Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ossana hieß in Meran jetzt nur noch die »arme Ossana«! Wenn man die Damen fragte, weshalb, so meinten sie mit aufgehobenen Händen, einem traurigen Nicken und schwermütigem Schließen der Lider: »Sie ist so arm!« Aber man erfuhr nie, warum sie eigentlich »so arm« sei.

Die Arme mauerte sich ganz ein. Es war, als gäbe es überhaupt keine Bekannten mehr. Das Klavierspiel war während des alten Barons Krankheit liegengeblieben, und sie nahm es nicht wieder auf.

Sie erschien auch nicht bei den Beileidsbesuchen, die Tante Angiolina erhielt. Stundenlang konnte die den Leuten von ihrem Leid erzählen, von aller Güte ihres Leopold, als hätten sie vom ersten bis zum letzten Augenblick einträchtiglich miteinander gelebt.

Bei den Gegenbesuchen wurde bei einer Tasse Tee dann der gleiche, unerschöpfliche Gegenstand besprochen, wie es gekommen, wie man ihn gefunden, ob er gelitten, wie er ausgesehen. Tante Angiolina hatte man nie »arm« genannt, als brauche man sie nicht allzusehr zu bedauern.

Nun begann ein bitteres Gefühl sich ihrer zu bemächtigen. Sie fand sich vernachlässigt: das Schicksal fast aller Witwen ging an ihr nicht vorüber, daß sie einen Rückschritt im Leben tat. Ihretwegen kamen nur die Klatschbasen, die verheirateten, verwitweten und unvermählten alten Jungfern, die anderen Leute hingen im Grunde am alten Baron, mit seinem Lächeln und seinen verschmitzten Äuglein.

Die Witwe saß oft stundenlang in der Kirche und hielt am Marienaltar im geheimnisvollen Dunkel ihr Schläfchen. Auf dem Heimwege ging sie zum Pfarrer. Den suchte sie jetzt immerfort heim. Jede Woche fand sie einen neuen Grund: sie wollte wegen des Grabes ihres Mannes etwas besprechen, ein anderes Mal noch Seelenmessen lesen lassen, endlich fragen, ob ein Buch, das ihr empfohlen worden, auch nicht Gift sei.

Tante Angiolina bekam bald nur noch Besuch alter Weiblein von den Nachbarhöfen und aus der Gemeinde. Diese hatte sie in der Kirche angesprochen, jene beim Pfarrer getroffen, welche im Spital oder bei den Ursulinerinnen kennengelernt, auch vom Friedhof her, wo sie ihres Mannes Grab pflegen ging, kannte sie etliche. Die alten Weiblein kamen fast täglich mit ihren knöchernen, gelben, verdorrten Fingern und runzligen Gesichtern, lieb und verhärmt so manche, der die Sonne im Leben nur karg gelacht oder gar nie geschienen. Andere freilich bösartig, mit Nasen, Augen und Kinnhaar alter Hexen. Vielleicht waren sie früher einmal hübsche »Gitschen« gewesen, und irgendein Leid, das ihnen die Mannheit oder das Leben angetan, hatte sie verbissen gemacht, daß sie sich nun rächten durch Gift und spitze Junge. Ein Kopftuch trugen sie über dem Haar oder einen vorweltlichen Hut mit staubigen, nickenden Blumen; welche liefen im glatten Scheitel einher, den Kamm hinten im Haar, den Sonnenschirm aufgespannt wie Tante Angiolina. Graue oder schwarze Schals hatten sie umgeschlagen, und je weniger die Bekannten aus der Durazzischen Weltzeit in Göllan sich zeigten, desto häufiger wurden die alten Weiblein.

