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VII

Schmied Sören und Anne-Mette haben nun gar manches Jahr nebeneinander in der Enslever Kirchhofserde geruht, und was sie hier oben an Gutem und Bösem hinterließen, das wächst schon weiter bei einem neuen, einem dritten Geschlecht, das ihr Leben nur als eine ausgeschmückte Familiensage kennt. Von ihren Söhnen lebt jetzt nur noch Tyge. Das Mitglied des Stadtrats in Kolding wie auch Schullehrer Jörgen sind zu der großen Ruhe eingegangen. Aber auch Tyge ist gezeichnet. Das blasse Gesicht ist bleifarben, das dichte Haar und der Bart umgeben den runden Kopf schimmernd wie die feinste, weiße Watte. Nur die Brauen sind noch dunkel.

In den Zeitungen wird der beiden Alten regelmäßig jedes Mal gedacht, wenn Tyge Enslevs Lebenslauf von neuem erzählt wird. Auch ihre Bilder sieht man zuweilen in den Blättern. Von hier gingen sie in die Weltpresse über an jenem historischen Julitage zu Anfang des Jahrhunderts, als Tyge in dem ersten Volksministerium Minister wurde.

An diesem Tage konnte Schullehrer Jörgen sich nicht zu Hause halten vor Unruhe und Spannung. Man erwartete die Ministerernennung im Laufe des Vormittags, und gleich am Morgen begab er sich nach Kolding, um den Neuigkeitsquellen näher zu sein. Aus einzelnen Häusern waren schon Flaggen herausgesteckt, als er zwischen zwei blauäugigen Studenten mit weißen Mützen – seinen Söhnen – vom Bahnhof durch die Hauptstraße gegangen kam.

Er traf seinen Bruder und die Schwägerin in der Wohnstube der Familie und erhielt einen sehr kühlen Empfang von beiden.

Der ehemalige Uhrmacher, der kürzlich von der verabschiedeten Regierung zum Kanzleirat ernannt worden war, den die Bevölkerung außerdem anläßlich eines Jubiläums durch Schenkung einer silbernen Weinkanne geehrt, hatte sich eine goldene Stangenbrille und ein Käppchen zugelegt. Beides verlieh dem blankrasierten Gesicht ein prälatenhaftes Aussehen was auch ausdrücklich beabsichtigt war. Seit es ihm begegnet war, daß er Tyge von seinen eigenen politischen Gesinnungsgenossen mit teilweiser Anerkennung hatte nennen hören, hatte er der Welt entsagt und sich einer Gemeinschaft von Erleuchteten angeschlossen, bei denen aller Lärm des Tages und namentlich jegliche Unterhaltung über Politik verdammt war.

Er empfing denn auch den Bruder mit einer Bemerkung, die im voraus jegliches Gespräch über das größte Ereignis des Tages abwies.

»Du kennst meine Anschauungen,« sagte er in weltfremdem Ton, »da hat es keinen Zweck, weiter darüber zu reden.«

Unten auf der Straße herrschte ein ungewöhnliches Leben. Extrablätter mit der Ministerliste wurden um die Mittagszeit in der Stadt verteilt. Man hörte die Leute Tyges Namen sich über die Straße zurufen.

Der Kanzleirat schien ganz unberührt von dem allem. Bei Tische unterhielt er seine Neffen mit einigen Erinnerungen aus den Lehrjahren in seiner Jugendzeit, die sie bei dieser Gelegenheit nicht zum erstenmal hörten. Sein eigener Sohn, der jetzt Leiter des Geschäfts war, ahmte anfänglich seine erhabene Gleichgültigkeit nach wie ein Spiegelbild, auf die Dauer konnte er sich jedoch nicht bezwingen, den Giftzahn zu entblößen. Mit Augen, die vor Befriedigung leuchteten, erzählte er, daß auch ein Verwandter der versoffenen Mangelfrau Sidse Minister geworden sein sollte.

