Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Neunzehntes Kapitel

Tagelang waren Meinhardt und Margret nun schon in Innsbruck. In der Hofkirche standen sie vor Peter Vischers König Artur und vor dem Grabmal des Andreas Hofer, dann zeigte er ihr den Berg Isel, wo die Tiroler Anno neun um ihre Freiheit gekämpft, oder sie bummelten in Hall umher. Zuletzt begeisterte sich die junge Frau am Schloß Ambras. Für Philippine Welser hatte sie eine schwärmerische Liebe. Nie genug konnte sie hören, welch gute Gattin die Patriziertochter ihrem Erzherzog gewesen, und wie er sie dafür auf Händen getragen.

Sie hatten die anderen Menschen vergessen. Er lebte nur seiner Frau, er dachte allein an sie. Von den bayrischen Königsschlössern, deren Pracht Margret staunend besah, schenkte er ihr Abbildungen, und wie sie nach München kamen, suchte er ihr jeden Wunsch an den Augen abzulesen.

Er zeigte ihr die Sammlungen, sie besuchten die Wagner-Aufführungen im Prinzregenten-Theater und den Mozart-Zyklus. Ab und zu schien es ihr zu viel zu werden, dann erriet er es, und sie verbrachten einen stillen Nachmittag mit einer Automobilfahrt. War sie glücklich, wenn sie im Kraftmagen saß! Aber sie ahnte, daß er, der auf der großen Hochebene hinter der Rochusburg »Haflinger« zog, im Grunde genommen Pferde lieber hatte, und bat:

»Und doch, Meinhardt, behalt die Ross', schaff' kein Auto an!«

Wie war diese Frau sein geworden! Wenn er Entscheidungen überdenken mußte, die er, seine Post erledigend, dem Verwalter schrieb, saß sie still dabei und wollte nicht unterhalten sein! Legte er aber dann die Geschäfte beiseite, wurde er lustig und aufgeräumt, so begannen auch ihre dunklen Augen, die sonst ernst geblieben, zu lachen und sich zu freuen.

Nach den Tagesfahrten, noch angeregt von dem, was sie gesehen, sprachen sie oft stundenlang alles durch, so daß sie am anderen Morgen nicht so zeitig aus den Federn kamen, wie sie sich vorgenommen. Ihre Seelen näherten sich mehr und mehr, doch je reicher er ihr von seinem Innern schenkte, desto häufiger gab es Augenblicke, wo eine leichte Traurigkeit, fast nur süße Sehnsucht, über sie fiel. Da öffnete auch sie ihr Herz und begann ihm aus der Kindheit zu erzählen.

Er neigte den Kopf dicht zu ihr:

»Was doch in einem Auge alles liegt! Bis in die Tiefen deiner Seele schau' ich! Wenn i da drin nicht lesen könnt'! Von allen Armen hab' ich das größte Erbarmen mit den Blinden.«

Aber trotz dem Herrlichen, das sie in München genossen, gestanden sie sich in dem gleichen Atem, daß sie eigentlich Heimweh empfänden nach Haus. Sie reisten ab. Doch als sie den Brenner überschritten hatten und sich schon Bozen näherten, gedachten sie bei der Mittagsglut der kühlen Abende Münchens, und mit jähem Entschluß schlug er vor, noch ein paar Tage am Karersee zu verbringen.

Nun ging es durch all die Herrlichkeit der phantastischsten Dolomitenformen, und immer sagte sie:

»Was i durch dich alles zu sehen bekomm'! I hab's doch nit verdient.«

Zum ersten Male in ihrer Ehe wurde er ärgerlich:

»Margret, tu mir einen Gefallen und red' nit immer so!«

»Aber wenn's so is!«

»'s is nit so! I mag nicht, daß du dich immer herabsetzt.«

Sie fühlte sich ein wenig gekränkt durch den unwilligen Ton, den er angeschlagen, und wollte widersprechen. Dann wieder ward ihr warm bei dem Gedanken an das Glück, das sie bei diesem Mann gefunden, und die Möglichkeit, mit einem törichten Worte alles zu zerstören, nahm ihr den Mut. Was eben fast an die Oberfläche gekommen, verschwand wieder in den dunklen Tiefen der Seele. Ihr Wille regte sich, festzuhalten, was sie sich erworben.

Darum sagte sie einmal ängstlich: »Meinhardt, du meinst immer, alles vergeht auf der Welt. Bleibst mir auch gut? Immer?«

»Aber, Margret, hast du denn Angst, ich möcht' mich von dir wenden?«

Sie flüsterte:

»Das ertrüg' i nit. Dann müßt' man ja an der ganzen Welt verzweifeln! Du kannst doch nicht sein wie ... alle. Nein, du, das weiß ich, du bist anders!«

Er war erstaunt. Lag so etwas in ihr? Und er meinte sie doch jetzt so genau zu kennen! Aus dem Untergrunde seiner Seele tauchte etwas auf, ihm noch ganz unbekannt.