Meinhardt hatte der Stiefmutter geschrieben, sie solle doch einmal kommen, aber Gräfin Aich wollte die Rochusburg nicht wiedersehen. Sie schrieb dazu:

»Das sind nur Gedanken, wie ich sie jetzt habe. Verschwören will ich nichts, denn die Rochusburger sieben Jahre, die sich in nicht allzu ferner Zeit verdoppelt haben werden, liegen weit hinter mir. Ich habe mir hier in Wien ein neues Dasein geschaffen. Je älter man wird, desto mehr übersieht man die Stationen seines Lebens. Sie ruhen im Kasten meines Gedächtnisses abgeschlossen, jede für sich: die Kindheit, die Jahre mit meinem Papa, die Liebe, die Entsagung, die langen Jahre wieder allein, die paar des Glücks, und nun wieder allein. Und wie lange noch? Aber glaube nicht, daß ich Todesgedanken hätte. Ich bin nicht sentimental veranlagt, bin außerdem gesund. Doch, das sage ich Dir, Meinhardt, zur großen Reise jeden Tag bereit, denn oft finde ich, es ist nicht viel daran am Leben, mehr Bitternis als Herrlichkeit. Aber dann wieder, wenn das Fenster meiner Stadtwohnung offensteht und ich in dem winzigen Ding von Garten – ›Garten‹ steht in meinem Mietkontrakt – die paar Bäume sehe, die nicht so recht fortkommen, und es piepst mal ein Vöglein, wenn's auch nur ein dummer Straßenspatz ist, und ich sehe ein Stück blauen Himmel, – Meinhardt, dann sag' ich mir doch: es ist schön auf der Erde! Wenn nur die Menschen nicht wären; ich hab' jetzt hier welche erlebt, pfui Teufel! Da macht einer hier von sich reden, den Ihr gewiß aus Meran kennt, ein Baron Siebenlehn. Der Onkel war Statthalter, soviel ich mich erinnere. Er hat lange in Meran gelebt. Geschieden ist er. Ein hübscher Kerl. Der läuft hier mit der Frau eines Rumänen herum, der krank zu Haus liegt. Und die liebe Gattin amüsiert sich. Es ist lächerlich, wie klein doch eine so große Stadt wie Wien ist: jeder Mensch weiß davon. Man sieht sie im Theater, sie soupieren zusammen – ich komme ja nicht heraus, aber man erzählt es mir – und alle Welt regt sich darüber auf. Dabei soll die Frau liebe Kinder zu Hause haben! Aber darf man wegen ein paar Lumpen an den Menschen verzweifeln? Da wohnt in meinem Haus – ich erfuhr es erst vor kurzem, man weiß ja glücklicherweise nicht, mit wem man im gleichen Hause wohnt – ein Ehepaar. Sie haben nur zwei Parterrezimmer. Sie ist gelähmt. Der Mann kocht, putzt, wischt auf, fährt seine Frau im Rollstuhl spazieren, und dann schreibt er noch historische Aufsätze, um ein biss'l Geld zu verdienen. Der Mann ist noch nicht alt, aber er geht nicht soupieren mit fremden Frauen und läuft nicht ins Theater. Kann einen das nicht mit den Menschen versöhnen? Ich würd' ihnen so gern helfen, aber natürlich wird nichts angenommen. Wenn Ihr mich besucht, werdet Ihr die beiden vielleicht sehen. Wollt Ihr nicht den Sommer einmal kommen?«

Meinhardt hatte den Brief seiner Frau gezeigt. Sie gab ihn zurück:

»Lump! Sie hat recht!«

Er sagte:

»Lumpen!«

»Das hab' ich gemeint.«

Nicht mit einem Wort kam sie darauf zurück, nur doppelt zärtlich war sie gegen Meinhardt, doppelt bemüht, ihm zu zeigen, wie dankbar sie ihm war.

Inzwischen hatte bei Rudi und dem Henrietterl ein zweites kleines Henrietterl lachend das Licht der Welt erblickt. Die Rochusburger fuhren nach Göllan, es zu melden. Tante Angiolina war wie jetzt meist nicht zu Haus. Meinhardt fand es nicht recht, daß sie die Tochter so viel allein ließe, doch Ossana verteidigte die Mama:

»I hab' meine Beschäftigung, i brauch' keine Menschen.«

Da hielt Margret den Augenblick für gekommen, ihr einen nun sicheren Plan mitzuteilen. Sie sah dazu ihren Mann strahlend an:

»Wir wollen dir einen Vorschlag machen, – willst du uns diesen Sommer auf vier Wochen begleiten?«

Ossanas Blick ging zuerst zu ihrem Schwager.

Sie zögerte noch eine Sekunde, dann reichte sie Meinhardt zögernd die Hand und umarmte Margret.

