Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Tante Angiolina war, als sie die Nachricht empfing, ganz erschrocken, dann gerührt. Sie saß nur da und nickte vor sich hin, bis sie endlich fand, es sei ein Glück, daß sie das noch erlebe. Nur wußte man nicht recht, wie sie sich das Glück dachte.

Dann kam das Urteil der Welt. Weder Meinhardt noch Ossana noch ihre Mutter hatten von der Verlobung gesprochen, trotzdem mußte sie durchgesickert sein, denn der Diener brachte seine Glückwünsche dar. Als Meinhardt verwundert fragte, woher ihm das bekannt sei, wußte er, zu dem sich noch seine Frau, die Theres, die Köchin, der Kutscher, der Gärtner, kurz alle Leute gesellt, nichts anderes zu antworten, als "man" hätte es erzählt.

In Meran wurde die Verlobung auf den Tees, im Theater, auf der Straße, in den Wirtshäusern, in den Hotels verbreitet. Sie ging auf der Habsburgerstraße und in den Lauben von Laden zu Laden, denn alle hatten das gräfliche Paar gekannt, deren Jucker oder Haflinger gleichsam ins Stadtbild gehörten.

Die Geschäftsleute fanden es sehr recht, da sonst die Besitzung, etwa wie ein Laden oder eine Wirtschaft, Schaden litte, wenn sie lange ohne Hausfrau bliebe.

Zu gleicher Zeit trafen auch die Antworten der Verwandten ein. Der Poldi telegraphierte so lang' und teuer, daß es den Eindruck machte, als müsse er eben ein Rennen gewonnen haben. Von Bernburgs kam ein freundlicher Brief, aus dem das Erstaunen klang, daß sie doch eigentlich nie etwas davon gemerkt hätten. Als Meinhardt ihn Ossana vorlas, antwortete sie mit leisem Lächeln:

»Wie sollten denn die was merken, sie sind doch nur mit sich selbst beschäftigt!«

Den Brief der Mama bekam Meinhardt, als er schon wieder allein war, denn nach der Verlobung fand es Tante Angiolina nicht mehr schicklich, auf der Rochusburg zu weilen. Immer wieder nahm Meinhardt die Zeilen seiner Stiefmutter vor, die tagelang in seiner Seele geklungen:

»Sie ist Margret so ähnlich, daß sie nur dort fortsetzen wird, wo die andere aufgehört. Du bist ein Grübler, ein Nervenmensch, wie es auch Dein Vater gewesen ist. Für dich würde es schwer sein, ganz neu wieder zu beginnen. So wird sie mit ihrer Stimme Dich an ihre Schwester erinnern. Wenn sie eintritt, wirst Du meinen, Margrets Gestalt zu sehen, und wenn ihre Augen Dich anblicken, magst Du denken, es sei Deine verstorbene Frau. Mir scheint beinah', als würde Margret, wenn sie es wissen könnte, Dir ihren Segen geben, denn sie hat, solange sie auf dieser Erde war, nur einen Gedanken gehabt: Dich glücklich zu sehen. Ihr bangte vor Deiner Zukunft. Sie litt, ich weiß nicht, ob Du davon weißt, manchmal unter Todesahnungen. Ich glaube nicht etwa, daß sie gefühlt hätte, sie müßte jung sterben. Nein, sie hing am Leben, denn sie war überglücklich geworden mit Dir. Aber jeder Mensch hat einmal trübe Tage. Und diese liebe Frau hatte deren vielleicht mehr, als Du geahnt hast. Gut, daß Du es nicht so wußtest. Es ist mir öfters gelungen, ihre Seele aufzurichten. Dabei habe ich manchen Einblick getan. Aber nun lasse mich Dir etwas sagen. Denk' an mich, wenn ich vielleicht später einmal nicht mehr bin – ich habe gar keine Todesahnungen, bin aber fast sechzig, und mein Herz ist nicht ganz in Ordnung, wie der Arzt mir nach ein paar Beschwerden vor ein paar Tagen sagte – also: Die Schwestern sind einander ähnlich und doch nicht gleich. Darüber sei Dir immer klar, um nicht ungerecht und nicht unglücklich zu werden. Margret hat mir einmal erzählt, wie wunderschön Du gesagt – jedes Wort war ihr im Gedächtnis geblieben –, daß nichts auf diesem Planeten sich wiederhole, und es ein Glück sei, daß sich nichts wiederhole. Nun, so hat auch Gott die Schwestern nicht gleich geschaffen. In Deiner zweiten Frau wirst Du nicht ganz die erste wiederfinden, aber auch Du wirst Dich verändern nach den Gesetzen, die Du erklärt hast. Margret war zu stillem Glück geschaffen, Ossana wird Dir ein anderes Glück geben, – daß es ein Glück ist, dessen bin ich überzeugt. Die trüben Stimmungen, das schwere Geblüt Margrets hat Ossana nicht. – – – – Ich bin unterbrochen worden – und lese meine Worte noch einmal, Verzeih! Ich bin ins Philosophieren und Prophezeien gekommen. Das liegt mir gar nicht, wie Du weißt, denn ich hab' immer erfahren: es kommt alles ganz anders. So drücke ich Dir nur die Hand. Das aber von Herzen. Eines laß Dir noch sagen: Sollten etwa, wie bei Deinem Vater, die Leute finden, Du habest nicht lange genug gewartet, – laß sie reden. Wenn wir vor uns selbst bestehen können, was geht uns anderer Menschen Urteil an? Hättest Du Dich noch länger in Deine Trauer eingesponnen, so würden die gleichen Klugredner vielleicht gesagt haben: »Wie kann man sich so unmännlich vom Schmerz werfen lassen!« Wärest Du, wie Du einmal wolllest, auf Reisen gegangen, so gäb' es gewiß Leute, die da meinten: »Jetzt amüsiert er sich woanders!« Ja, lieber Meinhardt, was Du mir am letzten Abend hier geklagt hast, wie einsam doch jeder in der Welt für sich steht – es ist so! Aber eben das macht uns stark, denn es bedeutet die Notwendigkeit, mutig jeder für sich dem Leben ins Gesicht zu sehen und trotz allem Traurigen, das wir erfahren, wollen wir ein fröhliches Herz behalten, Meinhardt!

