Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Margret lag mit geschlossenen Augen im Bett. Irgendein leiser, fremder Geruch zog durch das Zimmer. Die Tür zum Nebenraum, wo Baronin Durazzi und Ossana warteten, war nur angelehnt. Dr. Kürschner, der eben ein Konsilium mit einem Kollegen, dem Chirurgen, gehabt, trat ein. Tante Angiolina saß wie gelähmt im Stuhl und bewegte den Kopf hin und her bei gefalteten Händen. Als der Arzt eben beginnen wollte, zu sprechen, bat Ossana: »Einen Augenblick!« und ging zur Tür. Sie sah durch den Spalt die weiße Haube einer Schwester am Bett, so schloß sie beruhigt den Flügel.

Dr. Kürschner wandte sich zu Tante Angiolina:

»Frau Baronin, wollen wir lieber in ein anderes Zimmer gehen?«

Doch sie jammerte:

»Ich kann mich nit bewegen. Das ist ja, als hätt' man einen Schlag bekommen.«

Der Doktor begann zu erklären: er befinde sich mit seinen Kollegen in voller Übereinstimmung – der Zustand sei durchaus ernst aufzufassen, doch bestände keine Notwendigkeit, den Mut sinken zu lassen. Tante Angiolina nahm die Finger auseinander und hob sie flehend gegen den Arzt, während ihre Augen sich langsam mit Wasser füllten:

»Jetzt sagen's mir bloß einmal, was fehlt ihr denn?«

Der Arzt machte ein paar Redensarten, wie sie Tante Angiolina gegenüber allein angebracht waren, doch nach wenigen Sätzen, in denen er die schwere Kopfverletzung erklärt, unterbrach sie ihn durch ihre Klagen, so daß er es aufgab, sich weiter mit dem Krankenbefund zu beschäftigen.

Ossana blieb stumm stehen, die Hände auf der Lehne des Stuhles, in dem die Mutter saß. Diese verlangte nun zum soundsovielten Male die Erklärung, wie der Unglücksfall sich zugetragen haben könne. Der Doktor sagte: »Frau Baronin, der Kutscher scheint in der Dunkelheit den Prellstein nicht gesehen zu haben und ist wohl zu nah an den Rand der Brücke gefahren.«

Ossana unterbrach ihn kurz und scharf:

»Besoffen is er gewesen!«

Der Arzt hob die Hand:

»Das mag sein. Es ändert an der Sache nichts. Das muß der Herr Graf untersuchen. Jedenfalls ist die Gräfin hinausgeschleudert worden und mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen. Der Sturz war nicht eben hoch, doch zum Unglück ist gerad' die Stelle in der Rinne dort gepflastert, und wahrscheinlich ist die Frau Gräfin auf einen besonders spitzen Stein gefallen. So wurde die schwere Fraktur verursacht, obwohl das dichte Haar der Frau Gräfin immerhin den Anprall gemildert haben muß.«

Tante Angiolina fragte wieder, was ihr doch schon mehrmals gesagt worden war:

»Ist also keine Wunde?«

Dr. Kürschner warf einen Blick auf Ossana:

»Nein, aber verschiedene schwere und schmerzende Quetschungen, und vielleicht –«

Ossana sah ihn groß an, als wollte sie sagen: es ist genug, mehr hilft bei der Mama doch nichts.

Da seufzte Tante Angiolina erleichtert:

»Na, Gott sei Dank, ich dacht', sie hätt' viel Blut verloren!« Und sie schien sichtlich erleichtert.

Der Arzt versprach, nach dem Essen wiederzukommen und verabschiedete sich von Tante Angiolina mit der Antwort auf ihre Frage, ob Gefahr drohe:

»Augenblicklich wohl nicht.« Die Baronin nickte. Ossana begleitete Doktor Kürschner ein Stück. Auf dem Gang verlangte sie, wie bei dem Tod ihres Vaters, die Wahrheit zu hören:

»'s ist wohl Schädelbruch?«

»Ja, wahrscheinlich!«

»Warum nur wahrscheinlich?«

»Ziemlich gewiß! Man kann eben nicht untersuchen, wegen der starken Schwellung.«

»Das ist schlimmer als eine offene Munde?«

»Natürlich.«

»Sagen's nur die Wahrheit, Herr Doktor. Es ist wohl bedenklich?«

»Ich würde zum mindesten dem Herrn Grafen sofort telegraphieren.«

»Das ist auch g'schehen. Leider kann er vor übermorgen nit z'rück sein, und wenn er auch sofort am Krankenlager seines Bruders kehrtmachen tät'.«

»Ach, der Herr Rittmeister ist krank?«

»Ja!«

Da sagte der Arzt, die Hände auf dem Rücken gefaltet:

»Die erste Pflicht ist freilich bei der Frau.«

Damit wollte er weitergehen. Doch sie stellte sich ihm wieder in den Weg:

»Herr Doktor, ist Gefahr?«

»Ja, wenn wir hineinschauen könnten: Die schwere Gehirnerschütterung ist durch das viele Erbrechen gewiß. Eine Blutung wäre ... aber seien Sie ganz beruhigt, so viele Fälle heilen ja vollkommen aus. Und wie gesagt, über die Schwere der Fraktur läßt sich noch gar kein bestimmtes Urteil fällen, um so weniger als das Sensorium getrübt ist, und man auf Vermutungen sich beschränken muß.« – Unausgesetzt wurde das Kursbuch zu Rate gezogen, wann wohl Meinhardt eintreffen könnte. Er befand sich noch nicht einmal in Wien. Tante Angiolina jammerte:

»Warum muß das auch grad' zusammentreffen?«

»Ja, Mama, das Leben sucht sich nit immer den Moment aus, der uns am besten paßt!«

Die Schwester erschien, die Hände übereinandergeschoben, die Augen niedergeschlagen, mit ihrem wächsernen, ernsten Gesicht:

»Die Frau Gräfin ist erwacht.«

Ossana sprang auf und lief mit aller Lebhaftigkeit ihres Wesens an die Tür. Ehe sie eintrat, sammelte sie sich und ging behutsam an das Lager. Margret ruhte, die Augen geschlossen. Lange blieb Ossana stehen, ohne daß die Kranke sich regte. Als Margret dann wieder die Augen aufschlug, trafen ihre Blicke Ossana. Kein Erkennen leuchtete aus ihnen. Bald lag sie wieder mit geschlossenen Lidern da. –

Der Arzt kam zum drittenmal. Aber gerade während seiner Anwesenheit rührte sich die Kranke nicht, und da sie genau untersucht worden, fand er es unnütz, sie zu stören.

Ossana fragte, ob er die Nacht dableiben könne. Er trat an das Lager, fühlte den Puls, maß die Körperwärme, gab Anordnungen, schien jedoch sein Bleiben nicht für notwendig zu erachten. Mit ein paar beruhigenden Worten nahm er Abschied und versprach, am anderen Morgen zeitig wiederzukommen. Wenn ihm etwa in der Nacht der Wagen geschickt würde, könnte er knapp in einer Stunde dasein.

Als Ossana allein im Zimmer war, die Schwester abzulösen, schlug Margret abermals die Augen auf und begann zu sprechen. Es sei doch zu dumm, diese Geschichte mit dem Wagen. Sie wußte alles genau. Nur von dem Augenblick ab, wo das Gefährt umgekippt, fehlte ihr jede Erinnerung. Dazwischen fragte sie nach Meinhardt. Ossana sagte, ihm sei telegraphiert worden. Das schien Margret nicht recht zu sein: ihr ginge es sehr gut, er solle sich nicht abhetzen!

Ossana fragte:

»Wie fühlst du dich denn?«

»Wie zerschlagen. I hab' grausliche Kopfschmerzen, aber das geht schon vorüber. Heut früh war mir noch schlechter!«

»Weißt du das noch?«

»Du bist ja hier gestanden! Und Meinhardt war doch da!«

»Meinhardt?«

»Ja, Meinhardt is doch hier g'sessen! Er wird müd' sein, er schlaft wohl!«

Ihre Gedanken begannen wieder abzuirren. Bald meinte Margret, ihr Mann sitze in seinem Zimmer, bald wieder wußte sie, daß er verreist sei, und bat, ihn ja nicht zurückzurufen. Auch von Poldi erzählte sie. Ob sie denn noch keine Antwort hätten, was ihm geschehen sei.