Des lieben Papas alter Baedeker wurde hervorgesucht. Auf der Karte verfolgten die Schwestern mit dem Finger den Weg, wie Meinhardt ihn bezeichnete. Manchmal rief Margret: »Ein' Augenblick!« Ossana aber, regeren Geistes, hatte schon den Punkt. Ja, sie brauchte nicht einmal auf die Karte zu sehen, und es kam heraus, daß sie jeden Ort kannte, wo Meinhardt geweilt. Während er nun von den schönen Gegenden erzählte, die er den Schwestern zeigen wollte, streichelte Ossana Margrets Hand.

Dann begann sie von Tante Angiolinas Absicht, den Schleier Zu nehmen, als teile sie etwas mit, das ganz unter ihnen bleiben müßte. Der Gatten Blicke trafen sich. Meinhardt fand den Klostergedanken nicht recht, Ossanas wegen.

Doch da ging Ossana die Zunge auf: sie erzählte, wie der Verkehr mit den alten Weibern überhand genommen, wie die Mama kaum mehr mit ihr redete, um Göllan sich nicht kümmerte, und oft, wenn sie ein frommes Buch gelesen, stundenlang dasitze, vor sich hinstarrend, die Hände gefaltet, während ihre Lippen leise sich bewegten. Mit einemmal sprang Ossana auf:

»Ist das ein Leben? Ist das meine Mutter? Was hab' i davon? Oh, i möcht' fort, i möcht' fort!«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Meinhardt schien der Mädchenausbruch in seiner eckigen Übertreibung zuerst ein wenig lächerlich, doch als er seiner Schwägerin Schluchzen hörte, begann er ihr zuzureden. Er fand aber keine andere Art, als sie zu loben, und da bei seinen ersten Worten Ossana noch stärker zu weinen begann, erzählte er Margret, wie Ossana mühsam aus Büchern doppelte Buchführung gelernt und sich vom Rochusburger Rendanten alles hatte zeigen lassen.

Unter seinem Lobe rannen Ossanas Tränen milder. Ihre Schultern zuckten nur noch leise, doch sie verbarg noch immer ihr Gesicht an Margrets Schulter. Allmählich wußte Meinhardt nichts mehr zu sagen. Wenn er von seiner Frau sprach, fand er kein Ende. Die Liebe der Ehe, die sie unlöslich aneinander kettete, ließ den Strom seiner Rede nie versiegen. Das verwandtschaftliche Gefühl aber, das er seiner Schwägerin entgegenbrachte, hatte nicht solch langen Atem. Doch das Werk war getan, Ossana schien beruhigt, ihre Tränen perlten nicht mehr, nur die Lider waren gerötet, und die zarten Nasenflügel bebten.

Kaum waren die Rochusburger eine Viertelstunde fort, da klang auf der Marmortreppe der schwere Atem Tante Angiolinas. Sie war noch stärker geworden. In den Zeiten, da sie nach Meran gefahren zu Einkäufen und Besuchen, hatte sie mehr Bewegung gehabt, die nun dem zum Dickwerden neigenden Körper fehlte.

Sie trat ins Wohnzimmer, an dessen verlassenem Schreibtisch Ossana mit ihren Wirtschaftsbüchern saß, mit Papas Tintenzeug und Federn schreibend, mit seinem alten Lineal unterstreichend, und radierend, Bleistift spitzend mit seinem Federmesser, dessen Elfenbeinschale fast braungelb geworden war. Tante Angiolina setzte sich aufs Sofa. Ihr Gesicht war rot, sie stützte müde den Kopf in die Hände, und wie das Licht nun auf ihren Scheitel fiel, sah man, daß ihr Haar, das noch vor zwei Jahren keinen grauen Faden gehabt, einen weißen Schimmer zeigte.

»Die Meinhardts sind dagewesen!« erzählte Ossana.

Doch Tante Angiolina machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung: »I muß dir was sagen, mia cara, komm her!«

Ossana stand auf. »Setz' dich hin.«

Sie nahm der Mutter gegenüber Platz.

