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V

Am folgenden Nachmittag saß Jytte allein draußen unter den Kastanien. Es war ein grauer stiller Tag mit erdrückender Wärme. Sie saß da und las in einer Zeitung, die ausgebreitet auf dem Tisch lag. Von Zeit zu Zeit nahm sie eine Kirsche aus einer Schale, führte sie langsam zum Munde, spuckte den Stein in die Hand und warf ihn über die Schulter weg, alles ohne die Augen vom Blatt zu erheben. In den Kastanienkronen über ihr summten die Bienen. Es klang da oben wie in einem ungeheuern Bienenkorb.

Der junge schwarze Pudel, der ihr jetzt überall folgte, rollte sich vor ihr im Kies und sprang an ihrem Kleid in die Höhe, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er wollte spielen. Schließlich lief er auf den Rasen, wo sie sich miteinander zu belustigen pflegten. Hier blieb er stehen, die kleinen funkensprühenden Augen aufmerksam auf sie gerichtet. Bei jeder Bewegung, die sie machte, zitterte sein zottiger Körper in Erwartung. Aber entweder war es nur eine neue Kirsche, die an den Mund geführt werden sollte, oder wieder ein Stein, der über die Schulter geworfen wurde.

Noch einen andern Zuschauer hatte sie, ohne es zu wissen. Oben in der Gartenstubentür stand Pastor Gaardbo. Er hatte das kranke Dienstmädchen besucht und war durch alle Zimmer gegangen, ohne jemanden zu treffen. Er hatte schon eine kleine Weile dagestanden – ein wenig unschlüssig.

Erst als er auf die Veranda hinaustrat, hörte Jytte ihn.

Sie erhob den Kopf, und als sie ihn erkannte, richtete sie sich unwillkürlich gerade auf. Mit Staunen und ein wenig Unruhe sah sie ihn auf sich zukommen.

»Verzeihen Sie! ... Ich störe Sie gewiß. Aber ich bin durch das ganze Haus gegangen, ohne einen Menschen zu treffen. Auch die Mamsell habe ich vergebens gesucht.«

»Wünschen Sie mit dem Jägermeister zusprechen?«

»Nein, heute möchte ich eigentlich mit seiner Frau sprechen. Aber vielleicht kann ich Ihnen Bescheid sagen, Fräulein Abildgaard. Dann brauche ich nicht zweimal deswegen zu gehen.«

Jytte war in Verlegenheit, was sie antworten sollte. Der Pfarrer wartete offenbar auf eine Aufforderung, sich zu setzen. Er stand an der andern Seite des Tisches, die Hand auf der Rücklehne eines Stuhles.

»Ich ahne ja nicht, um was es sich handelt ... Wollen Sie aber nicht Platz nehmen?«

»Danke. – Ich komme von Oline. Es scheint ja, Gottlob, als wenn sie darüber hinwegkommen wird. Sie ist aber noch immer recht unruhig und namentlich bange, allein zu sein. Die andern Mädchen haben ja alle ihre Arbeit; ich wollte die Frau Jägermeister deswegen auf unsere Gemeindepflege aufmerksam machen. Schwester Olga, unsere Krankenpflegerin, ist zurzeit gerade frei, es braucht nur nach ihr geschickt zu werden.«

Jytte versprach, den Auftrag auszurichten. Die Unterhaltung stockte, und sie erwartete, daß der Pfarrer sich erheben würde. Aber dies geschah nicht, und als die Pause länger und das Schweigen drückender wurde, bot sie ihm aus der Kirschenschale an. Er nahm auch dankend ein paar Beeren, und nun sprachen sie über diese Frühkirschen, die aus Deutschland hier hinaufgesandt wurden. Pastor Gaardbo konnte von der kleinen Berggruppe Kaiserstuhl mitten im Rheintal erzählen, vor woher die meisten dieser Kirschen kamen. Er war in seiner Kandidatenzeit gerade während der Kirschenernte mit seinem Bruder da gewesen.