Nun kam auch Tante Angiolina ans Bett, fiel über ihre Tochter her und begann zu weinen, so daß Ossana sie von hinten am Arm zog.

»Er kommt ja wieder, er kommt!« beruhigte Margret die Mama. Die dicke Frau setzte sich auf das Lager, aber als die Kissen unter ihrer Last einsanken, verzog Margret das Gesicht. Tante Angiolina merkte nichts davon: »Ich hab' so inbrünstig um dich zur heiligen Mutter Gottes gebetet, daß es geholfen hat! Sie laßt uns nimmer im Stich! Nimmer, nimmer!«

Ihre großen Feueraugen waren ganz verklärt. Ossana sagte, die Kranke solle Ruhe haben, aber Margret bat selbst die Mutter dazubleiben. Nun schob Ossana einen Stuhl hin, immer überlegend, wie sie die Mama fortbringen könnte, denn sie redete ununterbrochen, und der Arzt hatte doch Ruhe verordnet. Inzwischen erhob Tante Angiolina lauter ihre Stimme und suchte, selber etwas wirr, Margret Meinhardts Abwesenheit klarzumachen. Darüber erregte sich die Kranke derart, daß sie zitternd einen flehenden Blick zu Ossana warf. In diesem Augenblick kam die Schwester, schob sich zwischen Tante Angiolina und das Bett, sehr freundlich, und doch sehr entschieden. Sie streichelte die Kranke, und wie ihre rauhe, arbeitsgewohnte Krankenpflegerhand über die zarte Haut strich, war es, als käme schon Ruhe in die gepeinigten Nerven und den verwundeten Körper.

Ossana zog die Mama hinaus. Die machte ihr zwar draußen Vorwürfe, sie wolle ihre Pflicht tun, doch die Tochter sagte:

»Du schaust angegriffen aus, Mama, geh lieber schlafen, daß du morgen frisch bist.«

Die dicke Frau begann zu jammern:

»Du hast recht! Jesus Maria, bin ich müd', bin ich müd'! Weißt was, ich bin dafür morgen schon ganz in der Früh' bei der Margret.«

Und sie stieg zu dem Fremdenzimmer hinauf, das sie bewohnte. Ossana machte sich zur Nacht zurecht, steckte das Haar um, zog ihren Schlafrock an, den sie sich hatte herüberkommen lassen, streifte die Hausschuhe über die Füße und ging noch einmal zu Margret hinein. Sie lag regungslos. Die Schwester neben dem Bett drehte sich herum, ihre Augen gaben ein Zeichen, wie: »Still, still!«

Vorsichtig zog Ossana sich zurück und streckte sich auf Meinhardts Sofa aus. Das Licht ließ sie brennen, und bisweilen fuhr sie empor und lauschte. Ein paarmal stand sie auf, ging bis an den Türspalt und sah hinein, wo unbeweglich die Gestalt der Schwester saß mit der weißen Haube kaum zu erkennen in dem nur durch ein Nachtlicht erhellten Raum.

Am anderen Morgen schlief Margret lange in den Tag hinein. Als sie erwachte, stand der Arzt am Bett. Er wollte mehr Licht haben, um die Kranke besser sehen zu können, und man öffnete ein wenig die Läden. Doch Margret schloß mit schmerzlichem Ausdruck die Augen:

»'s blendet halt.«

Da ließ man sie wieder in der halben Dämmerung. Der Tag verging ruhiger. Ab und zu fragte Margret nach Meinhardt, und immer klarer schien sie sich über alles, was geschehen. Sie bat, der Kutscher möge nicht bestraft werden, er sei sonst ein braver Mensch gewesen. Ossana beruhigte sie.

Tante Angiolina saß trotz aller Gegenbemühungen ihrer ältesten Tochter längere Zeit bei Margret. Während nun die Mutter mit der Kranken ein paar Augenblicke allein blieb, weil die anderen zur Jause gegangen waren, ließ Margret sich versprechen, die Mama würde ihr sofort Nachricht geben, sobald man wüßte, was mit dem armen Poldi geschehen.

