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Drittes Buch.
Storeholt

I

In der Nacht zwischen eins und drei hatten Jägermeister Hagen und sein Bruder, der Professor, in dem Zimmer des Jägermeisters eine sehr ernste Unterredung bei geschlossenen Türen, während alle andern im Hause schliefen. Es war hierbei zu einem sehr unerquicklichen Auftritt gekommen. Der Jägermeister, der einen aufbrausenden Sinn hatte, fühlte sich gekränkt, weil der Bruder seine Bücher zu sehen verlangte. Er sprang auf, schlug auf den Tisch und erklärte, wenn nicht einmal seine eigene Familie Vertrauen zu ihm habe, wolle er lieber dem Ganzen ein Ende machen und sich eine Kugel durch den Kopf schießen.

Es kam schließlich doch zu einer Verständigung; aber die Vögel waren schon wach, und es war fast heller, lichter Tag, als die Brüder sich trennten.

Jetzt schien die Sonne friedlich in das Zimmer, wo ein bläulicher Tabaknebel noch in der Luft schwebte, wie der Pulverrauch über einem Walplatz. Die Tür zu den Wohnzimmern stand offen, und hier fiel die Morgensonne auch in breiten Streifen herein.

Wenn alle Türen so geöffnet waren, machte die lange Flucht der Zimmer mit ihren kostbaren Möbeln, alten Porzellanen und großen Gemälden einen festlichen und außerordentlich wohlhabenden Eindruck. Die meisten Möbel und alle Kunstschätze stammten von dem Urgroßvater, dem alten Konferenzrat, der sie von seinen vielen Reisen ringsumher in Europa mitgebracht hatte. Er war Direktor des Oresundzolls gewesen, zu einer Zeit, wo dieser gleich einer märchenhaften Mühle Geld aus dem Grunde des Meeres für die Staatskasse und für verschiedene Privattaschen mahlte. Er hatte sich hier auf Storeholt eine Sommerwohnung eingerichtet, und noch ging in der Gegend die Sage von seinen fürstlichen Reisen in vierspännigem Wagen nach und von Kopenhagen oder Hamburg. Um schnell vorwärts zu kommen, wechselte er jede zweite Stunde die Pferde und ließ sich am Abend von Vorreitern mit Fackeln führen.

Unter seinem Enkel – dem Vater des Professors und des Jägermeisters – erhielt der Kreditverein sein erstes Pfand in Storeholt, und nachdem der Jägermeister das Gut übernommen hatte, war das märchenhafte Gold mit reißender Fahrt in die Geldmühle des Teufels zurückgerollt.

Jedoch noch einmal war der Termin glücklich umschifft. Der Jägermeister schlief ruhig wie ein Kind bis tief in den Vormittag hinein, ohne sich von der Sonne oder von den fetten fünenschen Fliegen, geschweige denn von der Arbeitsglocke drüben auf dem Wirtschaftshof wecken zu lassen. Zum ersten Frühstück erschien auch der Professor nicht. Die Damen des Hauses tranken den Tee allein.

Später gingen Frau Berta und Jytte zusammen ins Dorf, um sich nach einer alten Frau umzusehen, die vor mehr als vierzig Jahren auf Storeholt gedient hatte. Das pflegte Frau Bertas erster Besuch zu sein, wenn sie sich in dem allen Heim aufhielt.

Als sie sich dem kleinen Hause näherte, in dem die Frau wohnte, sahen sie einen großen Mann von dort herauskommen. Es war Pastor Gaardbo. Jytte erkannte ihn sofort, Frau Berta dahingegen erst, als der Pfarrer an ihnen vorüberkam und grüßte.

»Die alte Bodil ist doch nicht krank?« fragte sie und blieb einen Augenblick stehen.

»Nein – es geht ihr gut. Sie wird sich gewiß über Ihren Besuch freuen.«

Der Pfarrer lüftete abermals den Hut ein wenig, und die Damen gingen in das Haus.