Dann sprachen sie ein wenig vom Reisen, und als auch dies Thema erschöpft war und der Pfarrer noch immer sitzen blieb, erwähnte Jytte ihren Besuch in Jerve am vorhergehenden Tage.

»Ihre Schwägerin ist meine alte Freundin. Es freute mich, ihr wieder zu begegnen und ihre Kinder zu sehen.«

»Meta hat mir erzählt, daß Sie sogar in derselben Klasse waren. Freilich auf die Weise, daß Sie immer die Erste waren und Meta das Gegenteil. Sie sind ja auch Studentin geworden, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Ich glaube, mich ganz sicher Ihrer von einem Universitätsfest erinnern zu können. Sie saßen oben auf der Galerie mit einem Herrn, anscheinend einem Ausländer. Damals, als Sie hereinkamen, hörte ich die Leute rings um mich her sagen, das sei die Tochter des Justizministers.«

Jytte erinnerte sich des Tages sehr wohl. Sie war mit Baron Cederstjerne da gewesen. Sie war ihm zufällig unterwegs begegnet und hatte ihn mitgenommen, damit er den Studentenchor einmal singen hören könne. Gerade diese Begleitung hatte wahrscheinlich das dumme Gerede von ihrer Verlobung veranlaßt.

Die Erinnerung war ihr überhaupt unangenehm, und um davon abzulenken, begann sie von den schwierigen Studienverhältnissen an der Universität zu reden und bedauerte die Studenten, die obendrein noch gezwungen waren, sich, während sie zum Examen arbeiteten, gleichzeitig durch Unterricht zu ernähren. Pastor Gaardbo erzählte scherzend, wie er selbst einmal Lehrer in den oberen Klassen einer Kopenhagener Mädchenschule gewesen war, und daß er noch jetzt zuweilen des Nachts vor Angst erwachen könne, weil ihm geträumt hatte, er stünde vor der Tür des Klassenzimmers und sollte da hinein, um zu unterrichten.

»Ich glaube, allein der Umstand, daß ich Pfarrer werden wollte, machte mich ein wenig komisch in den Augen der jungen Damen. Sie kamen aus dieser Veranlassung beständig mit den törichtsten Fragen zu mir.«

Jytte dachte bei sich, daß die Mädchen natürlich alle miteinander in ihn verliebt gewesen seien, und der naive Mann hatte das nicht begriffen.

»Was für eine Schule war das?«

»Magda Evensens Institut in Österbro. Ich muß oft denken, was wohl aus meinen alten Schülerinnen geworden ist. Es war wirklich so viel Gutes bei manch einer von ihnen. Nur schien es, als wenn weder Kummer noch Freude so recht Macht über sie gewinnen könne. Nicht einmal ihre Vergnügungen nehmen sie so recht ernst. – Aber das gilt ja übrigens von den meisten Menschen.«

»In welchem Fach haben Sie unterrichtet?«

»Nur in Religion.«

»Hm – ja, das ist auch wohl das allerschwierigste. Es ist ja jetzt die Rede davon, den Religionsunterricht ganz zu streichen, wenigstens in den oberen Klassen, um Platz für die vielen neuen Fächer zu schaffen.«

»Ja, davon ist die Rede.«

»Das Gespräch kam gestern bei Doktor Gaardbo darauf. Der Doktor wollte statt dessen – ich glaube, er nannte es ›praktische Lebenslehre‹ – einführen. Dafür kann auch sehr wohl Verwendung sein.«

Sie sagte das ganz ohne Hintergedanken, ja, ohne zu ahnen, daß etwas Verletzendes für den Pfarrer darin liegen könne. Aber an seinem Schweigen merkte sie, daß er verstimmt geworden war.

»Was kann ich nur gesagt haben?« dachte sie.

