Warte mal, so hieß ja auch der Pfarrer, der hier war.«

»Freilich, er ist mein Schwager. Hauptsächlich, um in seine Nähe zu kommen, hat sich mein Mann um die Anstellung hier beworben. Die beiden Brüder haben nie recht ohne einander fertig werden können. Sie sind Zwillinge, und nun waren sie so lange voneinander getrennt gewesen.«

»Was du sagst! Verhält es sich so? Dann hat dein Mann wohl Ähnlichkeit mit dem Pfarrer?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber nun kannst du ja selbst sehen. Er versprach, mich abzuholen.«

Sie saßen eine Weile da und plauderten über gemeinsame Bekannte, aber Jyttes Aufmerksamkeit verlor sich mehr und mehr. Sie war grübelnd in Anspruch genommen von dem kleinen Mädchen, das sich beständig hinter den Stuhl der Mutter verkroch.

Sie entsann sich des Tages, als die Nachricht von der Geburt dieses Kindes von Jylland her zu ihr gekommen war, und des Eindrucks, den das Ereignis auf sie gemacht hatte. Von allen ihren gleichaltrigen Freundinnen und Schulgefährtinnen war Meta die erste, die Mutter wurde, und sie hatte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal begriffen, daß sich kein Glück der Welt mit dem vergleichen läßt, ein Kind von dem Manne zu bekommen, den man liebt. Und nun hatte Meta vier Kinder und war vielleicht die einzige von allen Freundinnen, die glücklich geworden, weil sie die einzige war, die sich dem Leben mit geschlossenen Augen hingegeben hatte.

»Weißt du, Meta, ich hätte dich fast gar nicht wiedererkannt. Du glaubst vielleicht, daß ich das sage, um unangenehm zu sein. Aber ganz im Gegenteil.«

»Du findest doch sicher, daß ich schrecklich dick geworden bin. Ich bin wirklich oft ganz entsetzt über mich selbst. Aber es geniert mich übrigens gar nicht. Ich bin neulich zwei Meilen gegangen, ohne im geringsten zu ermüden. Dir hingegen kann man keine Spur von Veränderung ansehen. Du hast dich wirklich gut gehalten. Als du vorhin zur Tür hereinkamst, war es genau so, wie ich dich zuletzt in der Dronningens-Tvärgade sah.«

Jytte lehnte sich in den Stuhl zurück und sah zum Fenster hinaus.

»Ja, ich bin die ewig Unveränderliche!« sagte sie in einem Ton, den sie leicht und scherzend zu machen suchte. »Bei mir ist kein Schatten von Wandel – wie geschrieben steht.«

»Aber nun hast du dich doch verlobt,« sagte die Freundin mit einem vertraulichen Kopfnicken.

Jytte sah mit großen Augen zu ihr hinüber. Sie wurde ein wenig bleich.

»Wie kommst du nur darauf?«

»Ist es denn nicht wahr? ... Ja, dann mußt du wirklich entschuldigen. Es wurde mir als etwas ganz Bestimmtes erzählt. – Es tut mir schrecklich leid, daß ich dies gesagt habe, Jytte. Du mußt mir nicht böse sein.«

Jytte erwiderte anfänglich nichts. Die Entschuldigungen der Freundin machten das Unglück nur noch schlimmer. Sie hatte gehofft, hier eine Freistätte vor den verdutzten Mienen zu finden, die sie in Kopenhagen verfolgt hatten. Aber das Gerücht von ihrer Begegnung mit Torben war also auch bis hierher gelangt. Ja, ja! – Sie wandte das Gesicht ab und zuckte die Achseln.

»Ich bedaure sehr, daß ich beständig die Erwartungen meiner Freunde enttäuschen muß. Ich muß ihnen ja offenbar eine Hochzeit schuldig sein!«

Im selben Augenblick tat sich die Tür zum Herrenzimmer auf. Der Jägermeister kam mit dem Arzt herein, der zu einem der Küchenmädchen gerufen war. Der Jägermeister erschien in seiner Laboratoriumstracht, einem weißen Kittel und einem schwarzen Samtbarett, und war mitten in einem Vortrag über seine Pflanzenuntersuchungen. Es war sein Ehrgeiz, auch als Gelehrter mit seinem berühmten Bruder zu wetteifern, und da er der ältere war, fühlte er sich ebenso sehr wie dieser berufen, die großen Überlieferungen der Familie aufrechtzuerhalten und eine Vordergrundfigur im Lande zu werden.

Doktor Gaardbo war ein breitschultriger Mann von mittlerer Größe mit dunklem Bart und gelblicher Gesichtsfarbe. Jytte fühlte sich furchtbar enttäuscht durch ihn. Er glich seinem Bruder, dem Pfarrer, nicht im geringsten, die Augen ausgenommen. Und dann hatte er außerdem einen Klumpfuß, was sie übrigens sehr wohl gewußt hatte. Auch in seinem Wesen war etwas, das sie abstieß. Er begrüßte sie nachlässig und legte dem Vetter gegenüber eine ganz unverhohlene Geringschätzung an den Tag.

Auf dem Wege an den Wagen schob Meta ihren Arm in den Jyttes. Diese verstand sehr wohl, daß sie versuchen wollte, ihr unglückseliges Verplappern, vielleicht auch die Unliebenswürdigkeit des Mannes wieder gutzumachen, aber das entfremdete sie den beiden nur noch mehr. Als die Freundin sie bat, doch recht bald zu kommen und sie zu besuchen, antwortete sie ja, im stillen aber dachte sie, daß daraus wohl nichts werden würde.

Unterhalb der großen steinernen Treppe stand ein kleiner bestaubter Wagen und schnurrte. Es war nicht viel mehr als ein großer Holzschuh auf drei Rädern.

Jytte blieb oben an der Treppe stehen. Arm in Arm mit dem Vetter, bis das Doktorpaar sich auf dem Wagen zurechtgesetzt hatte und davonsauste.

»Kennst du Doktor Gaardbo näher?« fragte sie, als sie wieder hineingingen. »Ist er ein tüchtiger Arzt?«

»Er ist überhaupt kein Arzt. Er ist ein Quacksalber, der die Leute ohne Medizin kurieren will. Der Apotheker ist wütend auf ihn. Er will ihn verklagen, sagt er. Auch unter seinen Kollegen ist er nicht angesehen. Das weiß ich von Asmus. Sie nennen ihn den Seminaristen.«

»Er ist ja ein Bruder eures Pfarrers.«

»Ja, und sie sind beide gleich bäurisch eingebildet. Sie sind vornehm – weißt du. Sie halten sich für zu gut, um an der Geselligkeit in der Umgegend teilzunehmen. Sie wollen regieren und herrschen. Aber der Sache wird hoffentlich bald ein Ende gemacht!«


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