»I hab' eben mit dem Herrn Pfarrer ein sehr ernstes Gespräch gehabt. Du weißt, liebes Kind, i hab' schon einmal mit dir gesprochen. I bin zur Erkenntnis gekommen, daß dieses Leben voller Verderbnis ist. Von den höchsten Gütern ist nicht die Rede, nur von irdischen. Sie suchen allein Geld zu erhaschen. Nicht nur die fremden Menschen, die hergekommen sind, nein, tief ist bei uns die Krankheit eingefressen, von den Fremden wie eine Seuche hergetragen. Drüben im Theater spielen sie oberflächliche oder gar schmutzige Sachen. Auf der Promenad' unterhalten sie sich bei seichter Musik. Und die Frauen verderben durch Luxus und Beispiel den einfachen Sinn unseres Volkes. Es frißt von Hof zu Hof, von Berg zu Berg, von Tal zu Tal. Geld ist zwar hereingekommen, aber« – sie schlug die rundlichen Hände zusammen – »was bedeutet Geld! Sollen wir unser Herz allein an vergängliche Güter hängen? Ich weiß, was ich denke, und daß ich recht hab'! Wenn auch der Herr Pfarrer nit ganz meine Ansicht teilt! Dieser Mann ist vielleicht etwas weltfremd. I aber kenn' die Welt. I weiß, daß sie nix ist als Schamlosigkeit, Betrug und Unfrieden. I will nun endlich Frieden haben wie der liebe Papa. Und da i ihm nit nachfolgen kann, weil Gott mich noch nicht abruft, hab' i eben den Gedanken, dorthin zu gehen, wohin der Schmutz dieses Lebens nicht dringt, wo alles Niedrige schweigt, wo es nur eines gibt: die Vorbereitung auf das dereinstige ewige Leben. Das alles hab' i dem Herrn Pfarrer gesagt. I bin ein biss'l mit ihm aneinander geraten, er hat derbe Worte gebraucht, der hochwürdige Herr versteht nit das Leben. Aber i bin nur ein armes, geschlagenes Weib, und er kennt besser die heiligen Gebote unserer Kirche als i. Er hat mir gesagt, für mich sei bei den Ursulinerinnen kein Platz, solang' i noch Pflichten auf der Erd' zu erfüllen hätt'. Und i hab' doch niemand, niemand!«

Ossana saß ihrer Mutter steif und fremd gegenüber. Bei den letzten Worten zuckte sie zusammen. Sie wollte ihr entgegenschreien:

»Du hast doch mich, deine Tochter!«

Aber sie tat es nicht. Etwas Fremdes war auch über sie gekommen. Und als nach der großen Rede Tante Angiolina aufstand, um auf ihr Zimmer hinaufzugehen, blieb Ossana zurück und starrte ihr nach, als sich die Tür schon längst geschlossen.

Auch Ossana begriff, wie einsam jeder für sich im Leben steht. Keine Brücke war zu ihrer Mutter geschlagen. Kein Wort mehr tönte vom Munde ihres Vaters, der mit einemmal stumm dagelegen, da sie doch eben erst mit ihm Gedanken getauscht. Sie dachte an ihre Schwester. Sie fühlte noch das Atmen der Brust, daran sie sich geschmiegt. Auch dieses Herz schlug Meinhardt näher als ihr. Ja, sie stand ganz allein auf der Welt. Ihr kamen Gedanken an Männer, die sich ihr genähert, und in allen Bitternissen ihres Sinnens hätte sie beinahe laut aufgelacht, als sie sich an des Rudi Erklärung erinnerte. Und heute? Ja, alle Seelen irrten allein ihre Bahn, wie Sterne im Weltenraum, gleichen Gesetzen unterliegend, von irgendeiner Kraft in Schwung gebracht, aber jeder für sich und vom andern so weit, wie nur eben Menschen sein konnten.

Sie dachte an Meinhardt, den sie vom ersten Augenblick an, da ihre erwachsenen Augen ihn erblickt, als den empfunden, nach dem all ihre Sinne, Verstand wie Herz drängten. Doch in ihr kochte nicht mehr jene Glut, die ihr fast Haß gegen ihre Schwester ins Herz getrieben. Sie dachte an ihn wie an ein liebes, fernes Licht, das sie etwa jeden Abend an der gleichen Stelle erblickte, dort oben auf der Rochusburg, aber das sie nichts anging.

