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V

Wiederum verging ein Jahrzehnt, und das alte Ehepaar lebte jetzt ganz in dem Glanz des wachsenden Ansehens ihrer Kinder. Schmied Sören war von Anfang an sehr unzufrieden mit Tyges Berufswahl gewesen. Er hatte davon geträumt, seinen Sohn in Beamtenuniform mit Dreispitz und vergoldetem Kragen zu sehen. Tyge selbst hatte ursprünglich gedacht, daß er als Dichter Waffendienst in dem großen Befreiungskampf der Zeit tun wolle. Die ersten Male, daß er der Öffentlichkeit seinen Namen vorstellte, stand er unter einigen satirischen Versen.

Er hatte das einsame und freudlose Leben des armen Bauernstudenten in der Hauptstadt geführt. Sein körperliches Gebrechen hatte ihn noch mehr vereinsamt. In dieser Verlassenheit hatten alle Eindrücke von Menschen und sozialen Verhältnissen seinen leidenschaftlichen Sinn überwältigt. Hier in dem großen, sorglos dahinlebenden Gewimmel wurde er sich seiner selbst ganz bewußt als Sohn des Volkes, als Kind der niedren Stände, dem der erstickte Schrei einer jahrhundertelangen ungerächten Unterdrückung in der Seele klang.

Eines Nachts bei dem Sonnabendgelage im Studentenverein sprang er auf seinen Stuhl und hielt eine politische Rede, die in der fröhlichen Punschgemütlichkeit wie ein Pistolenschuß wirkte und Panik hervorrief. Ein politischinteressierter Student war in jenen Tagen eine Seltenheit. Ein Sohn der Athene, der in dem akademischen Elysium selbst als revolutionärer Agitator in volkstümlichem Stil auftrat, war etwas ganz Unerhörtes; man empfand es wie eine Entheiligung. Man schrie und brüllte, um ihn zu übertäuben. Schließlich riß man ihn vom Stuhl herunter, ohne ihn zu Ende zu hören. Dies gestaltete sich zu einem Vorfall, der im ganzen Lande besprochen wurde.

Bis zu diesem Tage hatte es so aussehen können, als wenn Tyge bestimmt sei, das Schicksal seines Vaters zu teilen und seine großen Fähigkeiten in einem kümmerlichen Kampf um das tägliche Brot aufzureiben. Er hatte sich schon als Student verheiratet. In einer Periode der Niedergeschlagenheit und Selbstverzagtheit hatte er sich eines Tages seinem zwölf Jahre älteren Pensionatsfräulein antrauen lassen, die ihn während einer Krankheit gepflegt hatte und der er außerdem Geld schuldete. Jetzt flog auf einmal sein Name über das ganze Land als eines der Kampfsignale, die einen neuen Tag für die Jugend Dänemarks verkündeten. –

Zu jener Zeit saß sein ältester Bruder Kresten in einer der Seitengassen von Kolding mit seinem kleinen Uhrmachergeschäft als strebsamer Gewerbetreibender und glücklicher Familienvater, in dessen Blut freilich einige gallenbittere Tropfen geträufelt waren als Erbe der Drangsalstage des Vaters. Er hatte Tyge lange gegrollt, weil dessen Universitätslaufbahn seiner alten Lehrlingsprämie, die einstmals ihn zu der großen Hoffnung der Familie gemacht, allen Glanz geraubt hatte. Als er den Namen des Bruders einigemal in den Zeitungen gesehen hatte, befiel ihn eine krankhafte Unruhe, und er verbrachte mehrere schlaflose Nächte.

In der kleinen Stadt waren die Gemüter in jenen Tagen von den Plänen zu einer Erweiterung des Friedhofes erfüllt, und eines Abends las man in der Zeitung eine eingesandte Abhandlung über die Sache, »Kresten Sörensen, Uhrmacher« unterzeichnet. Der Artikel erregte Aufsehen, weil er ziemlich unvorbehalten den Standpunkt des Bürgermeisters und andrer hervorragender Stadtverordneten kritisierte. Der bisher unbekannte Bewohner der Snadregade war eine Zeitlang die meistbesprochene Persönlichkeit der Stadt. Leute, die er gar nicht kannte, suchten ihn in seinem Laden auf, um ihm für sein mutiges Vorgehen zu danken. Von nun an zweifelte er nicht mehr an seiner Berufung, sondern setzte vertrauensvoll seine reformatorische Tätigkeit fort. Bei einer Bürgerversammlung in der Friedhofsangelegenheit ergriff er das Wort und gewann abermals die Volksstimmung für sich, vorauf die Machthaber der Stadt es am ratsamsten fanden, dem gefährlichen Manne Zugeständnisse zu machen.