Sie sah starr vor sich hin, als schiene der unfaßliche Gedanke sie immer noch zu ängstigen, dann fuhr sie auf:

»Wenn man denken sollt', nichts blieb' auf der Welt, alles wär' nur für den Augenblick, möcht' man da nit verzweifeln an Welt und Menschen?«

»Margret, du schaust mi so ängstlich an? Du hast vielleicht manches g'sehen und erlebt... ich will der Tochter nit weh' tun... Du verstehst mich schon. Aber schau, darum sag' ich eben: es kann nicht immer Siedetemperatur sein, auch die Lieb' bleibt nicht ewig auf gleicher Höhe stehn! I sag dir's noch amal: alles ändert sich, alles wird neu, so auch die Beziehungen zwischen Menschen, und wenn sie noch so eng sind. Das Menschenherz wird anders, und auch i bin schon anders worden. Nit, daß man sich loslassen tät', voneinanderginge deswegen. Na, nur das Tempo wird ruhiger. Ich seh' in allem den ewigen Wechsel, aber auch die ewige Wiederkehr. Sei nicht bös, wenn i amal biss'l ernst red'.«

Sie meinte leicht gekränkt:

»Das ehrt mich doch...«

Er fuhr fort:

»Ja, Margret, nix bleibt, alles wandelt sich. Auch die Natur, 's is nit bloß der Wechsel der Jahreszeiten, die wir, wenn's viel ist, in unserem Leben ein paar Dutzend Mal erleben. Nein, die ganze Schöpfung ändert sich, wenn sie auch eine längere Dauer hat wie wir armen, kleinen Menschen. Was wir in dreißig, in vierzig, in sechzig Jahr' mitmachen, dazu braucht sie so viel Milliarden Jahre. Die Berg' da sind einmal nit gewesen, und die Berg' gehen auch wieder. Regen und Schnee, Sonne und Kälte arbeiten an ihnen, tragen sie ins Tal, alle Tag', alle Stunden, in jeder Sekunde. Das Antlitz unserer Erde täten wir in Milliarden Jahren vielleicht nit wiedererkennen! Alles verändert sich, und auch wir. Mir werd'n älter, wir merken's kaum. Kein Augenblick unseres Daseins kehrt genau so zurück; so kann auch das Gefühl der Liebe, das ich für dich hab', nicht so sein, wie's am ersten Tag' war, und 's is auch nit so, ist nit genau so geblieben.«

Sie sah ihn fast erschrocken an. Doch er lächelte ruhig und beruhigend:

»Ja, die Lieb' ist wandelbar, und auch unsere Lieb' hat sich gewandelt. Wie unser Körper abgenutzt wird, unsere Gefäße verkalken, das Jugendfeuer im Alter matter brennt, um endlich zu erlöschen, wenn nicht ein Ereignis vorher ihm ein jäheres Ziel setzt, so ist's mit der Liebe zweier Menschen. So war's bei mir. Erst leise keimende Sehnsucht, dann Gewißheit, Ruhe. Ich hab' gedacht: ich hab' Zeit, du kommst doch zu mir. Ich hab' dich g'fragt, und du hast nein g'sagt. Verzweiflung – alles zu Ende. Aber die Zeit ging weiter, und wie i wieder zu dir gekommen bin, da hast du ja g'sagt. Und dann haben unsere Seelen einander entdeckt, gefunden, wenn's auch lang' gebraucht hat. Und aus der heißen Glut des Anfangs hat werden müssen und ist geworden Freundschaft! Freundschaft aber – glaub' mir, Margret – wird uns von Tag zu Tag mehr aneinander binden. Dann werden wir 'was Gemeinsames haben: die Vergangenheit, die Erinnerung. Wenn die Pflichten des Tages an uns herantreten und Ungemach kommt, Schwierigkeiten, allerhand kleines und großes Leid, das kei'm erspart bleibt, so wirb uns das ändern. Jedes Ereignis, sei's froh oder trüb', läßt in uns eine Narbe zurück, nimmt uns 'was weg von unserer Lebenskraft, bringt uns weiter und führt uns doch unrettbar dem Ende aller Dinge entgegen. Es wandelt uns. Ein Tor, wer meint, 's könnt auch nur ein Augenblick bleiben ober gar sich wiederholen. Margret, das war' das entsetzlichste Geschenk, das uns Gott machen könnt'. Wenn wir glauben, es bleibt etwas, so irren wir uns, denn das einzig Beharrende ist die Entwicklung. Die hört nie auf. Aber soll sie uns auseinander treiben? Nein, Margret, nicht voneinander entfernen, immer mehr uns nähern soll sie. Immer besser werden wir eins das andere verstehen. Und in einer solchen Wandlung, Margret, wird nie ein Stillstand sein. Nie hat man Zeit, wirklich zurückzuschauen auf den Weg, den man schon zurückgelegt hat, nie tät' mich – abgesehen von dem, was wir miteinander erlebt haben – die Vergangenheit erregen, nie würd' ich danach fragen können, denn –«