Andere Gestalten tauchten auf: einer aus Deutschland, ein lieber Mensch, der ihr tief in die schwarzen Augen geblickt – und dann war er eines Tages verschwunden. Wer weiß wohin? Nur von weitem hatten sie sich gestreift, etwa wie Züge, die aneinander vorübersausen, einen Augenblick sichtbar, ganz nah, daß man ihr Rattern hört und die Gestalten in den Wagen als Schatten sieht, dann ein Lufthauch, der einem entgegenweht, alles ist verschwunden, und unerbittlich nach verschiedenen Richtungen geht die Fahrt weiter, entfernter von Sekunde zu Sekunde. Ihr fiel ein Landsmann ein, aus der grünen Steiermark, dessen Seele sich ihr fast geöffnet. Und doch war es nur ein Blitzen aus dem Herzensschrein gewesen, daß sie nicht einmal wußte, welches Licht darinnen glomm. War es wirklich ein Licht, gab es nicht kalte, öde, erloschene Menschen? War sie nicht ebenso? Ihr schien alles zwecklos, gleichgültig, erstorben.

Als sie an dem Abend in ihrem stillen Zimmer lag, die Decke übergezogen, und vergebens den Schlaf suchte, sagte sie sich: jetzt lebte sie nun eine Spanne Jahre. Wurde es anders in drei, vier, fünf, zehn. War es nicht gleichgültig, wie lange noch? Ja, wenn sie eine große Begabung gehabt hätte! Aber ihre spielerischen Neigungen zu den Künsten erschienen ihr jetzt beinah verächtlich. Und wozu sich mühen hier, das Einkommen zu mehren? Mama verließ sie doch über kurz oder lang. Hatte Margret nicht genug? Er sorgte ja für sie, er, er.

Ihre Gedanken mündeten immer wieder bei ihm, doch ohne Eifersucht gegen ihre Schwester. Und sie fühlte sich so einsam und verlassen, so unglücklich, daß die Stille der Nacht ihr keine Ruhe gab, sondern doppelt sie bedrängte. Sie stand auf und saß auf dem Bettrand. In Gedanken rieb sie sich die bloßen Arme. Einmal vor langer Zeit, auf einem Ball, hatte ihr eine junge Malerin gesagt, sie seien selten schön geformt. Wie die Erinnerung ihr kam, trat sie vor den Waschtisch an den Spiegel, durch den noch immer der lange Sprung lief. Und beim nicht eben hellen Schein der einen Zehnerkerze, die hier im Schlafzimmer nur gespendet worden, wandte sie sich hin und her und besah ihre Gestalt.

Plötzlich überkam sie, als regten sich ihre Sinne, eine unbestimmte Sehnsucht, daß sie zitterte und eine Gänsehaut über ihren Körper lief. Sie gewahrte: das Fenster stand offen. Das brachte sie zur Wirklichkeit zurück – vielleicht konnte man sie von draußen erblicken. Mit einem Sprunge trat sie rückwärts, löschte das Licht und spähte vorsichtig in den Garten hinab. Sie sah die Steinbank aus dem Grün heraufschimmern, sah ein paar der Büsche und Bäumchen, an denen der arme, liebe Papa seine seltsamen Verschönerungsversuche vorgenommen. Man merkte nicht mehr viel davon: die Natur half sich immer. Sie hatten neue Triebe hinausgeschickt, und wenn sie auch die alte Schönheit nicht wieder erreicht, so waren sie doch wieder grün und voll.

Ossana drängte es hinaus. Sie zog sich hastig an, öffnete die Tür und schlich sich auf den Zehen, wie einst der Papa, über die knarrende Diele die Stiege hinunter. Ossana, auf dem Lande aufgewachsen, fürchtete sich nicht in der Nacht. Es war kein Mondschein, doch sternenhell. Sie ging die Treppe hinab auf den Hof, dann um das Haus herum in den Garten. Papas schweren Stock, mit der Eisenzwinge und der rundgebogenen Krücke zum Überhängen am Arm, hielt sie in der Hand. Langsam schritt sie die Wege hinauf und machte halt unter den Kastanien, wo ein Ausblick war über das Tal. Hoch oben schimmerte das weiße Gemäuer der Rochusburg, tiefer unten das dunklere des Schlosses Katzenstein. Es wurde Ossana warm bei dem Gedanken an die Sommerreise und die erstorbene Lebenslust wachte wieder auf. Ihr fiel der Baedeker ein. Sie wollte noch einmal alle Punkte durchgehen, wohin die Geschwister sie mitnähmen. Der fröhliche Gedanke trieb sie eilig ins Haus.

