Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Einundzwanzigstes Kapitel

Des Henrietterls Lachen und fröhliches Wesen, das einst den alten Baron Durazzi erfreut, lockte jetzt kaum mehr ein Lächeln auf seine Lippen. Er klagte, sie sei ihm zu laut. Dazu hatte sie ein Unglück gehabt. Als sie in jungem Mutterstolz das kleine Henrietterl mitgebracht, war der sonst ewig lächelnde Wurm von erstaunlicher Ungezogenheit gewesen, Wie es den alten Mann im Stuhl sitzen sah, fing es nicht an mit seinem »da, da«, sondern verkroch sich bei seiner Mutter und war trotz allem Zureden nicht dazu zu bringen, sich dem Großonkel zu nähern. Der alte Baron wurde ärgerlich und verlangte, das Kind solle entfernt werden. Dann schimpfte er über das große Henrietterl, das sich nicht um ihn kümmere und keine anderen Gedanken habe als dieses törichte Wurm. Er nannte das arme kleine Henrietterl, das kaum gehen gelernt und nur wenige Worte lallte, einen unerzogenen Fratz. Und das große Henrietterl verließ Göllan lief gekränkt, Tränen in den Augen.

Da ihr Jammern nun gar nicht aufhörte, sagte ihr aber der Rudi seine Meinung. Sie schwieg betroffen und blickte ihn eine Weile ängstlich an, doch der Rudi schien wirklich die Hosen anzuhaben.

Am letzten Tage vor der Abreise der Bernburgs sah Margret bei der Kleinen, als Meinhardt eintrat. Sie legte den Finger an den Mund und deutete mit halb schwermütigem, halb glücklichem Lächeln auf das rosige Gesichtchen des Kindes, das den Nachmittagsschlummer hielt, hübscher in der Ruhe als bei dem ewigen Lächeln, das es von den Eltern mitbekommen zu haben schien. Von blonden Löckchen war das leise gerötete Gesichtchen umrahmt, die Lippen standen ein wenig offen, wie gewöhnlich die des Vaters. Eine Weile betrachteten die Gatten aneinandergeschmiegt das Kind, dann schlich Meinhardt auf den Zehen hinaus. Margret folgte:

»I weiß, weshalb du nix sagst, und i dank dir dafür. Du bist immer so rücksichtsvoll.«

Er wehrte ab. Doch sie erklärte, da der Arzt ihnen keine Nachkommenschaft in Aussicht gestellt, verstände sie wohl sein Zartgefühl. Bemüht, sie davon abzubringen, sagte er:

»Margret, gewiß wär's schön, wenn wir einen Sohn hätten. Schau das alte Schloß! Man möcht' doch gern wissen, daß es das eigene Blut ist, das einmal hierbleibt. Aber wir haben auch Vorteile davon. Verändert sich der Mensch nicht durch die Kinder? Schau meine Schwester: wie war sie zuerst mit ihrem Mann, es gab nur ihn, und heut schon schiebt sich das kleine Henrietterl, so winzig es ist, mit seinem lächelnden Mund zwischen die Eltern. Wir aber, du und ich, gehören uns allein! Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.«

Sie antwortete nur:

»Ich will dir's auch lohnen.«

Die Koffer standen gepackt. Während die jungen Frauen zusammen auf der Terrasse saßen, Margret still, das Henrietterl aufgeregt plauschend von ihrer Wiener Herrlichkeit, gingen Meinhardt und Rudi im Park spazieren. In der Abschiedsstimmung fand der junge Modenarr Worte, die ihm niemand zugetraut hätte. Nicht sentimental, aber von Herzen kommend. Hier habe er seine Frau gefunden, hier viele glückliche Tage verlebt, es käme ihn jedesmal schwer an, von einem Ort zu scheiden, den er liebgewonnen, nicht minder aber von Menschen, die er gern habe. Er machte Meinhardt eine Art Liebeserklärung:

»Verwandtschaft ist Verwandtschaft, Familie – Familie! Und i möcht' gern, daß wir z'sammenhalten!«

»Das wollen wir ja auch! Kommt nur oft zu uns!«

Der Rudi wünschte die Gastfreundschaft wiederzugeben: »Und wenn wir einmal am Land sind, so kommt's ihr. Wißt, in Wien haben wir keinen Platz, und 's is halt nit das, wie am Land.«

In Kronprinzenstimmung schüttete er Meinhardt sein Herz aus. Er wollte so gern wirtschaften, arbeiten, tätig sein.