Beim Abendbesuch freute sich der Arzt über die offensichtliche Besserung, immerhin empfahl er Ruhe, Ruhe und dreimal Ruhe. Die Kranke müsse vor Aufregungen gehütet werden. Im ganzen schien er nicht unzufrieden.

Gegen Abend kam ein langes Telegramm von Meinhardt mit allen Wünschen für die Kranke. Wenn er da sei, würde sie schon gesund werden. Er danke Gott, daß das Unglück noch so glimpflich abgelaufen sei. Ossana zog dabei die Augenbrauen in die Höhe, etwa wie Margret es manchmal tat.

»Er sagt gar nicht, was dem Poldi fehlt!« meinte Tante Angiolina. Ossana machte eine abwehrende Bewegung:

»Das wird er uns schon erzählen!«

Tante Angiolina blieb noch bei Tisch sitzen. Sie aß langsam und gern, liebte auch ein Glas Roten dazu. Ossana hatte sich zu Margret begeben. Die schlummerte bereits, und nach ein paar Worten an die Schwester, sie solle, sobald nur irgend nötig, sie wecken lassen, ging sie davon. Nun Margret auf dem Wege der Besserung schien, hatte sie sich zureden lassen, zu Bett zu gehen.

Tante Angiolina saß allein im Eßzimmer. Sie dachte an all das wechselnde Menschenschicksal, das sie erlebt, darin sie überall die gnädige Hand der Vorsehung sah. Den Kopf über das weiße Tischtuch geneigt, die Hände gefaltet, überließ sie sich ihren beseligenden Gedanken, die so gern an den Grenzen des Jenseits weilten. Da fühlte sie, daß jemand neben ihr stand, blickte auf und nahm die Hände auseinander. Sie sah den Diener mit der Zeitung in der Hand:

»Vielleicht lesen Frau Baronin?«

Die erste Post nach den Weihnachtsfeiertagen wurde hingelegt. Tante Angiolina stützte den fleischigen Arm auf und sah die Zeitungen durch. Die ausländischen und die Wiener Blätter unterhielten sie nicht. Aber nach den Meranern griff sie sofort. Bedächtig las sie alles, was in Brixen und in Slams geschehen, im Passeier, in Bozen, im Pustertal, im Eppan oder im Vinschgau. Die Politik überschlug sie. Eine Christbaumfeier bei der Reservistenkolonne oder bei den frommen Schwestern im Spital verfolgte sie dagegen mit freudigem Herzen.

Schon war sie mit dem Blatt zu Ende gekommen, als ihr auf der letzten Seite etwas in die Augen stach: »Duell«. Aus Wien ließ sich das Blatt, schon vom vorgestrigen Tage, berichten, was aber wegen des Festes erst jetzt gedruckt stand:

»Heute früh fand in der Praterau ein Duell statt zwischen dem Ulanenrittmeister Grafen A. aus Korneuburg und Baron Heinrich Siebenlehn. (Früher in unserem Kurort.) Wie es heißt, ist der Rittmeister verwundet worden.«

Tante Angiolina ließ das Blatt sinken. Der Poldi und Siebenlehn? Vor ihren Augen erschien das Gesicht mit dem dünnen, blonden Vollbart und den lachenden Zähnen. Sie dachte sofort an Margret, der sie doch hatte versprechen müssen, Nachricht von Poldi zu geben. Sie schmatzte bedauernd und neigte den Kopf mit gerunzelter Stirn hin und her. Diese entsetzlichen Duelle! Diese Vergehen gegen göttliches und menschliches Gesetz! Und der Poldi, gerade der Poldi mußte es sein! Denn der Graf A. war doch der Poldi.

Aber bald gewann die Neugierde die Oberhand. Aha, jetzt wußte man's: also doch ein Duell. Sofort stand sie auf, ging zum Schlafzimmer hinüber. Vorsichtig wollte sie öffnen, aber die Tür kreischte, und je langsamer sie den Flügel zurückdrehte, desto lauter wurde der klagende Schrei der alten Angeln.

Eben hatte sich aber die andere Tür, die zum Gange, geschlossen: die Schwester war einen Augenblick hinausgehuscht.