Lange bevor sich Tyge einen Platz im Folkething erkämpft hatte, saß Kresten im Koldinger Stadtrat, war Mitglied der angesehenen Leichenbrüderzunft und zweiter Vorsitzender des Handwerkervereins. Gleichzeitig blühte sein Geschäft, so daß er sich ein Grundstück in der Hauptstraße kaufen konnte, wo er einen Laden mit einem Kontor im Erdgeschoß und eine schöne Wohnung darüber einrichtete. –

Ein paar Meilen von der Stadt entfernt, in einem kleinen Dorfe draußen an der See, wohnte der Bruder Jörgen – der Schullehrer. Er war früh Witwer geworden und lebte einsam mit seinen beiden Kindern, zwei blauäugigen Söhnen, die Zwillinge waren.

Der breitbrüstige Mann mit dem wildwachsenden Bart machte einen schlaffen Eindruck, wenn man nicht seine Augen sah, die voller Sorge, schwer von Selbstprüfung und vielem Grübeln waren. Er war bei aller Einfalt ein geistig aufgeweckter Mann, der derselben politischen Partei angehörte wie Tyge und selbst einmal tiefe Holger Danske-Träume von Kampfestat und Ruhm geträumt hatte.

Ziemlich regelmäßig jeden zweiten Monat kam er einen Tag nach Kolding herein, um Kresten und seiner Familie einen Besuch zu machen, und er nahm dann stets seine beiden Jungen mit, die er nicht gern ohne Aufsicht ließ.

Sie pflegten des Vormittags gegen elf Uhr in die Stadt zu kommen, und nach dem Mittagessen gingen die Brüder in das Kontor hinab, um ungezwungener sprechen zu können. Auch hierher nahm der Schullehrer seine Zwillinge mit aus Rücksicht auf die Schwägerin, die nach dem Einzug in das große Haus in nervöser Angst um ihre neuen Möbel und schönen Teppiche lebte.

Die Jungen waren ein paar frische und schöne Buben, die – jeder in seiner Ecke – still dasaßen und einander hin und wieder verstohlen zulächelten. Die hellblauen Augen waren eine Seltenheit in der Familie. Es waren die Augen der Mutter. Die Familienschwäche in den Knöcheln hatte dahingegen den einen der Jungen in Gestalt eines häßlichen Klumpfußes heimgesucht.

Wie die meisten im öffentlichen Leben stehenden Personen, sprach der Uhr- und Instrumentenmacher mit Vorliebe über sich selbst und seine Verdienste um das allgemeine Wohl. Aber früher oder später gelang es Schullehrer Jörgen in der Regel, die Unterhaltung auf Tyge und dessen Auftreten in der Presse oder auf der Rednertribüne hinzulenken. Das mußte mit einiger Vorsicht geschehen. Kresten war nicht immer geneigt, sich auf dies Thema einzulassen. Er verheimlichte nie – auch Fremden gegenüber nicht –, daß er seinen Bruder als einen Abenteurer betrachtete und »um seines Gewissens willen« am liebsten über ihn schwieg. Nur wenn sich Tyge zufällig gerade in den Tagen eine Blöße in einem Zeitungsartikel gegeben oder eine Niederlage auf einer Wahltribüne erlitten hatte, konnte er mir einem beklagenden Kopfschütteln einmal über das andere wiederholen, daß »dies wirklich eine sehr fatale Geschichte für den guten Tyge sei... eine wirklich dumme und fatale Geschichte«.

Schullehrer Jörgens Worte waren milder. Sie kamen zögernd aus dem großen Bart hervor, wurden eines nach dem andern in der aus einer Tabakswolke gebildeten Windel zur Welt gebracht. Er und Tyge waren mehr gleichalterig; sie hatten als Kinder in demselben Bett geschlafen und waren immer gute Kameraden gewesen. Und dann waren sie ja auch politische Gesinnungsgenossen. In Wirklichkeit bewunderte er seinen Bruder, tat es aber mit schlechtem Gewissen und unter mancherlei Anfechtungen.

Seine Sorgen galten Tyges Privatleben, über das so viele beunruhigende Gerüchte im Umlauf waren. Namentlich ängstigte er sich bei dem Gedanken, daß der Bruder Christus sein Herz verschlossen haben sollte. Tyge selbst äußerte sich nie öffentlich über dergleichen Dinge. Aber er war doch mit dafür verantwortlich, daß die Partei einen Bund mit reichen Börsenjuden und Freidenkern geschlossen hatte, um ihre Presse zu stützen. War da nicht auch etwas in seinem ganzen eigenmächtigen Treiben, das gegen ihn zeugte? Aber dann mußte man ja in seinem eigenen Interesse hoffen und beten, daß des Herrn starke Hand ihn zurückhalten und ihn in den Staub niederschlagen würde, so daß er Demut lernen konnte.

Gar schnell geendet ist des Lebens Lauf,
Der Hölle Grauen höret nimmer auf.


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