Meinhardt betrachtete zweifelnd die Lackschuhe des Rudi. Doch der fuhr fort: Man kenne ihn gar nicht. Auf dem Lande würde er ein ganz anderer Mensch. Natürlich sollte alles sehr fesch werden – das nötige Kleingeld würde ja auch vorhanden sein – aber er wolle alles selbst besorgen, selbst wirtschaften, arbeiten:

»Schau, Meinhardt, is 's net unwürdig, so ein Warten auf einen, der sterben soll? Wie i hab dienen woll'n, hat der Onkel gemeint, 's hält eh keinen Zweck – er wird mir die Herrschaft übergeben. Wie i dann hab' in Staatsdienst treten woll'n, hat er wieder gemeint, 's hätt' eh kein' Wert, er tät mir die Herrschaft übergeben. Und ich sitz' heut noch da wie a Narr und muß warten und wünsch ihm doch g'wiss net den Tod. Aber da wird man halt zum Affen: irgend was muß man öoch tun. 's is schon ein schauerliches Leben!«

Schritte klangen hinter ihnen auf dem Kies des Weges. Der Diener brachte einen Brief. Er sei sehr eilig. Meinhardt wandte sich zu seinem Schwager:

»Erlaubst du?«

Meinhardt erblickte eine Damenhandschrift. Er meinte sie zu kennen. Im ersten Augenblick war es ihm, als fände er Margrets Schriftzüge wieder, doch dann wußte er, daß er sich geirrt. – Nachdem er ein paar Zeilen überflogen, sah er den Rudi erschrocken an: »Onkel Durazzi ist gestorben.«

»Is nit möglich!«

Meinhardt kämpfte mit plötzlicher Rührung, daß es ihm schwer wurde, vorzulesen. Er räusperte sich:

»Lieber Meinhardt! Bitte teile Margret vorsichtig mit, daß unser lieber Vater nicht mehr ist. Der Arzt hatte gestern erlaubt, daß er einmal mit dem Stock gehen dürfe. Wir hatten ihn in den Garten gefahren, dort saß er ja so gern und las. Ob er aufgestanden ist, ich weiß nicht. Er lag am Wege. Ich hab ihn gefunden. Ich hab's gleich gewußt. Der Arzt war eben hier. Ein neuer Schlaganfall. Herz, oder ich weiss nicht, was er gesagt hat. Dass das alles so auf einmal kommen muß! Der liebe, gute Papa! Kommt nur gleich. Der Papa ist nicht verändert, er liegt ganz still auf seinem Bett. Er sieht so schön aus. Bitte, komm, Meinhardt. Ich bin ja ganz allein. Papa war noch so lustig, hatte sich gar nicht geärgert. Ich versteh' nichts mehr. Der Pfarrer war da. Nein, Komm, das hilft ja alles nichts, komm, bitte komm! Mein Papa ist tot! Warum bin ich's nicht? Wer hat Freud' an mir? Verzeih' den Unsinn. Was soll ich denn schreiben. Bitte laß mich nicht allein. Ossana.«

Der Rudi fragte:

»Dürfen wir noch bei euch bleiben?«

»Das ist doch selbstverständlich.«

Und die beiden Schwäger gingen mit gesenkten Stirnen nebeneinander her. Meinhardt ließ traurig die Arme fallen:

»So plötzlich, so plötzlich! Meine arme Margret! Jetzt muß ich ihr's sagen.« Er sah sie mit dem Henrietterl sitzen, dessen fröhliches Lachen hell herüberklang, und Meinhardt rief, indem er die Rührung in seiner Stimme durch barschen Ton zu überwinden suchte:

»Margret! Margret! Bitt' dich, ein' Augenblick! Ich möcht' dir was sagen!«

Erstaunt kam sie. Das Henrietterl wollte folgen, doch der Rudi rief seine Frau beiseite.