In einem Lehnstuhl am Ofen saß die Alte, die schon ziemlich zu Jahren gewesen, als Frau Berta noch ein Kind war. Jetzt zählte sie fast neunzig. Auf ihrem Schoß lag ein kleiner gehäkelter Muff, in dem sie ihre Hände wärmte.

Ihre klugen Augen wanderten eine Weile verständnislos und ein wenig eingeschüchtert zwischen Mutter und Tochter hin und her. Die Lippen bewegten sich zitternd.

»Sie kennen meine Tochter doch noch,« rief ihr Frau Berta ins Ohr. »Sie hat Sie oft besucht. Das wissen Sie doch noch?«

»Ach so – das ist wohl Fräulein Berta?«

»Nein, Berta, das bin ich. Und das ist meine Tochter. Jytte heißt sie. Nun wissen Sie wohl Bescheid, nicht wahr?«

»Ja ... Aber den Herrn Konferenzrat, den hat der liebe Gott zu sich genommen. Er hat ein schönes Begräbnis bekommen.«

»Freilich, liebe Bodil! Aber das ist jetzt sechzig Jahre her. Das war vor meiner Zeit. – Aber lassen Sie mich jetzt einmal hören, wie es Ihnen geht. Sie haben wohl Besuch vom Pfarrer gehabt?«

Die Alte nickte und sah nach einem Glas mit frischen Feldblumen hinüber, das auf dem Tische stand.

»Die hat er mir gebracht,« sagte sie und erzählte dann so verständlich, wie es ihre lahme Zunge erlaubte, daß Pastor Gaardbo jeden Tag ein wenig bei ihr einsehe und immer Blumen mitbrächte, damit sie auch merken sollte, daß Sommer sei.

»Ja, er ist sicher ein guter Mann!« schrie Frau Berta. »Es sieht so aus!«

»Pastor Melby – der war auch ein guter Mann. Der ist nun tot. Er hat mich am Hochzeitstag meiner Eltern eingesegnet. Das war den siebenten April.«

Jytte hatte einen erstaunten Blick auf das Blumenglas geworfen. Sie war sehr verwundert über das, was sie hier hörte. Eine solche Aufopferung einer armen alten Person gegenüber entsprach nicht den Vorstellungen, die sie sich von Geistlichen gemacht hatte, nach ihrer Kenntnis von den Exemplaren der Kaste, denen sie im Kopenhagener geselligen Leben begegnet war.

Sie mußte an ihren alten Freund, Professor Ole Knudsen, denken, der so erbittert auf die Geistlichkeit gewesen war. Er war vor mehreren Jahren gestorben, aber neulich hatte ihr geträumt, sie sei ihm in der Bredgade begegnet. Er kam auf seine vorsichtige Weise an der Häuserreihe entlang gegangen und mußte jeden Augenblick den feinen grauen Denkerkopf entblößen, weil fast jeder zweite Mensch ihn ehrerbietig grüßte. Sie hatte in letzter Zeit wieder so oft an ihn gedacht und häufig auch von ihm geträumt, und sie hatte sich selbst gefragt, ob nicht dieser liebenswürdige alte Herr im Grunde ihre einzige Liebe gewesen sei, der einzige, für den sie sich vielleicht hätte aufopfern können. – Oder war auch das eine Einbildung?

Jetzt hörte sie die Mutter Lebewohl sagen. Kurz darauf befanden sie sich auf dem Heimwege.

Bei der Rückkehr nach Storeholt trafen sie den Professor im Garten. Er stand unten an der Verandatreppe und fütterte eine Schar Spatzen. Jytte ging sofort auf ihr Zimmer, Frau Berta dahingegen sagte zu ihm: »Hast du Zeit, dann möchte ich gern mit dir reden. Aber wir wollen uns ein wenig von den vielen geöffneten Fenstern und Türen entfernen.« Sie gingen zusammen durch den Garten, bis sie eine Bank erreichten, die im Garten stand.