Die junge Tochter des Hauses, Rosalie, begriff nicht die Ursache zu der sonderbaren Stimmung, die bei Tische herrschte. Sie war eine hübsche Brünette mit einem freimütigen Wesen, das den Eltern und namentlich ihrem Bruder ein täglicher Kummer war. Sie hatte ihren Kopenhagener Oheim nie gesehen, und es war ihr deswegen – wie sie sich ausdrückte – völlig schnuppe, daß er jetzt Minister geworden war. Sie trugen ja nicht einmal denselben Namen.

Ihr erging es in dieser Hinsicht genau so wie ihren beiden Studentenvettern, in deren Seelen die Drachensaat von Schmied Sörens Drangsalstagen keinen Brutplatz gefunden hatte. Alle drei waren sie noch glücklich unwissend in bezug auf die Giftstoffe des Gemüts, die ihren Vätern das Dasein verdunkelt hatten.

Nach Tische gingen die beiden alten Brüder ihren gewohnten Gang ins Kontor hinab, während die Studenten und Ihre Base einen Spaziergang machten.

Schullehrer Jörgen setzte sich mit seiner großen hölzernen Pfeife auf seinen Stammplatz im Sofa. Er saß dort, schwer in sich selbst versunken, und paffte aus der Pfeife, ohne zu bemerken, daß sie ausgegangen war. Das Wunderliche bei dem Großen, das sich zugetragen hatte, war für ihn, daß er es in Gedanken alles schon vor langer, langer Zeit erlebt hatte. Seit seiner Jugend hatte er begeistert und glücklich von diesem Tage des Sieges geträumt, hatte sich sowohl die flaggengeschmückte Stadt wie auch das Leben in den Straßen und die vielen frohen Gesichter vorgestellt. Nur eines war anders: er selbst, seine eigene Freude war in Unruhe und Sorge verwandelt bei dem Gedanken an Tyge.

Trotz vielen Grübelns und angestrengten Nachtwachens an seinem Betpult und bei seiner Bibel konnte er nicht fassen, daß der Allsehende, für den die tiefsten Abgründe des Herzens sind wie der hellste Tag, einen Menschen wie Tyge zum Führer eines christlichen Volkes erwählt hatte in seinem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit – einen Abtrünnigen, einen Wollüstling. Um der dänischen Gemeinde willen und Tyges eigener Errettung halber hatte er noch in dieser Nacht Gott angerufen, daß er das Ärgernis doch abwenden möge.

Plötzlich vernahm man Musik von der Straße her. Ein demokratischer Wahlverein zog in Prozession durch die Stadt auf dem Wege zu dem bürgerlichen Versammlungshaus, wo der Sieg mit einem Fest gefriert werden sollte.

Schullehrer Jörgen wollte sich erheben, um an das Fenster zu treten; als er aber sah, daß sein Bruder sich nicht rührte, blieb er auch sitzen. Der Zug kam näher. Der Messinglärm tönte gegen die Fensterscheiben. Ein Vaterlandslied wurde gespielt, und viele aus der Menge sangen begeistert mit.

»Die Leute sind wohl alle betrunken,« bemerkte der Kanzleirat, der über einige Papiere gebeugt an seinem Schreibtisch saß. Als der Zug vor dem Hause ankam, rief einer der Teilnehmer: »Tyge Enslev lebe hoch!«

Und die ganze Volksmenge antwortete mit einem schallenden Hurraruf.

Schullehrer Jörgen schielte verstohlen nach seinem Bruder hinüber. Aber beim Anblick von dessen weißem, verzerrtem Gesicht senkte er beschämt den Blick.

»Sehe ich selbst so aus?« dachte er.

Der Volkszug zog vorüber. Die Musik verklang. Da vernahm man Stimmen draußen auf dem Gang, und es wurde an die Tür gepocht. Es waren die beiden Studenten, die einer Verabredung mit dem Vater gemäß hereinkamen, um ihn zum Bahnhof abzuholen.

Schullehrer Jörgens große, schwere Ochsenaugen strömten über beim Anblick der frischen, unberührten Jugend der Söhne. Und mit bebenden Lippen betete er im stillen: »Herr! Bewahre ihre Herzen rein!«


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