Sie ging um den Ansitz herum, in den Hof zu schlüpfen. Da sah sie Licht über dem Stall. War die Magd wieder einmal bei brennender Kerze eingeschlafen? Ossana öffnete die Pforte, schloß sie schnell, damit sie nicht knarren sollte, und stieg die ausgetretene Holztreppe hinan. Auf dem kleinen Flur oben fiel unter der Tür der Mädchenkammer das Licht als breiter, heller Strich auf den Boden. Ossana lastete nach der Klinke und machte auf, das schlaftrunkene Mädel zu wecken.

Da prallte sie zurück: der neue Knecht stand neben dem Bett. Vier Arme waren ineinander verschlungen, Mund schien auf Mund zu liegen. Dem Burschen, in Hemdsärmeln, hingen die Hosenträger von den hinteren Knöpfen wie zwei Schlangen herab. So ineinander verstrickt schienen die beiden Menschen, daß sie nichts von der jungen Baronin Kommen bemerkten.

Im ersten Augenblick wollte Ossana rufen. Dann aber trat sie auf den Fußspitzen zurück und huschte hinaus. Beim letzten Klaffen des Spaltes sah sie noch immer die beiden regungslos.

Ossana blieb auf dem Flur stehen. Ein ärgerliches Gefühl zuckte in ihr auf. Sie fühlte sich gleichsam betrogen, sie, die Herrin im Hause. Sie sagte sich: am nächsten Tage müßten die beiden fort. Dann stieg sie vorsichtig die Treppe hinab.

Das Bild ließ sie nicht los: immer sah sie die Hosenträger wie Schlangen hängen. Und plötzlich zerflossen alle ihre entrüsteten Gedanken in nichts. Eine große Milde kam über sie. Im Wohnzimmer, wohin sie gegangen war, das rote Buch zu holen, setzte sie sich an den Schreibtisch, stemmte die Hände auf und sann und sann. Sie sah das dumme Gesicht des Bauernmädels vor sich und das nicht viel schlauere, ruhige, hübsche des Knechtes. Sie fühlte, daß diese Hirne nicht eben sprühten, aber waren es nicht Menschen wie alle Menschen? Lebten in ihnen nicht die gleichen Gedanken wie in ihr selbst? Trieb sie nicht vielleicht auch jenes furchtbare Einsamkeitsgefühl der Natur zueinander, das jedem Empfindenden in dunklen Stunden im Blute liegt? Der Wunsch, eine liebe Hand zu drücken, nur, daß man wußte, etwas ist mein, ganz mein?

Keine Verdammung jener Dinge, die junge Mädchen nicht denken und nicht einmal wissen konnten, wie Tante Angiolina in ihrem engen Geist sich einbildete, regte sich. Sie empfand es beinah als notwendig, daß diese beiden Menschen sich zueinander gefunden. Wenn das dumme Mädel mit dem breiten, roten Gesicht untertags bei der Arbeit stand, sollte sie ihr Böses sagen, weil auch in ihr etwas lebte, das in den tiefsten Untergründen tierisch Mensch zu Menschen trieb?

Ossana empfand doppelt ihre Einsamkeit. Es zuckte ihr durch die Glieder, sie dehnte und reckte sich, eine Sehnsucht quälte sie, eine irre Sehnsucht.