»Wir müssen nach Göllan hinüberfahren. Es geht dem Papa nit gut.«

Vergeblich Zwang sich Meinhardt, seine Stimme zu bemeistern. Margret sah ihn an, dann sagte sie ruhig:

»Er ist tot!«

Seine Bewegung bekämpfend, führte er sie ein Stück den Weg hinab:

»Margret, 's ist der Lauf der Welt. Margret, wir müssen alle einmal unsere Lieben verlieren. Margret, du bist da und – weißt noch, wie mein Vater gestorben ist – da war ich nit dabei. Margret, wenn er sich gequält hätt'... aber, Margret, ist's denn nit besser so?«

Er legte den Arm um ihre Schulter und streichelte sie leise. Sie fand keine Tränen, aber auch kein Wort brachte sie mehr hervor. Nur als sie das Henrietterl und den Rudi von weitem kommen sah, beeilte sie mit einemmal ihre Schritte und rief:

»Ich will niemand sehen, schnell, schnell, wir wollen vorausfahren.«

Während sie sich zurecht machte, sagte Meinhardt zu seinen Geschwistern:

»Wir fahren immer. Der Zweite Wagen für euch wird angespannt. Es dauert noch einen Augenblick. Nicht wahr, verzeiht?« Er sah seine Schwester nicht an, sondern machte plötzlich kehrt und rannte in Riesenschritten davon. Dann fuhr er mit Margret hinab. Das Verdeck hatte er aufklappen lassen, daß neugierige Augen sie nicht sähen. Sie saß in die eine Ecke des Wagens gedrückt, er blieb unbeweglich in der andern, aber sein Auge ruhte auf ihr. Er wartete, bis sie schon außerhalb Merans mit einemmal die Hand nach ihm streckte. Er fühlte, wie ihre zarten Finger zitterten. Gedanken schossen ihm durchs Hirn: alle letzten Worte seines Schwiegervaters und lieben, allen Freundes fielen ihm ein. Er sah ihn wieder vor sich, wie er, den Weg durch den Weingarten hinunterschreitend, den Steirerhut drehte und sang: »Mei Bluat geht so lusti«, und in all dem Kummer trat ein Lächeln wehmütiger Erinnerung auf Meinhardts Wangen.

Dann erblickte er Tante Angiolina vor sich, aber kein Mitleid wollte sich regen. Und der Gedanke wehte ihn an, daß im letzten Grunde jeder seinen Kummer allein zu tragen hat, daß keiner in die Seele eines Dritten blicken kann, daß nur selten einmal zwei ihre letzten Gedanken in wenigen Augenblicken einigen. Auch Margret, die sein war, in deren Herz er meinte blicken zu können, schien ihm in diesem Augenblick fremd!

Er wußte nicht, was in ihr vorging. Wohl ahnte er, daß sie ein gleiches empfand wie er, aber Schranken waren zwischen sie durch die Natur selber gesetzt, die nie etwas wiederholt. Sie standen verschieden vor dem Toten. Sein Schwiegervater war er und sein alter Freund. Mit Margret aber verknüpfte den Entschlafenen jenes geheimnisvolle Band des Blutes, das Menschen miteinander verschlingt, ob sie sich nun sträuben oder stolz sich dazu bekennen.