Und nun noch ein Wort zu Deiner neuen Ehe: Vergiß nicht, Meinhardt, daß Du jetzt ein anderes Menschenschicksal in die Hand bekommst, das genau so gut sein Recht auf sein Glück, auf das Leben hat wie Du! Gott befohlen.

Deine Mama.«

Bei Tante Angiolina waren Gedanken erwacht, die sie hinter Klostermauern entführten. Einmal, als Meinhardt in Göllan weilte, rief sie die beiden in ihr Schlafzimmer, hieß sie feierlich auf die alten, steiflehnigen, mit verschossenem Kattun überzogenen Stühle niedersitzen, faltete die Hände und sprach:

»Ich muß euch eine Mitteilung machen, liebe Kinder! Der Papa ist in den Himmel gegangen, meine Tochter Margret ist ihm gefolgt. Meine Tochter Ossana geht jetzt aus dem Haus. Ich werd' jetzt allein bleiben. Ich hab' meine Pflichten gegen Mann und Kinder treu erfüllt. Du, Ossana, wirst jetzt eine neue Heimat haben und brauchst deine Mama nicht mehr.«

Sie begann zu weinen. Ossana stand auf, lehnte ihren Kopf an den der Mutter, denn sie war doch ein wenig gerührt, dann ging sie langsam zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich, und Tante Angiolina fuhr fort mit umflorter Stimme:

»Ihr wißt, ich hatte einmal die Absicht, dieses Dasein, das, ihr könnt es mir glauben, keinen Wert besitzt, mit etwas Besserem zu vertauschen. Ich sehnte mich nach Frieden, denn mein Leben hat das nicht gehalten, was es mir einst versprach, als ich als junge Frau von da drüben in diese Gegend gekommen bin!«

Wieder schluchzte sie leise. Meinhardt blickte zu Boden, Ossana bedeckte die Augen mit der Hand. Nach einiger Zeit fuhr die Mama fort:

»Ich hab' damals meine Sehnsucht geopfert deinetwegen, mia cara, ich hab' verzichtet, um getreulich meine Mutterpflicht zu erfüllen. An dem Tag aber, da mein letztes Kind vor den Altar tritt, bin ich entschlossen, das Welttreiben zu verlassen. Ich will, wie ihr schon ahnen werdet, den Schleier nehmen.« Tante Angiolina war am Ende. Ossana stand auf, ihr die Hand zu küssen:

»Mama, für uns ist's traurig. Aber wann's dein Glück ist.«

Da hob die dicke Frau ihre Feuerräder, die einst, wenn auch noch so unschuldig, doch brennend über diese schöne Erde, über Männlein wie Weiblein geblitzt, und es war etwas selig Verklärtes darin, das jeden traurigen Gedanken bannte:

»Ich weiß, mia cara, daß du glücklich wirst. Ich aber hab' nichts mehr, was mich hier unten hält. Ich werde Gott dienen fortan, ich will nachholen, was ich versäumt habe und Ihn bitten, daß Er mir verzeihe und mich gnädig aufnehme. Ich will die heilige Gnadenmutter in ihrem Glanz und in ihrer Hoheit sehen, ich will nit die Augen geblendet schließen, ich will hinaufblicken in all das Himmelslicht und sie anflehen, euch gnädig zu sein wie meiner armen Seele, die sie bald, recht bald erlösen möge und emporheben zu sich.«

Die Mama stand auf, sie schluchzte nicht mehr. Ruhig umarmte sie ihre Tochter, ihren Schwiegersohn, mit einem Ausdruck, als sei sie mit ihren Gedanken schon nicht mehr hier. Dann trat sie an den Betschemel neben dem Bett in der Ecke, kniete schwer hin, senkte den weißen Kopf und faltete die Hände.

Meinhardt blickte Ossana an. Sie hatte doch ein wenig glänzende Augen, und als sie über den Flur gingen, an der Wand hin, in dem gleichen Gefühl, als solle in diesem Augenblick die Diele nicht knarren, sprachen sie kein Wort.

Sie saßen zusammen unten im Zimmer. Ossana sagte: »Es ist mir doch sehr, sehr schwer, wenn ich's auch längst gewußt hab' und, verzeih, was ich sag', Meinhardt, eigentlich die Mama schon längst verloren g'habt hab'. Sie war ja nit mehr hier. Ich möcht' auch glauben, sie verliert nix an mir, denn sie hat mich ja nie mehr g'sehn. Du glaubst nit, Meinhardt, wie das traurig gewesen ist. Und wie glücklich ich bin, daß ich dich nun hab'!«

Dann lehnte sie ihren Kopf an seine Brust, wie ihre Schwester es einst getan.

Ganz still war die Hochzeit gewesen, ebenso still fuhr das junge Paar davon. Sie gaben Tante Angiolina das Geleit. Das Kloster, das Baronin Durazzi sich ausgesucht, lag in der Nähe von Trient. Zuerst hatte sie auch von den Pergher Abschied nehmen wollen, aber dann überwog der Gedanke, daß sie sich so viele Jahre nicht mehr umeinander gekümmert hatten. Wie damals das junge Paar in Trient ausgestiegen und hinaufgefahren war, dem Val Sugana zu, so brachte die drei jetzt der Wagen den gleichen Weg hinan, doch nicht abbiegend, sondern die Straße geradeaus. Eng schlossen die Felswände sich zusammen. Sie kamen an einem Fort vorbei, dann öffnete sich das Tal zu weiterem Becken. Noch eine halbe Stunde Fahrt, und die langen, weißen Mauern des Klosters lagen vor ihnen.

Wie es hieß, war dort keine einzige Deutsche. Mit dem heutigen Tage schien Tante Angiolina anzuknüpfen an ihre Jugend, als würde der mittlere Teil ihres Lebens ausgelöscht. Sie hatte erzählt von der Herrlichkeit des Klosters, so dachte Meinhardt es sich wie die Rochusburg hoch auf einem Berge. Ossanas leicht entzündete Phantasie träumte sogar etwas vom Leuchten der Gralsburg weit in die Lande hinein.

Nun waren sie ein wenig enttäuscht über die unscheinbar tiefe Lage im Tal. Von der Hauptstraße auf einen Nebenweg abbiegend, stand bald der gelbliche, lange Kasten vor ihnen. Ein Garten war vorgebaut mit himmelhohen, weißgetünchten Mauern gleich einer Befestigung. Rundum dehnten sich Weingärten, bereits im blattlosen Winterschlaf. Die Bäume trugen noch ihr gelb und braunes Herbstkleid. Im Hintergründe strichen langgestreckte Bergrücken hin, eintönig ohne stärker hervortretende Gipfel. Frieden lag wohl über der Landschaft, doch fast zur Öde gewandelt.

Dazu drohten graue Wolken in gewaltiger Bank vom Himmel, die Sonne verhüllend. Auf dem letzten Wegestück beugte Ossana sich zur Mama und drückte ihre Hand. Sie sah Tränen in ihren Augen und suchte sie zu trösten:

»Du mußt nicht traurig sein!«

Doch die Baronin Durazzi gab fast hart zurück:

»Ich bin glücklich.«

Ossana war vergessen.