Tante Angiolina stand im dämmerigen Raum. Margret sah sie aufschreckend an. Und Tante Angiolina, die es weder ertragen konnte, eine Neuigkeit nicht zu erfahren, noch eine zu verschweigen, stürzte an das Lager:

»Da lies!«

Ängstlich fragte Margret:

»Was ist denn?«

Geblendet und erschrocken schloß sie die Augen.

Tante Angiolina dachte: sie darf ja nicht lesen, so begann sie also vorzutragen: »Duell. Wien. Heute früh fand in der Praterau ein Duell statt zwischen dem Ulanenrittmeister Grafen A. aus Korneuburg und Baron Heinrich Siebenlehn. (Früher in unserem Kurort.) Wie es heißt, ist der Rittmeister verwundet worden.«

Sie mußte nah aufsehen bei der halben Dunkelheit und bemerkte so nicht, wie Margret sie anstarrte. Als die Baronin das Blatt sinken ließ, gewahrte sie nur Margrets bleiche Züge und geschlossene Augen. War es zu viel gewesen? Dann dachte sie: sie ist wieder eingeschlafen, du hättest sie nicht stören sollen. Dennoch sagte sie leise:

»Es geht dem Poldi nit schlecht, der Meinhardt kommt ja zurück.«

Fest schloß sich Margrets Mund, sie kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf nach der anderen Seite. Tante Angiolina schlich auf den Zehen hinaus, mit breitem Wiegen ihres schweren Leibes.

Margret war völlig zum Leben erwacht. Sie streckte ihren Körper, wie es auch schmerzte, denn von dem Sturz taten ihr noch alle Glieder weh. Sie dachte: was bedeutet das? Der Poldi hat sich mit dem Schuft geschossen, weshalb? Ihretwegen. Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Es konnte nichts anderes sein. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und er schmerzte. Da stöhnte sie, gerade, als die Tür aufging. Sie sah die weiße Haube und dachte: Wenn die Schwester merkt, daß ich wach bin, wird sie mich fragen, und ich kann nicht antworten, kann nicht, kann nicht! Und wieder dachte sie: Der Poldi weiß es jetzt, und Meinhardt weiß es auch. Ich muß mich rechtfertigen!

Sie suchte den Atem anzuhalten, denn die Schwester blieb einen Augenblick am Bett stehen, um zu lauschen. Endlich trat sie zurück. Mit klopfendem Herzen sah Margret, wie sie, kaum hörbar, es sich bequemer machte zur Nacht. Sie zog die Schuhe aus und stellte sie leise hin. Nun nahm sie die große Flügelhaube ab und bedeckte ihren Kopf mit einem Tuch für die Nacht. Dann trat das hagere, liebe, leise Wesen noch einmal an die Ruhende heran und blieb eine ganze Zeit stehen. Wieder nahm Margret alle Kraft zusammen, sich nicht zu rühren. Die Schwester verschwand. Margret hörte, wie sie Platz nahm im Lehnstuhl hinter dem hohen, geschnitzten Kopfende des Bettes, und die Kranke spannte nun alle Sinne an, daß ihr der wunde Kopf schmerzte, um zu lauschen. Sie vernahm, wie die Schwester sich bewegte, Falten glatt strich. Einmal stand sie sogar wieder auf und kam an das Lager. Dann aber blieb drüben alles ruhig. Und in Margrets Kopf hämmerte unausgesetzt der Gedanke: Wenn er wiederkommt, was werde ich ihm sagen? Denn er wußte es, mußte es wissen! Der Schweiß trat ihr auf die Stirn, und sie griff unter das Kopfkissen, wo sie ihr Taschentuch zu verwahren pflegte. Sie tupfte sich das Gesicht und wandte sich dabei mühsam zur Seite. Mit einemmal dachte sie: Warum kommt die Schwester nicht? Sie muß doch das Knistern des frischen Tuches gehört haben!

Sie schlief! Minuten auf Minuten verstrichen, und immer noch mit klopfenden Adern, den schmerzenden Kopf mit der Linken pressend, versuchte Margret zu horchen. Alles blieb ruhig. Sie meinte sogar deutlich die tiefen Atemzüge der ermatteten Schwester zu hören, die sich nicht einmal am Tage Ruhe gegönnt.