»Sage mir ganz offen, Asmus, was geht hier vor sich? Diese eilige Reise kannst du doch nicht zu deinem Vergnügen gemacht haben!«

»Nein, – das mögen die Götter wissen! Aber ich möchte am liebsten nicht darüber reden. Laß mich dir nur sagen, Tante, daß, wenn John den Versuch machen sollte, Geld von dir zu leihen, du absolut nein sagen mußt.«

»Steht es so schlecht?«

»Ich glaube, wir tun am besten, wenn wir uns auf das Ärgste gefaßt machen. Was du und andere von der Familie hier im Gute stehen habt, ist ja glücklicherweise gesichert. Aber alle andern Hypotheken, gar nicht zu reden von den losen Schulden, das ist meiner Ansicht nach rettungslos verloren – verklackert!«

»Aber wie kann denn John hier so hoffnungsvoll umhergehen? Und nun will er sich obendrein als Politiker versuchen. Ich glaube, in der Beziehung erwartet er eine ganze Menge von Enslevs Herkommen.«

»John ist leider nur dem Körper nach ein erwachsener Mann. Es ergeht ihm selbst genau so wie seiner Stimme. Er ist nie über das Übergangsalter hinausgekommen. Ich glaube, wir müssen darauf vorbereitet sein, Storeholt eines schönen Tages unter den Hammer kommen zu sehen. Das ist ein häßliches Wort. Aber wir können ja ebensogut, der Wahrheit in die Augen sehen.«

»Aber sein Schwiegervater? Der Mann kann es doch nicht mit ansehen, daß seine eigene Tochter und sein Schwiegersohn von Haus und Hof gejagt werden!«

»Das wird er doch ganz sicher tun. Daß er auf die Vorstellungen meines Rechtsanwalts hin John diesmal über den Termin hinweggeholfen hat, ist offenbar nur geschehen, um Zeit zu gewinnen, damit er sich mit den übrigen Halsabschneidern einigen kann, mit denen John sich eingelassen hat. Er soll, wie man sagt, nicht das geringste Geheimnis aus seinen Plänen machen. Er hofft, sich hier sehr bald ein ›Sommerpalais‹ einrichten zu können. Er soll sogar schon zu Leuten über die Veränderungen gesprochen haben, die er hier einzuführen gedenkt.«

»Ach, das ist doch abscheulich! Ich will dir sagen, Asmus, hätte ich das Geringste von diesem allem gewußt –«

»Ja, es ist nicht ergötzlich, daran zu denken, daß dieser Tölpel hier umhergehen und sich als Gutsherr breitmachen und Storeholt seinen ›Sitz‹ nennen soll.«

»Ach, es ist empörend! Was soll denn nur einmal aus John werden? Ich will ihn nicht entschuldigen. Er hat seine großen, großen Fehler. Aber ich glaube doch, daß etwas mehr aus ihm hätte werden können, wenn er eine andre Frau bekommen hätte.«

»Dasselbe gilt wohl eigentlich auch von Wilhelmine, wenn sie einen andern Mann bekommen hätte,« sagte Asmus. »Sie hätte einen großen Pferdehändler heiraten und jedes zweite Jahr ein Kind kriegen sollen, und vielleicht auch hin und wieder mal ein wenig mit der Reitpeitsche. Das hab ich John übrigens gesagt.«

»Sage mir doch, Asmus – um von etwas anderm zu reden hast du kürzlich von Dihmer gehört?«

»Ich bekomme von Zeit zu Zeit eine Ansichtskarte von ihm mit ein paar Worten. Das ist das Ganze. Das letztemal war sie aus Indien. Jetzt ist er auf dem Wege nach Amerika. Er führt noch immer ein sonderbar friedloses Dasein. Ich kann nicht klug aus ihm werden. Die große Gesellschaftsreise – du weißt ja – brach er schnell ab, aber ich kenne den Grund nicht. Nun streift er auf eigene Faust umher, – scheinbar ohne dadurch befriedigt zu sein.«

In diesem Augenblick ertönte der Gong, der sie zum Frühstück rief.


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