Er ließ ihre Hand los und bewegte die Arme nach beiden Seiten, als zeige er die Erde rund um sie:

»Da herunten gibt's so viel zu tun, so viel zu denken, zu streben, wir müssen beide so ineinander wachsen und immer Neues miteinander erleben, und wär's auch nur das Altern und endlich der Tod, daß zum Rückschauen keine Zeit bleibt. Zwei Geschenke hat uns der Schöpfer in die Wiege gelegt, als er uns das Leben gegeben hat: einmal, daß wir uns fortwährend entwickeln müssen bis zum Ende, dann aber: das Weise, das Gnädige von ihm, daß keiner, wer es auch sei, wissen kann, wann dies Ende kommt! Müßte sonst nit alles aufhören: Glück und Streben und Arbeit? Täten nit sonst vielleicht wahnwitzige Menschen meinen, sie müßten schnell, noch bevor's sterben heißt, sich ein albernes, ein lächerliches Glück holen? Und dann der Tod, Margret! Ist der wirklich ein Stillstand, ein Ende? Geht nit auch da die fortwährende Wandlung weiter? Geht die Materie, aus der wir bestehen, nicht in andere über? Wird je ein Arzt dir sagen können: jetzt, wo der Tod eingetreten ist, gibt's wirklich einen Moment des Stillstandes? Auch der Tod ist nur eine Umbildung aus Fleisch und Muskeln und Knochen über Verwesung zum Staub! Und blüht nicht aus dem Staube wieder neues Leben? Düngen wir nicht mit zerfallenden Leibern die Erde zu neuen Keimen? Margret, eine Wandlung gibt's, aber kein Ende! Wie es heißt ›die Liebe höret nimmer auf‹, so ist das Leben.«

Er war warm geworden, wie er sich ein wenig verloren in Gedanken, die er sich zurechtgelegt und ausgesponnen in den Jahren des Alleinseins. Sie sah ihn erstaunt an. Und als er einen Augenblick schwieg, fragte sie:

»Du hast nur vom Körper geredet, aber die Seele?«

Er sann eine Sekunde nach. Wenn er auch die Forderungen der Kirche erfüllte, war er doch nicht von der Buchstabengläubigkeit wie seine Frau. Er hatte sie wohl immer zur Messe begleitet, hielt auch darauf, das Sakrament zu ehren und seine Diener zu achten, doch seine Gedanken schwangen manchmal weiter aus:

»Ich hab' Glück g'habt mit dem Pater Cyprian, der uns erzogen hat. Das war kein engherziger Priester, sondern ein Mann von Herz, Verstehen für alles, ein Mann mit weitem Gesichtskreis. Der hat oft über die Beichte goldene Worte gesprochen. Er war aber nicht auf der Seite derer, die in der Beichte, wie Friedrich Theodor Vischer einmal gesagt hat, ›eine leichte, aber seichte Manier der Schuld sich zu entladen‹, sehen. Pater Cyprian hat die Absolution erteilt nur unter einer Bedingung, die dem Geistlichen ja vorgeschrieben ist, die er aber fast auf die Spitze trieb: mit sich selbst ins Reine kommen. Nur dem, der selbst etwas überwunden hat, nicht dadurch, einfach in den Beichtstuhl zu treten und zu sagen, daß es ei'm leid tut, dem hat er die Sünde abgenommen. Und hat er nit recht gehabt? Sollen wir ewig an etwas kranken? In dem Grundsatz, daß das Leben gelebt werden muß und nicht ewig die Vergangenheit lähmend auf uns liegen kann, in der Erkenntnis, die auch dem Heiden und Gottesleugner eigen ist, gipfelt im Grunde genommen das, was der Pater Cyprian gesagt hat!«

Meinhardt atmete tief und fuhr in etwas anderem Tone fort: »Aber das klingt ja, als ob wir schwere Verbrecher wären. Schau, Margret, das ist auch eine Wandlung: vor einem halben Jahr, ja vor einem Vierteljahr noch hätt' ich dir einen Kuß gegeben, aber nit sowas g'sagt. Und ist dir's nit lieber, daß ich jetzt sowas sag'? Bist nun beruhigt, Margret, wenn ich sag', auch die Liebe wandelt sich?«

Sie blieb mitten auf dem Wege stehen, und ohne auf Menschenaugen und Ohren zu achten, schlang sie ihm die Arme um den Hals. Dann schritten sie dem Hotel zu im gleichen Tritt.

Und einige Tage später, als der Wagen sie nun wieder hinaufführte zur alten, lieben Rochusburg, war es Margret, als käme sie in ein neues Haus, denn alle Schatten dunkler Vergangenheit schienen hinter ihr versunken.


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