Margret richtete sich auf. Der Rücken tat ihr weh. Sie hätte weinen mögen. In ihrem Kopf stach es, daß sie meinte, sie könnte ihn nicht heben. Und doch bog sie sich empor, stützte sich auf die Ellbogen und kniete in den Kissen. Dann spähte sie durch die Schnitzerei des Bettes. Ihre Augen mußten sich erst an das veränderte Licht gewöhnen. Sie sah nur das halbe Gesicht, konnte aber nicht erkennen, ob die Lider geschlossen waren. Sie sagte sich: Hätte die Schwester herübergeblickt, so müßte sie mich sehen!

Langsam ließ sie sich zurücksinken. Noch immer auf den Knien. Sie fühlte sich so matt. Dunkle Ahnungen zitterten durch ihre Seele: Du siehst ihn nicht mehr! Und Bitterkeit schnürte ihr den Hals zusammen: sie mußte sterben, und er war nicht da.

Und wäre er dagewesen? Wenn er hier eintrat, was hätte er gesagt? Mußte der Schuft sie nicht verraten haben? Bohrend blieb ihr der Gedanke im Hirn und ließ sie nicht los. Da war es ihr, als läge sie still im Bett, die Hände über der Decke gefallet. Ein Kreuz hatte man ihr zwischen die Finger gesteckt und die Laken waren glatt gestrichen. Ein paar verlorene Blumen lagen darauf. Und sie war gelb. Und ein klein wenig hing die untere Kinnlade herab.

So hatte der Papa dagelegen, der erste Tote, den sie in ihrem Leben erblickt. Nun trat Meinhardt ein. Sie sah ihn vor sich, mit seinen ruhigen, lieben Augen. Er wendete den Blick von ihr, er mochte ihr nicht in das tote Angesicht schauen. Sie sah, wie er dastand, den Handrücken an die Augen gepreßt, sie sah, daß er weinte.

Trat er nicht an ihr letztes Lager? Kniete er nicht hin? Nahm er nicht ihre Hand? Doch, jetzt ging er einen Schritt auf sie zu, als wollte er seinem toten Weibe den letzten Kuß auf Stirn und Lippen drücken. Er tat es nicht. Er blieb stehen. Voll Abscheu. Er zitterte. Er schauderte. Er wendete sich ab. Er ging.

Der Gedanke zerschnitt ihre Seele. Sie mußte an sich halten, nicht laut aufzuschreien. Sie ließ die Hände los und fiel mit der Stirn nieder in die Kissen. Kniend begann sie zu schluchzen. Als sie aufschreckte, sah sie noch immer die verschwindende, sich von der Betrügerin abwendende Gestalt ihres Mannes. Immer kam das Bild wieder. Er ging hinaus, stand von neuem da, ging hinaus, stand abermals da und verschwand, um jedesmal zurückzukehren.

Sie lauschte. Jetzt hörte sie das tiefe, regelmäßige Atmen der Schwester. Da fühlte sie, daß – sie sterben mußte. Sie sah Meinhardt nicht wieder, konnte ihn nicht wiedersehen, durfte ihn nicht wiedersehen. Was sie zuerst bewegt, ihm ein Nein zu sagen, was dann jahrelang durch seine Liebe übertäubt worden, wachte jäh auf. Sie wollte aufstehen, das Fenster öffnen, sich hinunterstürzen. Aber sie blieb regungslos. Und allmählich hielt sie es nicht mehr aus in ihrer Stellung und sank langsam zur Seite. Da fielen ihre Augen auf etwas Weißes auf dem Nachttisch. In der unteren Abteilung, in gleicher Höhe wie die Kissen des Bettes lag ihr Block, in dessen Schlinge seitwärts der Bleistift steckte. Darauf rechnete sie mit der Köchin ab, darauf hatte sie die Summen zusammengezählt, die drüben die Kinderbewahranstalt erforderte. Sie wußte nicht, ob etwas darauf stand, griff danach, und immer klarer wurde ihr der Gedanke: Du schreibst es auf, damit er es findet, wenn du gestorben bist. Sie durfte nicht von ihm gehen mit dem Makel, der auf ihr lag. Er sollte sie begreifen, vielleicht würde er ihr verzeihen.

