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Erstes Buch.
Torben und Jytte

I

Es waren jetzt drei Jahre vergangen seit jenem Septembertage, an dem der junge Gutsbesitzer Torben Dihmer aus einem Badeort im Auslande zurückkehrte, so übel zugerichtet von einem Herzleiden, daß er nicht allein aus dem Wagen herauskommen konnte. Zwei Männer mußten ihn in die Schlafstube hinaufführen, und auf dem Wege dorthin verdrehte er die Augen derartig im Kopf, daß man dachte, er sei im selben Augenblick tot. Als er aber aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er sich mit seinem guten Lächeln um und sagte:

»So bin ich denn also doch heimgekommen nach Favsingholm!«

Das alte, ostjütische Schloß lag hinter einer zugewachsenen Bucht des Fjords und spiegelte seine roten Mauern und sein turmloses Ziegeldach in einem Sumpf, den Überresten eines Burggrabens. Seit Torben Dihmers Vater verunglückte, war nur der Pachthof bewohnt gewesen. Der Sohn war damals ein zwölfjähriger mutterloser Knabe, und da er auch keine Geschwister hatte, war die Häuslichkeit aufgelöst worden. Er wurde nach Herlufsholm geschickt, um dort erzogen zu werden, und während dieser vielen Jahre hatten Wind und Feuchtigkeit die Herren auf dem Schloß gespielt, im Verein mit einer zahlreichen Dienerschaft von Ratten und Mäusen.

Torben Dihmer gehörte einer alten lebenskräftigen Gutsbesitzerfamilie an und war während des Heranwachsens selbst stark gewesen wie ein junger Stier. Sein Großvater väterlicherseits war der bekannte Kammerrat Klavs Dihmer, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts der König der Kronjüten genannt wurde: ein Eichenklotz von vierzehn Liespfund. Er fuhr in einem gewöhnlichen steifen Bauernwagen nach Randers, doch mit einem Gespann von zwei prächtigen schwarzbraunen Hengsten, den berühmten Oppenheimern, die sehr wohl ein Bronzedenkmal auf dem Marktplatz der Stadt verdient hätten. Durch sie ward in jenen Zeiten das entartete jütische Pferd vom Untergang errettet, und in einer sehr kargen Zeit wurde eine neue Goldader für die Gegend erschlossen.

Auch Torbens Vater, der Etatsrat, war einer der Bahnbrecher der jütischen Landwirtschaft gewesen. Aber trotzdem brach er selber kraß mit der Familientradition, legte ein staatswissenschaftliches Examen ab, das von sich reden machte, und reiste dann ins Ausland, um seine Studien fortzusetzen und die Welt kennen zu lernen – als das Unglück ihn wie ein vergifteter Pfeil aus dem Hinterhalt traf.

Er wollte Politiker sein – Staatsmann. In den politisch interessierten Studentenkreisen war er schon früh zu einem Führer der Zukunft erkoren. Wenn seine große braunblonde Gestalt mit dem sorgfältig gescheitelten Haar und dem langen Widdergesicht sich bei den Diskussionsversammlungen auf der Rednertribüne zeigte, ward es still im Saal, und zwar nicht allein auf Grund seines Gutsbesitzertitels. Er war ein überlegener Redner. Zwischen den vielen jugendlichen Brauseköpfen und den revolutionären Phantasten wirkte er durch seine fast phlegmatische Ruhe, fesselte durch seine unerschütterliche Sachlichkeit und einen gutmütigen Humor.

In Favsingholm hatte er sich während aller dieser Jahre nur ein paarmal der Jagd halber aufgehalten, in Gesellschaft einiger munteren jungen Freunde, die dort eine Woche wie ein Wirbelwind hausten. Jetzt saß er im dritten Jahre ohnmächtig in dem breiten Lehnstuhl seines Großvaters und fror an Händen und Füßen wie ein alter Mann und konnte doch nicht sterben.

Aber so schwach er auch war – die Unruhe des Lebens brannte ihm noch immer im Blut. Trotz seiner schweren Flußpferdbeine mußte er immer wieder vom Stuhl aufstehen und, auf einen Stock gestützt, ein wenig im Zimmer auf und nieder spazieren, um zu versuchen, ob er nicht irgendwelche Besserung verspüre. Er war trotz Atemnot und Herzklopfen den ganzen Tag rastlos im Gange wie ein eingesperrtes Tier, das nach jahrelanger Wanderung hin und her, längs den Gitterstäben des Käfigs, die Hoffnung nicht aufgeben will, einen Weg in die Freiheit hinaus zu finden.

Unten im Dorfe, im Pfarrhause, wohnte ein Mann, Pastor Vestrup, den er aus der Kindheit her kannte. Sie hatten vor zwanzig Jahren eine kurze Zeit auf der Schulbank in Randers zusammengesessen und waren sich später in Kopenhagen als Studenten begegnet. Torben Dihmer schätzte ihn gerade nicht sehr. Der Mann hatte so viel an sich, was ihm zuwider war. Aber um zu hören, was die Kirche zurzeit über ein zukünftiges Leben zu wissen glaubte, hatte er einmal nach ihm geschickt, und die beiden Kindheitsfreunde hatten seither mehrere lange Unterredungen über religiöse Stoffe gehabt, ohne daß sich ihm jedoch eine erlösende Himmelsstiege über dem dunklen Erdloch offenbarte, das seine Gedanken Tag und Nacht umkreisten. Bitter für ihn war es auch, daß diesseits des Grabes nichts weiter von ihm zurückbleiben würde als ein zweifelhaftes Andenken. Er war so sorglos in bezug auf seine Zukunft, so abergläubisch sicher seiner Bestimmung gewesen, und nun saß er hier und mußte mit zwei leeren Händen sterben. Es hatte in den Sternen geschrieben gestanden, in der Stunde, als seine Mutter ihn zur Welt brachte, daß sein Leben dahinfahren und ausgelöscht werden würde wie eine Welle, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Noch machte er täglich einen kleinen Spaziergang durch den Park in Begleitung seiner Pflegerin, der alten Schwester Barbara, auf deren Schulter er sich stützte, wenn sie die hohe Haupttreppe hinauf oder hinunter gingen. An sonnenwarmen Tagen konnte er sich sogar ganz bis an die Zaunpforte nach dem Felde hinauswagen, um die Rinder anzusehen, wenn sie nach Hause in den Stall getrieben wurden. Die Arbeiter begrüßten ihn mit Furcht im Blick. Ihn selber quälte das Affenspiel entsetzlich, das die Krankheit mit seinem Äußern getrieben hatte, und da er die Verzerrung für noch ärger hielt, als sie in Wirklichkeit war, wurden die Türen von Favsingholm allen Fremden verschlossen gehalten. Er wollte niemanden sehen.

Der früher so umgängliche Mann hatte sich überhaupt sehr verändert. Er konnte die unvernünftigsten Einfälle haben. Bald verfiel er darauf, daß er nicht mehr essen wollte, bald daß er sich nicht waschen wollte. »Für die Kirchhofratten bin ich doch wohl schön genug,« murmelte er. Haar und Bart ließ er wachsen, so daß es ihm vom Kopf abstand wie Dornenreiser und nun anfing, zu welken und auszufallen.

Auf gleiche Weise fand er eine traurige Befriedigung darin, alles im Hause und im Park verfallen zu lassen. »Mag es warten, bis ich weg bin,« war seine sich immer wiederholende Antwort, sobald sein Verwalter eine notwendige Arbeit zur Instandhaltung des Besitzes vorschlug. »Es muß doch wohl einmal ein Ende mit mir haben.«


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