Im selben Augenblick hörten sie jemand kommen. Es war Frau Berta, die sich aus der Lindenallee näherte. Der Pfarrer erhob sich und grüßte.

»Guten Tag, Herr Pastor!« sagte sie und reichte ihm freundlich die Hand. »Sie haben auch der Hitze getrotzt.«

Er erklärte den Grund seiner Anwesenheit, und nachdem er die Aufklärungen über die neuerrichtete Gemeindepflege wiederholt hatte, sagte er:

»Oline hat mir erzählt, daß die Frau Geheimrat wiederholt so gütig gewesen ist, bei ihr einzusehen. Dafür ist sie so von Herzen dankbar.«

Jytte fühlte die Worte an sich gerichtet, als versteckten Vorwurf, und sie errötete. Sie hatte sich mehrmals vorgenommen, bei Oline einzugucken, hatte es aber immer vergessen.

Frau Berta bat ihn, wieder Platz zu nehmen, aber nun verabschiedete er sich. –

»Hast du etwas von Wilhelmine gesehen,« fragte Frau Berta, als er gegangen war.

»Nicht seit dem Frühstück.«

»Und auch nicht von John.«

»Nein, er hält wohl noch seinen Mittagsschlaf,« antwortete Jytte, die jetzt wieder in die Zeitung sah.

»Da ist etwas, worüber wir reden müssen; laß es uns jetzt tun, wo wir allein sind! Du sagtest am ersten Abend unseres Hierseins, du fühltest dich diesmal enttäuscht von Storeholt und möchtest eigentlich am liebsten gleich wieder abreisen. Ich will dir sagen, daß es mir ganz ebenso ergangen ist. Mir kommt alles so unheimlich verändert vor, und das quält mich. Ich kann es auch nicht ertragen, John und Wilhelmine anzusehen. Und dies Fräulein Söholm ist wohl auch nicht so einfältig, wie sie sich stellt. Wenn du so willst wie ich, reisen wir so schnell wie möglich ab.«

Jytte hatte in ihrer Überraschung die Augen von der Zeitung erhoben. Jetzt senkte sie sie wieder.

»Wohin wollen wir denn reisen?«

»Wir können zum Beispiel nach Fanö gehen. Dann kannst du dort Seebäder nehmen. Das wird dir sicher gut tun.«

»Aber geht das Johns wegen? Es wird ihm gewiß leid tun.«

»Ach, John hat in dieser Zeit so viel vor. Ihm ist es wirklich ganz gleich, ob wir hier sind oder nicht.«

»Müssen wir aber nicht auf alle Fälle warten, bis Enslev hier gewesen ist?«

»Das finde ich nicht einmal notwendig. Das meintest du selbst ja neulich auch nicht.«

Jytte entsann sich dessen sehr wohl. Sie wunderte sich nur darüber, daß das nicht länger her war.

»Du kannst meinetwegen tun, was du willst, liebe Mutter.« »Ich habe dir doch von meiner alten Großtante Ernestine erzählt, die sich, als ich ein Kind war, hier auf dem Gute aufhielt.«

»Meinst du die, die halb verrückt war und immer in Bibelsprüchen redete?«

»Halb verrückt? Das weiß ich nicht. Sie gehörte zur Herrnhutergemeinde. Sie ging immer schwarz gekleidet, in einer Art Ordenstracht, und wir Kinder hatten eine wahre Angst vor der alten Person. Ich habe sie in diesen Tagen überall vor mir gesehen, und über Nacht träumte mir merkwürdig lebhaft von ihr. Sie stand an meinem Bett und redete.«

»Aber – Mutter!«

»Ich sage das nicht, um dir bange zu machen. Ich glaube nicht an Gespenster – so mußt du das nicht auffassen. Aber ich weiß, daß ich diese Erscheinung nicht los werde, solange ich hier bin. Deswegen will ich fort.«

»Ja, laß uns abreisen! Meinetwegen kann es zu jeder Zeit geschehen.«


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