Langsam ließ sie sich auf den Rücken zurücksinken und hielt sich den Kopf, denn sie konnte den stechenden, schneidenden Schmerz kaum ertragen. Sie zog den Bleistift heraus, zwang sich mit aller Gewalt und begann zu schreiben. Im Halbdunkel sah sie kaum, was sie auf das Papier warf. Die Linien wurden schief, sie schrieb durcheinander, machte nicht Punkt noch Beistrich, aber ein Blatt füllte sich nach dem anderen. Sie riß sie ab, drehte sie herum und beschrieb auch die andere Seite. Manchmal konnte sie nicht mehr, ihr Kopf tat zu weh. Aber mit dem letzten Zusammenraffen der Nerven eilte der Bleistift über das Papier. Ein paarmal hielt sie inne. Es wurde ihr dunkel vor den Augen. Sie sah nicht, was sie schrieb. Sie wußte nicht mehr, wo sie war, nur noch in dem einen Gedanken: vor ihrem Mann entsühnt, gereinigt dazustehen. Als sie nicht weiter konnte, machte sie einen langen Strich. Dann versuchte sie einen Satz zum Abschied, aber ihr Hirn versagte: sie kritzelte nur noch mit zitternder Hand.

Dann wandte sie sich mit letzter Anstrengung herum, legte den Block wieder an seine Stelle, griff die Papiere zusammen und faltete sie, wie es eben kam. Sie wollte das Fach aufziehen, doch dazu hatte sie nicht mehr die Kraft. So schob sie den Stoß unter das Kopfkissen. Sie war naß, triefend von Schweiß. Sie wollte nach dem Taschentuch greifen, doch mit leisem Seufzer sank sie zurück.

Es hämmerte in ihrem Hirn: sie wollte Meinhardt noch flehender bitten, ihr doch zu verzeihen. Ihr war in Gedanken, als ob sie den Block wieder nähme, sich aufrichtete, hinkniete und schriebe – aber während das überreizte Hirn sich das vorgaukelte, blieb sie regungslos liegen. Und dann wußte sie nichts mehr. Ihr schien nur noch, als ob die Schwester neben ihr stünde. Sie meinte Ossana zu sehen. Gestalten schwirrten um sie, und sie sagte leise:

»Ruhe!«

Dann dämmerten Schatten über sie gebeugt. Wer war es? Die Tür ging: Meinhardt. Das gleiche Bild wie vorhin kam unausgesetzt wieder. Abermals öffnete sich die Tür, und er trat ein. Sie schloß sich wieder und öffnete sich. Er kam zurück. Und immer dieses Öffnen und Schließen und Auf-sie-zugehen, daß sie mit einem langen Seufzer sprach:

»Ruhe.«

Sie standen um das Bett: der Arzt, die Schwester, Ossana und am Fußende Tante Angiolina. Es roch nach Kampfer. Auf dem Tisch lag die geöffnete Ärztetasche. Leise ging eine Tür. Ossana eilte hin und gab einen Befehl. Dann blickte sie auf das Gesicht der Sterbenden, und als zum letztenmal, wie ein Hauch nur: »Ruhe« klang, beugte sie sich nieder, aber sie konnte das Wort nicht verstehen.

Margret rührte sich nicht mehr. Da sie lange unbeweglich blieb, ging über Tante Angiolinas bekümmertes Gesicht ein freudiger Zug. Der Arzt hatte den Puls losgelassen. Er behorchte das Herz.

Tante Angiolina sagte: »Sie schläft.«

Doktor Kürschner wandte sich herum und trat vom Bett zurück:

»Ja, auf ewig!«

Die Schwester sank nieder und faltete die Hände. Man sah im Hintergrunde eine Stola blinken. Der Diener und seine Frau erschienen, von Theres geleitet. Ossana drückte Margret die Augen zu, wie sie es beim armen Papa getan. Tante Angiolina blickte sie hilflos an. Dann begann die vollblütige Frau plötzlich zu wanken. Ossana führte ihre Mutter in das Nebenzimmer. Sie sagte nur:

»Und Meinhardt ist nicht da!«


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