Meinhardt fühlte, wie die Finger seiner Frau zitterten. Er drückte sie leise, aber keine Antwort kam zurück. Sie kämpfte allein. Er konnte nichts anderes tun, als nur ihre Hand halten. Und wie er die letzten Grenzen empfand zwischen Mensch und Mensch gezogen, seien sie sich auch die nächsten auf der Erde, kam über ihn ein so fernes, fremdes Bitterkeitsgefühl, daß er dachte, er wollte ihr wenigstens zeigen, wie seine Gedanken ähnliche Wege gingen. Und er preßte abermals ihre Hand. Kein Druck antwortete ihm. Er streichelte ihre Finger. Sie zitterten nur immer leise. Die junge Frau blieb in die Ecke des Wagens gelehnt. Da zog er langsam ihre Hand herüber, griff an ihrem Arme hinauf, schob ihn zwischen ihren Körper und das Kissen der Lehne, und wartete auf den Augenblick, wo aus den unausgesprochenen Schmerzensgedanken in diesem Hirn neben ihm die Brücke hinübergeschlagen würde zu seiner Seele.

Mit einemmal fühlte er etwas sich regen, empfand, daß ihre Gedanken von dem festen Punkt, auf den sie starr gerichtet gewesen, dem jähen Tode des Vaters, hinübertasteten zu ihm: Langsam kam sie ihm entgegen, langsam sank ihr Kopf an seine Schulter. Und sie sagte mit ihrer tiefen, immer noch ruhigen, tränenlosen Stimme:

»Der arme, arme Papa!«

Meinhardt meinte, sie hätte die Verbindung zu ihm ganz finden sollen und gab keine Antwort. Da schlug sie endlich die Brücke:

»Jetzt hab' ich nur mehr dich!« Er küßte sie, als hätte sie ihm ihre Liebe gestanden. Namenlose Glückseligkeit war in seinem Herzen, aber er sagte zögernd:

»Denk' doch, die Mama und Ossana und das Henrietterl und mein Bruder!«

Mit einemmal gab sie wieder, was ihm den ganzen Weg über beim Rollen des Wagens dumpf im Hirn gehämmert:

»Ich hab' sie lieb, aber jeder geht seinen Weg. Deine Schwester hat ihren Mann, und Ossana – nein, Ossana hat niemand. Aber auch sie geht ihren eigenen Weg. Und Mama... mir ist's oft, als wenn ihr Herz nit mehr bei uns wär'. Vielleicht is's nit schön, was ich sag', mir is aber, als wär' sie mehr im Himmel als bei ihren Kindern. Jeder geht seinen Weg. Jeder ist ein Mensch für sich, jeder ist einsam, grundeinsam! Jeder hat sein Leben, seinen Kummer, sein Leid, seine Schuld, seine Sühne, seine Schmerzen! Meinhardt, wir sind so entsetzlich allein.«

Mit einemmal fühlte er sie ganz nah. Jeder von beiden, körperlich durch den schmalen Streifen des blauen Kissens im Wagen voneinander getrennt, hatte den fürchterlichen Traum geträumt, der unsäglichen Einsamkeit aller Kreatur. Da schwiegen seine traurigen Gedanken, ihm ward glühend heiß, der Gemeinsamkeit sich bewußt, die trotz allem seine Seele an die Seele seines Weibes kettete.

Der Wagen hielt. Langsam, schwer stieg Margret die Steinplatten hinauf. Ihr war, als sollten ihr die Knie versagen: da lag das alte Göllan, wie es immer gelegen, so lieb, so freundlich, nichts verändert und trotzdem anders, ganz anders, meinte sie. Sie stützte sich auf Meinhardt, sie wußte kaum, wie die letzten Schritte zurücklegen. Dann trat sie ein. Ossana, die noch an keine Veränderung gedacht, stand in der Tür im hellen Kleid, von dem das schwarze Haar abstach. Sie kam die Marmortreppe ihnen entgegen. Zwischen Tor und unterster Stufe auf dem holprigen Pflaster des Hofes fiel sie ihrer Schwester um den Hals.

Meinhardt blieb stumm daneben. Ossana machte sich langsam los, reichte, eingehängt in Margrets Arm, ihrem Schwager die freie Hand und sagte ruhig:

»Nun wollen wir zu ihm gehen.«


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