Meinhardt ließ vor dem Gebäude halten und schickte den Kutscher zur Hauptstraße zurück. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß, aber da es geregnet hatte und der Weg schmutzig war, an der Seite und hintereinander, so daß es nicht zum Gespräche kam.

Am Tor klingelte Tante Angiolina. Lange Zeit schwang grell die Glocke. Ein Guckfenster tat sich auf. Tante Angiolina sagte ein paar italienische Worte. Ja, sie wurde erwartet. Sie trug aber nichts bei sich; keine Tasche hatte sie mitgenommen, nicht einmal einen Schirm, nur einen Schal um die Schultern.

Nun öffnete sie die Arme und schloß ihre Tochter einen Augenblick hinein. Dabei, waren es Nerven, war es Gefühl, war es die letzte Wandlung ihres Daseins, ein Hintersichwerfen ihres ganzen Lebens: aus ihren großen, schwarzen Augen rannen dicke Tränen und perlten unaufhörlich nieder. Dann stand sie da, ein wenig im Kreuze liegend, den starken Leib vorgestreckt und machte über ihre Tochter mit der Hand ein Zeichen, wie einen Segen.

Meinhardt wollte herantreten, doch sie nickte ihm nur zu, als sei das Männliche schon für sie verpönt. Und dann tat sich die Tür auf, an die sie gedrückt. Man sah niemand, nur ein Stück Gang blickte man hinunter, der aber bald nach rechts bog. Am Ende brannte eine Ampel, rot wie im Herrgottswinkel in Göllan, darüber aber nicht der Gekreuzigte, sondern die Muttergottes mit dem Kinde.

Wie von unsichtbarer Hand sank die Tür wieder zu. Und die beiden blickten auf das graue Holz, an dem aus alter Zeit noch ein Türklopfer hing.

Ossana hatte das Taschentuch vor den Augen. Meinhardt rührte sich nicht. Plötzlich wandte sie sich zu ihm und sprach mit Margrets Stimme, ja es war, als ob Margrets Worte sich wiederholten, wie sie einst zu ihrem Mann gesagt:

»Jetzt hab' i nur dich allein!«

Er nahm ihren Arm und führte sie den Weg zurück, immer an der eintönig grauen Mauer hin, über die an der Ecke, wo sie endete, eine Gruppe schwarzer Zypressen ihre spitzen Kronen streckten.

Meinhardt führte seine Frau. Besorgt, daß er die Füße sich nicht naß mache, warnte sie ihn. Er aber meinte: jetzt sollte sie schweigen, und der Gedanke kam ihm an Margret, die in solchen Augenblicken ihrer wie seiner Seele Rast gegönnt hätte.

Doch, unzufrieden mit sich selbst, zog er Ossana an sich und bat sie um Verzeihung:

»Ich hab' dir's gleich gesagt, ich bin ein trauriger Gesell' geworden! Das hast du nun davon.«

Sie antwortete etwas verschüchtert:

»Ich will nix mehr reden! Ich will alles tun, was du willst! Ich stör' di nimmer. Bleib' ruhig bei deinen Gedanken.«

In Bologna, im Hotel Brun blieben sie. Stumm war er und nachdenklich. Die Gestalt Margrets stand vor ihm, doch nicht wie sie gewesen, sondern das Bild des Wiener Malers, ein wenig mit Ossanas Zügen. Er schielte zu ihr, die neben ihm saß, den Rücken gebogen, den Kopf gesenkt, zu Boden starrend, und sagte bitter:

»Dein Mann ist nit grad' unterhaltend!«

Doch sie:

»Ich hab' dich aber lieb.«

Und sie begann zu reden von ihrer Liebe, ohne ihn anzublicken, denn sie fühlte sich doch ein wenig befangen. Er hörte aus ihr Margrets weiche Stimme. Da schlang er den Arm um ihren Nacken und zog sie an sich. Sie erhob den Kopf: »Red' ich zu viel?«

»Sprich weiter, ich hör's so gern! Es klingt so schön.«

»Denkst du an Margret?«

Er ließ sie los. Plötzlich nahm er ihre beiden Hände: »Ossana, ich bitt' dich, bitt' dich um eins. Verzeih, was ich dir jetzt sag'. Laß mir Zeit, ich komm' zu dir, ich komm', aber jetzt kann ich nicht.«

Sie fühlte seine Lippen auf ihrer Stirn, und als sie aufblickte, war sie allein.


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