Mit einemmal raffte sie sich auf, nahm das Buch und lief die Treppe hinauf. Sie wollte, die Gedanken abzulenken, lesen! Was hatte Meinhardt, dessen Worte sie sich immer gemerkt, einmal gesagt? »Es gibt nur eines, das den Menschen über alles hinweghilft: die Arbeit.«

Und der Gedanke kam ihr, nicht allein sich zu zerstreuen, sondern zu glänzen, sich zu zeigen, vor ihm, vor ihrem Schwager. Wie genau sie alles wußte: Höhenlage und Einwohnerzahl, Geschichte und Erdschichtkunde! Ganz davon beherrscht, rutschte ihr die Tür aus der Hand, denn die Fenster standen offen, um nachts die kühle Luft durchstreichen zu lassen, und fiel donnernd zu. Sie erschrak nicht, auch nicht, als die Diele so laut quietschte, wie sie nie unter des Papas vorsichtigem Tritte gestöhnt. Wie immer strahlte ruhig das rote Licht aus dem Herrgottswinkel. Doch Ossana sah einen Schatten. Die Mama. Die Nachtjacke stand ihr rund um den starken Leib ab wie ein Reifrock. Ihr Mund war offen, als hätte sie den Geist des allen Herrn erblickt. Sie rief:

»Ossana, dio, was ist denn?«

»I hab' mir nur ein Buch geholt.«

»Bei der Nacht?«

»I kann nit schlafen.«

»Du liest doch keine Romane?« »Es ist das Reisebuch!«

Die Mama trat einen Schritt näher:

»Was denn für eine Reis'?«

»Margret und Meinhardt haben mich für den Sommer eingeladen.«

Starr blieb Tante Angiolina stehen:

»Eingeladen? Und du läßt mich ganz allein?«

In Ossanas schlaflos überreizter Seele stieg die Wut empor:

»Läßt du mich nit allein?«

»Was ist das für ein Ton?«

»Ja, Mama, sie haben mich eingeladen, und i will mit ihnen fahren!«

»Das wirst du nicht!«

»Warum soll i die Freud' nit haben?« »Es gibt auch Pflichten! Jeder muß entsagen. Hast du schon vergessen, was der Pfarrer mir gesagt hat? Ich komm' schon meinen Pflichten gegen mein Kind nach, ich opfere dir mein Höchstes, denn ich bin nit glücklich, das glaub' mir, mia cara, und da sollst du auch deine Pflichten erfüllen!«

Ossanas Augen flammten:

»Zu verkommen?«

Die Feuerräder antworteten:

»Bei mir?«

»Ja, bei dir!«

Tante Angiolina fand keine Worte mehr.

Ossana schrie:

»Nie hast du dich gekümmert um mich, Mama! Wo wär' das g'schehen? Immer bist du woanders gewesen mit deinen Gedanken, mit deinem Herzen! Bei mir nit. I bin kein klein's Kind mehr! A jeder hat sein Recht, jeder will was vom Leben haben, und i bin ganz allein, und i hab nix, und–« Tante Angiolina wankte. Es war Ossana, als ob sie fallen würde. Da zog sie ihre Mutter zu der alten Truhe, die an der Wand fast als einziger Schmuck des oberen Stockwerkes stand. Schwer sank die dicke Frau darauf, die Augen geschlossen, tief atmend.

Ossana sah mit einemmal, wie grau die Mutter geworden war. Ihr Blick fiel auf die ungesunden, aufgeschwemmten Formen, die ausgespreizten, dicken Finger, und ihr kamen Worte in den Sinn, wie sie Meinhardt einmal geäußert über das Verhältnis ihrer Eltern zueinander, Worte des Papas, Worte der Mama, aus denen Leid und Einsamkeit auch in ihrer Mutter Herzen sich ihr zusammenfügte.

Tante Angiolina schloß die wulstigen Finger ineinander, daß ihre Hände ganz breit wurden und die Nägel weiß, wie das Blut aus ihnen trat:

»I hab' so heiß für dich gebetet. Du weißt nicht, mia cara, wie oft!«

Da wich jede Willenskraft von Ossana. Ihr schien, als sollte sie mit allen Mitleid haben, allen, nur daß kein anderer Leid trug wie sie selbst in ihrem zerfahrenen Leben. Sie warf mit einem Schwung das rote Buch fort, daß es ein Stück auf der Truhe hinrutschte, nahm ihre Mutter und richtete sie auf, sie in ihr Zimmer zurückzuführen:

»Na, na, Mama, i bleib' schon bei dir.«


 << zurück weiter >>